Der deutsch-iranische Autor berichtet, dass sowohl die schiitischen Geistlichen als auch viele Menschen im Irak sagten: Der IS wäre nie bis Mossul gekommen, wenn nicht Teile der Regierung kooperiert und das Ganze möglich gemacht hätten. Hinzu komme, dass der IS offensichtlich mit den alten Eliten aus den Zeiten von Saddam Hussein zusammengearbeitet hätten. Dabei handle es sich um Leute mit Kriegserfahrung - und auch darum sei der IS so groß geworden.
Kermani befürchtet, dass es politisch im Irak auf Dauer zu einer Regionalisierung kommen könnte - und das sei eine Katastrophe, denn diese Regionalisierung werde vermutlich entlang von ethnischen Linien umgesetzt. Das heiße, dass es im schiitischen Süden keinen Platz für Sunniten gebe, dass die Schiiten wiederum aus dem sunnitischen Norden verlassen müssten, dass auch die Kurden eigene Gebiete hätten und dass für die Christen womöglich gar kein Platz bleibe. Kermani sprach wörtlich von einer "Katastrophe".
Der Schriftsteller ist zur Zeit im Auftrag des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" unterwegs im Irak. Er war zum Beispiel in Nadschaf, einer der heiligen Städte des schiitischen Islam im Süden des Landes. Dort sind zur Zeit nach seinen Angaben 80.000 schiitische Flüchtlinge, die sich vor dem Terror des IS in Sicherheit gebracht haben.
Das Interview in voller Länge
Peter Kapern: Am kommenden Mittwoch will Barack Obama seine Strategie im Kampf gegen die Terrormilizen des sogenannten Islamischen Staats präsentieren. Der US-Präsident steht ja gehörig unter Druck. In Washington wird ihm vorgeworfen, kopf- und konzeptlos zu agieren. Fester Bestandteil dieser Strategie wird wohl auch das sein, was wir seit einiger Zeit beobachten, nämlich US-Militär greift Stellungen der IS-Milizen aus der Luft an. Deren Vormarsch ist dadurch gestoppt worden. Niedergeworfen ist der Islamische Staat aber damit noch lange nicht. – Der Schriftsteller Navid Kermani reist derzeit für das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" durch den Irak, und zwar durch die südlichen Landesteile, die Heimat der Schiiten, und jetzt ist er in Bagdad am Telefon. Guten Morgen, Herr Kermani.
Navid Kermani: Guten Morgen.
Kapern: Herr Kermani, Sie haben in den vergangenen Tagen vor allem in Nadschaf und Kerbela Vertreter der islamischen Geistlichkeit getroffen. Sagen Sie, wie betrachten die denn derzeit den Krieg mit den IS-Milizen, der sich ja weitgehend im Norden des Landes zuträgt?
Kermani: Na ja, er bewegt sich schon auch im Süden, weil die ganzen Flüchtlinge auch in den Süden kommen. Die schiitischen Flüchtlinge sind hauptsächlich im Süden. Insofern sieht man das in den Städten auch. Und die Geistlichkeit, überhaupt die Schiiten sind natürlich entsetzt. Aber was ganz interessant ist: Sie machen dafür vor allem auch die eigene Regierung verantwortlich. Die sagen – das sagen eigentlich alle dort in Nadschaf -, dass dieser Vormarsch der ISIS, die ja Mossul praktisch kampflos eingenommen haben, eine Stadt, in der es viele Soldaten und noch mehr Waffen gab, dass so ein Vormarsch, und zwar 200 Kilometer hinter der irakischen Grenze, nicht möglich gewesen wäre, wenn nicht die Regierung oder Teile der Regierung kooperiert hätten, das gewollt hätten, und hier ist man da auch sehr, sehr erbost auf die Regierung Maliki, die dieses Land zugrunde gerichtet habe.
Kapern: Nun ist Maliki, der ehemalige Ministerpräsident, Teil der Geschichte. Der neue Mann heißt Haider al-Abadi. Der soll heute sein Kabinett zur Abstimmung stellen im irakischen Parlament. Welche Hoffnungen verbinden denn die schiitischen Geistlichen mit dieser neuen Regierung?
Kermani: Nicht viel, weil man insgesamt das Vertrauen verloren hat. Das gilt jetzt nicht nur für die schiitische Geistlichkeit, sondern das gilt, glaube ich, beinahe für alle Iraker. Das Vertrauen in die eigene Regierung, in die Politiker ist sehr, sehr begrenzt. Da liegt auch die Ursache für viele in diesen Konflikten. Natürlich hat das Ausland mitgemischt, aber es gibt eben auch klare Ursachen hier in Bagdad selbst. Der neue Ministerpräsident mag gutwillig sein, das hört man, aber ob es ihm gelingt, diese ganzen verschiedenen Interessen zu koordinieren – praktisch jede Partei in Bagdad wird auf diese oder jene Weise vom Ausland gesteuert, oder hat ausländische Koalitionäre oder Hintermänner -, ob es da dem neuen Ministerpräsidenten gelingt, vor allem auch die Sunniten wieder einzubinden, deren Forderungen zu befriedigen, die auch sehr hoch sind, das scheint jedoch sehr zweifelhaft.
"Eine Kooperation aus ISIS und alten Baathisten"
Kapern: Hinter diesen Sunniten, die da gemeinsame Sache machen mit dem Islamischen Staat, stehen möglicherweise die alten Eliten der Baath-Partei von Saddam Hussein. Sieht man das im Lager der Schiiten auch so?
Kermani: Ja, das wird als Tatsache genommen, und zwar auch nicht nur im Lager der Schiiten. Das sehen eigentlich die meisten Menschen hier auch in Bagdad. Ich bin ja gestern in Bagdad eingetroffen und ich bin natürlich auch im Kontakt mit vielen Leuten hier und habe auch gestern Abend schon Gespräche geführt. Das wird eigentlich so gesehen.
ISIS ist natürlich eine Realität. Das ist ganz klar. Aber ISIS wäre niemals so groß geworden, wenn sie nicht hätten kooperieren können mit den alten Baathisten hier. Die militärische Führung ist aus der alten Armee von Saddam Hussein. Deshalb ist die auch zum Teil so schlagkräftig. Das sind Leute mit Kriegserfahrungen, die waren im Iran-Krieg acht Jahre, die wissen, wie man einen Krieg führt. Die haben vor allem den Kontakt zur eigenen Bevölkerung.
Das was man aber auch sieht, dass jetzt diese Koalition der wirklichen extremen Fundamentalisten von ISIS und der eigentlich eher sunnitisch-nationalistisch, im Kern ja gar nicht so religiösen Baathisten auch schon verbrieft ist. Es gibt jetzt immer mehr sunnitische Flüchtlinge im Land, die einfach diesen Terror von ISIS nicht mitmachen wollen, und insofern ist auch da das Gebilde noch fragil. Aber ganz klar: Hier wird weniger, jedenfalls nur teilweise ISIS verantwortlich gemacht. Hier werden die alten Eliten von Saddam Hussein verantwortlich gemacht.
Das was man aber auch sieht, dass jetzt diese Koalition der wirklichen extremen Fundamentalisten von ISIS und der eigentlich eher sunnitisch-nationalistisch, im Kern ja gar nicht so religiösen Baathisten auch schon verbrieft ist. Es gibt jetzt immer mehr sunnitische Flüchtlinge im Land, die einfach diesen Terror von ISIS nicht mitmachen wollen, und insofern ist auch da das Gebilde noch fragil. Aber ganz klar: Hier wird weniger, jedenfalls nur teilweise ISIS verantwortlich gemacht. Hier werden die alten Eliten von Saddam Hussein verantwortlich gemacht.
"Christen haben überhaupt keine Perspektive mehr"
Kapern: Auch wenn das Bündnis von Sunniten und Islamischem Staat tatsächlich schon bröckeln sollte, stellt sich doch die Frage: Kann angesichts der Lage und der Zerwürfnisse zwischen den Bevölkerungs- und Religionsgruppen eigentlich Ihrer Meinung nach die Einheit des Staates erhalten bleiben? Was haben Sie in dieser Sache gehört?
Kermani: Ich weiß nicht genau, ob der Irak formell auseinanderbricht. Da fürchten sich die Leute schon sehr. Aber einen Irak, wie es ihn mal gegeben hat, den wird es so nicht wieder geben. Im besten Falle wird es eine Regionalisierung geben, aber selbst das ist ja eine Katastrophe, weil die meisten Gebiete sind ja gemischt. Das heißt, Regionalisierung heißt ja, dass es neue Grenzen gibt anhand ethnischer, konfessioneller Linien. Das mögen dann Staaten sein, das mögen autonome Zonen sein. Nur die, die dann nicht zu dieser herrschenden Ethnie gehören oder herrschenden Konfession, die fallen halt raus. Die Schiiten müssen aus dem Norden oder aus dem Zentralirak oder dem Nordirak raus, die Sunniten aus dem Süden, die Kurden haben ihre eigenen Gebiete, die Christen fallen ganz weg, die haben überhaupt keine Perspektive mehr. Diese Regionalisierung, auf die es wohl hinausläuft, möglicherweise unter Beibehaltung der formellen staatlichen Einheit, die ist ja für sich schon für die Menschen und für das Land eine Katastrophe, und diese Katastrophe ist im Gange im Augenblick und niemand sieht so recht, wie man diesen Prozess noch aufhalten könnte.
Kapern: Sie haben Eingangs gesagt, Herr Kermani, dass auch im Süden des Landes, also dort, wo überwiegend Schiiten leben, sehr viele Flüchtlinge angekommen sind. Zum großen Teil bestehen diese Flüchtlinge ja aus Christen und Jesiden. Wie gehen die Schiiten mit diesen Menschen um?
Kermani: Die Schiiten nehmen die auf. Sie haben das auch offiziell verkündet. Der geistliche Führer der Schiiten, Ayatollah Ali al-Sistani, hat gesagt, wir nehmen die Christen auf. Wobei man muss sagen: Im Süden sind es ja vor allem die schiitischen Flüchtlinge. Das heißt, die Christen und Jesiden sind in den Norden geflüchtet größtenteils, die meisten Schiiten in den Süden zu den Schiiten. Und die Versorgung wird hier komplett von der Geistlichkeit gestellt. Der Staat ist eigentlich nicht präsent. Das wird finanziert von der Geistlichkeit und die Versorgungslage ist schon besser als im Norden, weil die Zahlen nicht ganz so dramatisch sind. Etwa in Nadschaf, einer Großstadt, aber keiner Riesenstadt, sind es 80.000 Flüchtlinge. Das ist viel für eine Stadt wie Nadschaf, aber es sind nicht diese Ausmaße wie im Norden, und mittlerweile kommen auch Flüchtlinge aus dem Norden in den Süden, weil die Versorgungslage dort besser ist. Nur der Krieg ist natürlich da präsent.
Es gibt quasi eine Koalition, eine brüchige Koalition natürlich zwischen den Christen, den Minderheiten, den Kurden, den Schiiten gegen die Sunniten. Nur für die Zukunft des Landes verheißt das alles nichts Gutes, denn was ich gehört habe auch aus den Gebieten von den schiitischen und christlichen Flüchtlingen ist, dass die sunnitische Bevölkerung wirklich zum Teil jedenfalls die eigenen Nachbarn verraten hat.
"Dramatik der Situation ist im Süden noch nicht so zu spüren"
Kapern: Der Süden des Landes, den Sie besucht haben, Herr Kermani, ist das eine Region im Ausnahmezustand, angesichts des Krieges im Norden des Landes?
Kermani: Nein, das kann man nicht sagen. Es ist eigentlich ruhig. Es gibt natürlich sehr viele Sicherheitskontrollen überall. Es gibt weniger Pilger als sonst, weil die iranischen Pilger ausbleiben. Die haben Angst. Die normalen Pilgergruppen wurden eingestellt. Aber ansonsten ist der Krieg merkwürdigerweise sehr weit weg und man hat auch nicht das Gefühl, dass dort. Die Sicherheitskontrollen, die gibt es zwar, aber die sind auch nicht so streng. Man hat nicht das Gefühl in Nadschaf oder Kerbela, dass da ISIS irgendeine Chance hätte. Das ändert sich natürlich, sobald man in ein Gebiet kommt, wo ISIS dann schon relativ nahe ist. Wenn man auf Bagdad zufährt, dann ist die Nervosität schon eine ganz andere.
Das ist vielleicht auch ein Teil des Problems, wenn ich das noch sagen darf, dass man im Süden einfach, wenn man dort lebt, gar nicht so viel mitbekommt. Für die Menschen im Süden hat sich nicht so viel verändert. Beinahe kommt es mir zum Teil dramatischer vor, wenn ich im Ausland darauf gucke, weil der Süden ohnehin schiitisch war, und für den schiitischen Süden hat sich eigentlich insgesamt die Lage seit dem Sturz von Saddam Hussein eher verbessert. Insofern ist die Dramatik noch gar nicht so richtig zu spüren im Süden.
Kapern: Der Schriftsteller Navid Kermani, der gerade für das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" im Irak unterwegs ist. Herr Kermani, danke für Ihre Eindrücke und Schilderungen und einen schönen Tag nach Bagdad.
Kermani: Bitte schön! Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.