Nach Angaben von Hilgert ist noch nicht klar, ob die Islamisten die antiken Stätten im syrischen Palmyra tatsächlich zerstören wollen. Der Altorientalist stützt sich auf Kontakte zu Wissenschaftlern aus Syrien. Bei den Kämpfen seien manche Bauwerke bereits in Mitleidenschaft gezogen worden, sagte Hilgert. "Ein Teil der Bevölkerung ist noch vor Ort und bangt um sein Leben." Die Zivilbevölkerung leide größte Qualen, betonte er.
Hilgert erklärte, dass die Dschihadisten mit der Zerstörung von kulturellen Monumenten und Statuen die Geschichte neu erzählen wollten. "Das ist eine Form der Kriegsführung", sagte er. Es handele sich nicht nur um materielle Kulturgüter, sondern Kultur als wesentliches Element des menschlichen Zusammenlebens. Es gehe um die Auslöschung von Identitäten und menschlicher Lebensleistung.
"Palmyra ist deshalb so interessant, weil sich verschiedene kulturelle Einflüsse zu einem verbinden", sagte er. Dort habe sich eine neue Architektursprache entwickelt. Palmyra sei ein Sinnbild für Weltoffenheit, multikulturelles Zusammenleben und Vielsprachigkeit.
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Schlechte Nachrichten: Die Terrororganisation IS hat offenbar den letzten, noch von den syrischen Streitkräften kontrollierten Grenzposten an der Grenze zum Irak erobert. Zuvor schon die syrische Wüstenstadt Palmyra. Die UNESCO ruft dringend zur Rettung auf. Begründung: Palmyra gehört der gesamten Menschheit und ist ein Sinnbild für die gegenseitige Bereicherung der Kulturen. Dies schreibt die UN-Kulturorganisation. Diese Erkenntnis über einen solchen Wert, die ist bisher beim IS nicht angekommen. Im Gegenteil! Ganz abgesehen von den Menschenopfern, an denen sich die Terroristen ergötzen, haben sie zuvor bereits unter anderem in den antiken irakischen Ruinenstädten Nimrud und Hatra schwere Verwüstungen angerichtet.
Das alles liegt nicht irgendwo weit weg. Das gesamte Zweistrom-Land und der sogenannte fruchtbare Halbmond, der Bogen vom Persischen Golf bis Jordanien, bildet die Wiege auch unserer Kultur. Vor einer Stunde haben wir mit dem Altorientalisten und Archäologen Professor Markus Hilgert gesprochen. Er ist Direktor des Vorderasiatischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin. Ich habe ihn gefragt, ob sich noch wissenschaftliche Mitarbeiter in Palmyra befinden.
Markus Hilgert: Soweit wir wissen, nicht aus ausländischen Staaten. Aber es ist offensichtlich so, dass ein Teil der Bevölkerung in Palmyra noch vor Ort ist und im Moment um ihr Leben bangt.
"Zivilbevölkerung leidet offensichtlich größte Qualen momentan"
Heinemann: Welche Nachrichten bekommen Sie von dort?
Hilgert: Die Nachrichtenlage ist derzeit völlig unklar. Wir sind sonst in sehr engem Kontakt mit der syrischen Antikenverwaltung. Das hat auch bis vorgestern noch sehr, sehr gut geklappt. Im Moment bekommen wir tatsächlich auch nur diejenigen Nachrichten über die sozialen Netzwerke und die Medien, die auch alle anderen bekommen, und diese Nachrichten sind sehr bedrückend. Wir wissen im Moment nichts Konkretes auch über den Zustand der Ruinenstätte, aber was wir sagen können ist, dass offensichtlich die Zivilbevölkerung größte Qualen leidet momentan.
Heinemann: Das ist natürlich das Wichtigste. Darüber hinaus: Gibt es Anzeichen dafür, dass die IS-Terroristen das historische Palmyra zerstören werden?
Hilgert: Das lässt sich natürlich im Moment auch noch nicht genau vorhersagen. Was sicher ist, ist, dass in den Kämpfen der letzten Tage tatsächlich auch die monomentalen Architekturen in Palmyra in Mitleidenschaft gezogen worden sind, und natürlich fürchtet die ganze Welt, nicht nur die Fachwelt, dass die archäologischen Stätten, ähnlich wie das beispielsweise im Nordwestpalast in Nimrud passiert ist, ebenfalls zerstört werden und nicht nur in Mitleidenschaft gezogen werden, und darüber hinaus gibt es ja auch die berechtigte Sorge, dass dann illegale archäologische Grabungen durchgeführt werden, um Objekte in den illegalen Handel mit Kulturgütern zu bringen.
Heinemann: Zur Finanzierung vom IS?
Hilgert: Ganz genau.
"Palmyra wird nicht erst seit gestern geplündert"
Heinemann: Kann man die Routen solcher Handelswege nachverfolgen?
Hilgert: Das ist im Moment noch relativ schwierig. Es gibt Hinweise darauf, dass einiges an der türkischen Grenze zum Beispiel festgestellt wird und dann auch von den türkischen Behörden konfisziert wird. Es gibt Hinweise darauf, dass das eine oder andere über den Libanon in den Handel gelangt. Und darüber hinaus ist wohl auch nicht auszuschließen, dass die Golf-Staaten oder einige Golf-Staaten da eine entscheidende Rolle spielen. Interessant ist ja, dass Palmyra nicht erst seit gestern geplündert wird, sondern ja bereits seit einigen Jahren ein beliebtes Ziel von Raubgräbern, von Plünderern ist, die sich gerade um Skulpturen der Grabarchitektur bemüht haben, die dann auch in den Handel gelangt sind.
Heinemann: Professor Hilgert, die Terroristen führen das „I" als Titel im Schilde, begründen ihr Handeln mit dem Willen Allahs. Gibt es Beispiele in der islamischen Tradition für die Zerstörung fremder Kulturen?
Hilgert: Ich glaube, das, was wir im Moment hier sehen, ist beispiellos, auch in der Totalität des Angriffes, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob diejenigen, die das tatsächlich tun, sich bewusst sind, welche historische Dimensionen das hat, was sie tun, denn da wird ja ein geschichtliches Narrativ aufgerichtet, sehr machtvoll und eindrucksvoll inszeniert, was unserem europäischen Entwicklungs- und Geschichtsnarrativ diametral entgegensteht. Insofern, glaube ich, haben wir es hier schon mit einer neuen Qualität, einer neuen Geschichtserzählung zu tun, die gewissermaßen dann auch noch einmal die Umsetzung dessen ist, was wir ja in der postkolonialen Theorie schon seit geraumer Zeit wissen, dass es nämlich noch andere Geschichts- und Entwicklungsnarrative gibt neben denen, die bei uns geläufig sind.
"Palmyra ist immer auch Sinnbild für Weltoffenheit"
Heinemann: Es gibt den schönen Satz von Goethe: "Wer nicht von 3.000 Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tag leben." Das hat er im "West-Östlicher Diwan" geschrieben. Stichwort Narrativ: Was erzählt uns Palmyra über uns Menschen heute?
Hilgert: Palmyra ist ja für uns Wissenschaftler - und ich selbst bin Altorientalist, schaue also von Mesopotamien gewissermaßen auf Palmyra - deswegen so interessant, weil sich da ganz unterschiedliche kulturelle Einflüsse zu etwas eigenem verbinden. Palmyra ist eine bedeutende Oasenstadt, schon im frühen zweiten Jahrtausend vor Christus, wo sie erstmals in Keilschrift-Texten erwähnt wird. Wenn wir uns die Architekturen aus den ersten Jahrhunderten nach Christus anschauen, dann stellen wir fest, dass sich da eine ganz eigene Kultursprache entwickelt hat: römische Architektur einerseits, andererseits aber auch sehr viele Einflüsse direkt aus Mesopotamien, auch in der Architektur, aber auch in der Religion.
Insofern ist Palmyra immer auch Sinnbild für Weltoffenheit, für eine multikulturelle oder transkulturelle Gesellschaft, für Vielsprachigkeit, also für all das, was wir heute besonders hoch schätzen und was es aber natürlich auch im Altertum schon gegeben hat, und insofern ist der Verlust von Palmyra, wenn er denn wirklich käme, einer, der weit über archäologische Kulturgüter hinausgeht. Das ist wirklich ein Kulturverlust, weil es ein Paradigma menschlichen Zusammenlebens ist.
Heinemann: Hatte die Stadt auch schon damals in der Antike eine strategische Bedeutung?
Hilgert: Ja. Es ist immer so gewesen, dass Palmyra, im Herzen Syriens gelegen, immer eine wichtige strategische Bedeutung hatte. Es lag bereits im zweiten Jahrtausend an wichtigen Handels- und Karawanenstraßen, war als Oasenstadt natürlich auch da ganz besonders wichtig. Und die lange Geschichte der Stadt, die ja letztlich bis in die Gegenwart hineinreicht, zeigt ja auch, dass diese Bedeutung sich nie wesentlich verändert hat, und wenn wir jetzt aktuell gerade auf die Lage in Palmyra und um Palmyra schauen, dann sehen wir, dass wieder Palmyra eine ganz zentrale strategische Bedeutung für den IS hat, und insofern ist auch verständlich, warum die Kämpfe so erbittert geführt werden.
Heinemann: Herr Professor Hilgert, wofür steht in der Kulturgeschichte die Zerstörung von Kultstätten oder das Zerstören von Bauwerken anderer Kulturen?
Hilgert: Die Zerstörung von Bauwerken und von Skulpturen hat immer etwas mit der Auslöschung von Identität zu tun, denn die menschliche Identität, auch die kulturelle Identität ist sehr oft an eine Generation, an ein Leben, an einen Menschen geknüpft. Wir wissen zum Beispiel aus dem alten Orient, dass die Herrscher versucht haben, ihr eigenes Leben dadurch zu verlängern, dass sie ihre Taten in Herrscherinschriften verewigt haben, dass sie versucht haben, große Bauwerke zu errichten, die über lange Zeit andauern. Insofern ist die Zerstörung von Bauwerken, die Zerstörung von Kultur, von materieller Kultur, die das menschliche Leben oft überdauert, eben auch eine Zerstörung von Identität, von menschlicher Lebensleistung und von einem bestimmten kulturellen Grundkonsens, und das ist in der Geschichte immer schon so gewesen, nur dass wir es heute im Moment gerade aktuell auch mit den propagandistisch inszenierten Videos des IS hautnah quasi miterleben können. Deswegen sind wir zurecht so erschüttert und auch schockiert.
Heinemann: Aber das gab es immer schon, von Ninive bis zu den Nazis.
Hilgert: Das hat es immer schon gegeben, auch schon lange vor Ninive. Das ist eine Form der Kriegsführung, wie es viele andere schlimme Formen der Kriegsführung gibt, weil zu allen Zeiten verstanden wurde, dass Kultur eben nicht nur materielle Kultur ist, dass es sich nicht nur um Dinge handelt, sondern dass Kultur ein ganz wesentliches Element des Menschen und des menschlichen Zusammenlebens ist. Insofern wusste man auch immer, dass man mit der Zerstörung der Kultur auch Feinde in die Knie zwingen kann.
"Erhaltung von Kulturgut gehört zu den globalen Herausforderungen unserer Zeit"
Heinemann: Alte Geschichte spielt im Alltag der meisten Menschen kaum eine Rolle, muss man mal ehrlich sagen. Haben es die Terroristen mit wenn auch furchtbaren Mitteln geschafft, dass wir wenigstens kurz mal wieder zurückblicken auf unsere zivilisatorischen Vorfahren?
Hilgert: Ich denke, ja. Es ist einerseits tatsächlich so, dass wir uns sehr viel mehr, als das sonst der Fall ist, auch in der größeren Öffentlichkeit darüber Gedanken machen, was Altertum, was Geschichte, auch ferner zurückliegende Geschichte für uns bedeutet. Und es ist auch so - und ich glaube, das ist ganz entscheidend -, dass wir uns zum ersten Mal fragen müssen, ob wir auf globaler Ebene tatsächlich dieser Herausforderung gerecht werden können, Kulturerbe langfristig und nachhaltig zu schützen. Denn wenn wir die verschiedenen Punkte der Zerstörung im Vorderen Orient, aber auch in Nordafrika und beispielsweise auch in Zentralamerika miteinander verbinden, dann erkennen wir, dass das, was gerade passiert, eine globale Herausforderung ist und dass wir, wenn wir wirklich daran interessiert sind, menschliches Kulturerbe langfristig auch für kommende Generationen zu erhalten, ganz andere Strategien, weit reichender Strategien uns überlegen müssen, damit tatsächlich dieses Kulturerbe auch erhalten werden kann. Da sind große konzertierte Aktionen, sehr viel Geld notwendig, aber auch Kreativität. Ich glaube tatsächlich, dass die Erhaltung von Kulturgut zu den globalen Herausforderungen unserer Zeit gehört.
Heinemann: Professor Markus Hilgert, den Direktor des Vorderasiatischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin, haben wir vor einer Stunde erreicht.
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