Der IS kontrolliert in Libyen mittlerweile ein Gebiet, das sich über 240 Kilometer an der Küste entlang erstreckt, im Einzugsbereich der Stadt Sirte, in der Langzeitdiktator Muammar al-Gaddafi geboren wurde. Vor fünf Jahren hatten gerade die Bombardements der internationalen Allianz begonnen, die schließlich zum Sturz Gaddafis führten. Damit wurde das Ende eines Systems eingeleitet, das der Weltgemeinschaft etwas vorgegaukelt hatte, meint der UN-Sondergesandte für Libyen, der deutsche Diplomat Martin Kobler:
"Ich glaube, dass Gaddafi uns allen über 42 Jahre die Illusion des Staates vorgespiegelt hat. Das Land war eigentlich nie ein Staat. Die Geschichte Libyens ist eigentlich in einem Satz erzählt: Nach der Kolonisation war es ein UNO-Protektorat, dann kam eine Monarchie, dann kam der Putsch von Gaddafi und seither hatte man Gaddafi. Staatliche Institutionen haben sich nie gebildet."
Eine Konsequenz ist, dass Libyen mit seinen knapp sechseinhalb Millionen Einwohnern heute vier Regierungen hat. Die eine wurde 2014 gewählt, musste dann aber aus der Hauptstadt Tripolis nach Tobruk fliehen – vor den Milizen von "Fadschr Libia", Libyens Morgendämmerung. Diese Kampfverbände setzten dann in Tripolis eine Gegenregierung ein, die der islamistischen Muslimbruderschaft nahesteht. Monatelang rangen die UN darum, aus diesen zweien eine zu machen – eine Einheitsregierung. Sie kam im Dezember zustande, jedenfalls auf dem Papier. In der Realität wurde die Einheitsregierung zur dritten Regierung Libyens. Mit schwerwiegenden Folgen:
"Die Entwicklung des IS wurde im letzten Jahr dadurch begünstigt, dass es ein politisches und ein militärisches Vakuum gibt. Und jetzt auch mit dem militärischen Druck auf Syrien gibt's einen Verdrängungsdruck von Kämpfern auch in dieses Vakuum in Libyen."
"Der Islamische Staat kann nur militärisch bekämpft werden"
In den nächsten Tagen soll die Einheitsregierung ihre Ministerien in Tripolis übernehmen, so Koblers Vorstellungen. Doch die Sorge ist groß, dass die Mitglieder dieser Einheitsregierung bei ihrem Eintreffen in Tripolis gleich von den Milizen der Gegenregierung festgesetzt werden. Ihm, Kobler, verweigerte die Gegenregierung gerade erst die Einreise. Obwohl es also massive Widerstände gibt, will der UN-Sondergesandte für Libyen, dass sich zumindest bald so etwas wie eine Vorhut auf den Weg macht:
"Die Regierung auf dem Papier ist wie eine Ambulanz: Da sind kranke Leute drin, schwangere Frauen, und dieser Krankenwagen hat kein Nummernschild, der hat keine Zulassung. Und die Entscheidung wurde getroffen, diesen Krankenwagen eben ohne Zulassung fahren zu lassen. Das Parlament in Tobruk könnte jeden Tag diese Zulassung geben, sie wollen es nur nicht. Aber niemand würde sagen, der Krankenwagen darf die Verletzten jetzt nicht ins Krankenhaus fahren. Nur weil er keine Zulassung hat."
Nur: Solange die Einheitsregierung, die von den UN anerkannt wurde, nicht aktiv wird, können die Libyer auch nicht effizient gegen den IS vorgehen.
"Der Islamische Staat kann nur militärisch bekämpft werden. Dazu sind die Libyer jetzt noch nicht in der Lage. Deswegen ist es wichtig, dass diese Regierung als erste Aktion eine libysche gemeinsame Armee aufbaut."
Erst wenn die Einheitsregierung aktiv wird, kann nach und nach auch ein geltendes UN-Embargo aufgehoben werden, um den Libyern den Kauf moderner Waffen für ihre neue Armee zu ermöglichen. Dann auch erst können zum Beispiel die Ausbildungsmissionen für Armee und Polizei beginnen, die einzelne EU-Staaten erwägen. Solange sich die libyschen Verantwortlichen jedoch nicht zusammenreißen, die Regierungen in Tripolis und in Tobruk nicht die Einheitsregierung unterstützen, stärken sie eine vierte Regierung:
"Die vierte Regierung, das ist so die einzig effektive Regierung. Das ist die des IS, der 240 Kilometer Küstenstreifen vom Golf von Sirte besetzt und dort die Bevölkerung terrorisiert, auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite Dienstleistungen erbringt."
Das Problem ist, dass viele Libyer die Bedrohung durch den IS nicht wahrzunehmen scheinen. Vielleicht auch, weil er seine Kämpfer nicht im Land rekrutiert:
"Das sind hauptsächlich Ausländer: Tunesier, Marokkaner... die Amerikaner haben jetzt einen Angriff geflogen auf eine Stellung des Islamischen Staates und haben 41 Tunesier dabei getötet. Das sind, man sagt, so zu 80 Prozent Ausländer. Der Terrorismus hat keine Verwurzelung in Libyen."
Und kann sich doch von dort ausbreiten:
"Es gibt Brückenköpfe, paar hundert Kilometer schon weg von der Niger- und Tschad-Grenze...und das ist eine ganz starke Keilbewegung nach Süden. Und wenn es dann dem IS gelingt, an die Terrororganisationen in Niger und Tschad anzuschließen, dann wäre das nicht gut, weil das braucht dann wieder lange Zeit, bis man das Rad wieder zurückdreht. Deswegen müssen wir jetzt erst einmal eindämmen. Und das machen manche ausländische Kräfte jetzt mit isolierten Luftschlägen."