Das Gesicht des Jungen ist nicht zu erkennen. Es ist komplett in ein grün-schwarz kariertes Kopftuch gehüllt. Auch die Augen liegen verborgen hinter einer Sonnenbrille.
"Ich mochte den IS sehr, am Anfang. Später dann nicht mehr", erzählt der Junge. Das war, bevor er an der Waffe trainiert wurde, bevor er miterleben musste, wie einer seiner Kameraden den ersten "Ungläubigen" köpfte, bevor Gefangene in Käfige gesperrt und fast ertränkt wurden. Immer und immer wieder.
Der Junge wischt sich hinter der Sonnenbrille ein paar Tränen weg. 15 Jahre alt ist er. Und einer von über 30 Rückkehrern, die die Psychologin Anne Speckhard für ihr Buch interviewt und in vielen Fällen auch gefilmt hat. Nie hätte sie gedacht, erzählt sie, dass ihr das gelingen würde:
"Ich bin Amerikanerin, ich bin eine Frau, ich bin nicht muslimisch. Wie also sollte ich diese Leute dazu bekommen, mit mir zu sprechen? Aber es hat geklappt, auch dank Ahmet."
Ahmet Yayla, ihr Co-Autor, ist die treibende Kraft vor Ort in der Türkei, jener, der Kontakte knüpft, dort die meisten Interviews arrangiert. Was die beiden verbindet, ist der Wunsch zu verstehen, was junge Menschen dazu bewegt, sich dem IS anzuschließen. Und vielleicht wichtiger noch: Ob man es hätte verhindern können. Und so sind es immer die gleichen Fragen, die sie jenen, die ihnen vermummt gegenüber sitzen, stellen:
"Wie ist es passiert? Warum? Was haben sie Gutes für dich getan? Warum bist du dennoch gegangen? - Sie alle haben damit ja ihr Leben riskiert. Denn wenn man als Abtrünniger geschnappt wird, wird man selbst geköpft."
Gutes Bild von den Rekrutierungsmethoden
Und dennoch haben sie Auskunft gegeben über ihr Leben in einer der brutalsten Terrororganisationen der jüngeren Geschichte. Schon recht bald können sich die Autoren ein recht gutes Bild davon machen, wie der IS rekrutiert – und wie unterschiedlich er rekrutiert. Potenzielle syrische Kämpfer setzen die Terroristen unter Druck: Wenn du dich uns anschließt, hast du wieder genug zu essen, einen Job, wir beschützen deine Familie. Wenn nicht, dann können wir für nichts garantieren. Bei den ausländischen Kämpfern, die oft bereits indoktriniert ins Kampfgebiet reisen, gehen sie subtiler vor:
"Der IS lockt sie mit einem Ziel, einem Sinn für ihr Leben, mit Anerkennung, Arbeit, Frauen und Abenteuern. 'Du musst nur nach Istanbul und an die Grenze kommen. Dann gehörst du zu uns. Wenn du nicht in diese Gesellschaft gehörst, kannst du zu einer anderen gehören.'"
Es ist eine alternative Weltordnung, die die Terroristen Muslimen weltweit anbieten. Eine, die mit der Realität allerdings wenig gemein hat. Denn in dieser Realität wird manipuliert und gehirngewaschen, sprengen sich Kinder als Selbstmordattentäter in die Luft, manchmal unter Drogen, manchmal, ohne es vorher zu wissen; bestrafen Frauen andere Frauen durch tödliche Bisse. Eine Realität, die geprägt ist durch die brutale Eliminierung vermeintlich Ungläubiger, durch opportunistische Geschäfte mit dem Gegner und eine bigotte Sexualmoral.
Und doch haben sich dem IS in den vergangenen Monaten zehntausende Kämpfer aus über 100 Ländern angeschlossen. Vor allem in Speckhards Heimat USA werden viele junge Menschen online verführt. Umso wichtiger sei es, schlussfolgern die Autoren, sich den Terroristen genau dort entgegenzustellen. Mit kleinen Clips, die sie in Chaträumen und sozialen Netzwerken streuen. Desillusionierten Rückkehrern wie dem 15-jährigen Jungen, glauben sie, höre man am ehesten zu, wenn er warnt:
"Schließt euch nicht dem IS an. Das sind keine Muslime, das sind Ungläubige. Sie schlachten unschuldige Menschen ab. Es geht ihnen nicht um den Heiligen Krieg, sondern um Geld. Niemand, der sich ihnen anschließt, darf wieder gehen."
Nicht alle Rückkehrer sind abtrünnig
Doch nicht alle Rückkehrer sind abtrünnig. Auch diese Erfahrung haben Speckhard und Yayla gemacht. Mit Younes zum Beispiel, einem konvertierten Belgier.
"Er hat mir kurz nach den Paris-Attentaten erzählt, dass er verstehen könne, warum jemand so etwas macht, dass in der Welt einiges schief laufe. Ich habe ihn dann gefragt: Findest du es in Ordnung, dass auch unschuldige Frauen und Kinder sterben? Und er antwortete: Kinder sind immer unschuldig, aber Erwachsene wählen ihre Regierung. Dann hat er mir erzählt, dass er immer noch vom Kalifat träume, das sich über ganz Europa erstrecken soll."
Anne Speckhard war erstaunt, schildert sie im Buch, dass Younes nach seiner Rückkehr aus dem Kampfgebiet und dem Gerichtsprozess, in dem er sich verantworten musste, nicht in Therapie geschickt wurde. Ihre Einlassungen als Psychologin sind interessant.
Einerseits. Speckhard forscht seit 15 Jahren zum Thema, weiß, wovon sie spricht, wenn sie in der Ich-Perspektive schildert, von welchen Schwierigkeiten das Projekt begleitet wurde, wie sie die Gespräche wahrnimmt. Gespräche, denen sie aus Sicherheitsgründen manchmal nur per Skype zugeschaltet werden konnte und wegen derer Ahmet und seine Familie am Ende die Heimat verlassen mussten. Und doch sind ihre persönlichen Einlassungen andererseits ein wenig ermüdend, rücken diese doch sie selbst und nicht die Interviewten in den Vordergrund.
Gewinnbringend sind ihre Anmerkungen da, wo sie Gesagtes hinterfragt und einordnet. Etwa, wenn es um den Umgang mit potenziellen Rekruten in den USA geht:
"Wenn in den USA die einzige Nummer, die man wählen kann, die der Polizei ist, und es Fälle gibt, die dann dem FBI weitergeleitet werden und die Kinder ins Gefängnis gekommen sind, rufen immer weniger an. Aber wenn es effektive Hotlines gibt und Schnell-Interventionsteams, dann merken die Leute: Ich kann mein Kind retten."
Genau das haben sich die beiden zum Ziel gesetzt: zumindest ein paar dieser Kinder zu retten.
Anne Speckhard, Ahmet S. Yayla: "ISIS Defectors. Inside Stories of the Terrorist Caliphate",
Advances Press, Mc Lean/Virginia 2016, 372 Seiten, Preis: 24 Euro
Advances Press, Mc Lean/Virginia 2016, 372 Seiten, Preis: 24 Euro