Der Mann mit der riesigen Reisetasche über der Schulter sieht eigentlich ungefährlich aus. Aber macht ihn nicht genau das schon wieder verdächtig? Die Wartenden an einer Bushaltestelle im Zentrum von Istanbul schielen misstrauisch zu ihm herüber. Die große Tasche, der dunkle Bart: Als er schließlich in einen Bus steigt und verschwindet, atmen sie sichtbar auf.
Seit dem Terroranschlag vom vergangenen Samstag herrscht in Istanbul die Angst. Mehrere Nummernschilder von angeblich mit Sprengstoff beladenen Autos hat die Polizei veröffentlicht, am Eingang zum großen Basar, an Metro- und Fährstationen werden Personen durchsucht, auf Facebook und Twitter kursieren Warnungen und neue Anschlagsgerüchte.
"Ich versuche, alldem nicht zu glauben, sonst wird man ja völlig verrückt", sagt ein junger Istanbuler. "Aber ganz ehrlich: Wenn ich irgendwo ein Auto ohne Fahrer stehen sehe, kriege ich doch Angst. Ich habe auch Freunde, die jetzt nur noch Umwege durch Seitenstraßen nehmen, um einem Anschlag zu entgehen."
Altes und neues Gespenst heißt PKK
Auch, wenn die türkischen Behörden IS-Anhänger für den jüngsten Anschlag verantwortlich machen: Das neue alte Gespenst am Bosporus heißt PKK. Dafür sorgen Medien und Politiker, die der kurdischen Untergrundorganisation sehr viel mehr Beachtung schenken als den radikalen Islamisten, aber auch die Tatsache, dass sich der Kurdenkonflikt zunehmend aus den Bergen Anatoliens in die Innenstädte verlagert.
"Die Situation ist jetzt sehr viel gewalttätiger als noch vor einigen Monaten. Wir sind viel näher an einem echten Krieg als man es sich im Sommer noch hätte vorstellen können", sagt Emma Sinclair Webb von Amnesty International, die gerade aus Diyarbakir zurückkommt. Mitten im Stadtzentrum der kurdisch geprägten Millionenstadt liefern sich PKK-Kämpfer und Soldaten schwerste Feuergefechte, mehr als 550 Menschen sollen bereits umgekommen sein.
"Wenn die Regierung den Krieg gegen die Kurden ausweitet, dann wird unsere Guerilla in die Städte eindringen", hatte PKK-Anführer Cemil Bayik in der Vergangenheit immer wieder gewarnt. Spätestens die Anschläge im Zentrum von Ankara, bei denen die PKK-Splittergruppe TAK insgesamt 66 Menschen in den Tod riss, haben die Drohung wahr werden lassen.
"Die Anschläge von Ankara sind Teil einer Strategie, mit der die PKK die Türkei in eine Art zweites Syrien verwandeln will", glaubt Politologe und Sicherheitsexperte Sedat Laciner von der Cannakale-Universität. "Mitten in der Innenstadt, mitten unter Zivilisten, beladen sie einen BMW mit 300 Kilogramm Sprengstoff. Das zeigt ganz klar, dass sie den Terror ausweiten wollen. Sie werden noch mehr Anschläge verüben, um die Türkei in ein unregierbares Land zu verwandeln. Denn in einem gescheiterten Staat wie Libyen oder Syrien lassen sich ihre Ziele viel einfacher erreichen."
AKP auch Schuld an dem Chaos
Tatsächlich haben die Kurden im Nachbarland Syrien erst kürzlich ihre Autonomie erklärt. In einem starken, zentral geführten Staat wäre ihnen das kaum möglich gewesen. Vollständiges Chaos heiße deswegen auch in der Türkei das Ziel, so der Experte. Und die AKP-Regierung trage dazu bei, dass der Plan aufgehen könnte.
"Terroristen kann man nicht mit Panzern und Kampfflugzeuge jagen. Wer ein Viertel, in der sich 20 Terroristen verstecken, bombardiert, der erntet 20.000 neue Terroristen. Die Regierung macht den größten Fehler, den sie machen kann. Und während sie denkt, sie sei erfolgreich, weil sie ein Stadtviertel "gesäubert" hat, geht der Kampf in drei anderen Vierteln von Neuem los."
Eine unendliche Geschichte, die Menschen immer weiter radikalisiert. Nicht nur auf der türkischen Seite, wo Präsident Erdogan für seine angekündigt Politik der eisernen Faust viel Unterstützung erntet, sondern auch auf der kurdischen Seite: Die Parlamentspartei HDP galt im letzten Jahr noch als große Hoffnung aller moderaten Kurden, inzwischen steht sie politisch vor dem Aus. Darüber dürften sich die regierende AKP und die PKK gleichermaßen freuen. Allen anderen bleibt nur die Angst:
"Ich gehe nicht mehr in Einkaufszentren und nicht mehr zu Versammlungen", sagt diese Istanbulerin. "Ich spaziere auch nicht mehr einfach so herum. Ich erledige, was ich erledigen muss. Und ansonsten bleibe ich zuhause."