Eine Katze in Großaufnahme. Das erste Bild. Dazu im Hintergrund das Stöhnen eines Mannes offenbar kurz vor dem Orgasmus.
Schnitt. Der schwarzgekleidete, maskierte Mann lässt von einer Frau ab. Während er aufsteht und sich die Hose hochzieht, bleibt sie regungslos auf dem Boden liegen. Nachdem der Eindringling verschwunden ist, rappelt sie sich auf und beginnt damit, Scherben zusammenzukehren.
Als sei nichts Besonderes geschehen, geht sie zur Tagesordnung über. Was ist das für eine Frau, die so kontrolliert, so selbstbeherrscht, ja geradezu kalt mit dem Erlebnis einer offensichtlichen Vergewaltigung umgeht? Erst Tage später und fast beiläufig erwähnt sie - ihr Name ist Michèle - den Vorfall bei einem Restaurantbesuch gegenüber ihrem Ex-Mann und einem befreundeten Ehepaar.
"Ich habe euch etwas zu sagen. Ich würde es gern ganz einfach und nebenbei formulieren, aber ich weiß nicht wie. Also ich wurde überfallen in meinem Haus. Ich glaube, ich wurde vergewaltigt. - Vergewaltigt? ... - Du hast nichts gesagt. - Ich wusste nicht was. Was sagt man da?"
Ja - was sagt man eigentlich, wenn man auf einen sexuellen Übergriff ganz anders reagiert, als es die Freunde von einem erwarten? Wie amoralisch ist ein Charakter, der bei einer Vergewaltigung womöglich einen Lustgewinn verspürt? Doch nicht nur die Hauptfigur - auch Regisseur Paul Verhoeven hat nicht vor, die Erwartungen des Publikums in Form eines Genrefilms zu erfüllen.
"Kevin, du kannst doch schießen oder? Ich meine in der realen Welt. - Ja, kann ich. - Besitzt du auch Schusswaffen? - Ich habe ein paar. - Kannst du es mir beibringen. - Ja, kann ich gern machen."
Mehr in Erwartung als aus Sorge, dass ihr Peiniger sie ein zweites Mal heimsuchen könnte, wird sich Michèle wird sich mit Pfefferspray und einer Axt bewaffnen:
Huppert ist praktisch in jeder Szene ein Ereignis
Trotz zahlreicher Situationen, in denen man Michèles nächsten Schritt längst zu wissen glaubt, ist die Vergewaltigung nicht der Auftakt zu einem Thriller gewesen. Sie steht vielmehr am Anfang einer Charakterstudie, die das Unberechenbare zu ihrer Maxime erklärt. Dass diese filmische Studie vollkommen auf die Protagonistin zugeschnitten ist, macht allein der Titel deutlich: "Elle" - also "Sie" auf Französisch.
Personalpronomen est omen. Der Titel ist Programm: ein Statement und zugleich das Versprechen einer Schauspielerin, die keine Schmerzgrenze kennt und bei der Verletzlichkeit und Stärke oft nur einen Wimpernschlag entfernt sind. In "Elle" darf Isabelle Huppert aus dem Vollen schöpfen. Jede Szene - und die Huppert ist praktisch in jeder Szene - ein Ereignis.
"Das Problem ist, dass du aus deinem kleinen Verlags- und Literaturuniversum kommst und dass du völlig überfordert bist, wenn es darum geht die Spielbarkeit einzuschätzen. - Na ja, Kurt, vielleicht wären Ana und ich in einer anderen Branche besser aufgehoben gewesen. ... Vielleicht sind wir nur zwei blinde Hühner, die ein Korn gefunden haben. Aber Kurt, Tatsache ist, dass ich hier die Chefin bin."
Im Beruf - Michèle gehört eine Firma, die Videospiele konzipiert - ist sie die Überlegene. Wenn sie aber an ihre Vergangenheit und an einen Amoklauf ihres Vaters erinnert wird, als sie noch ein Teenager war, wirkt sie wiederum angreifbar.
"Das Foto der kleinen Psychopathin. Neben ihrem Vater, dem Psychopathen. Mein leerer Blick auf dem Foto ist grauenhaft."
Bis zum Ende unvorhersehbar
In jedem anderen Film würden die Informationen, die uns die Handlung nach und nach über Michèle gibt, ihren Charakter, ihr Verhalten erklärbar machen. Bei "Elle" aber bleibt immer ein Restzweifel, ein Stück Unsicherheit. Dieses Rätselhafte, das Isabelle Huppert mit jeder Faser ihres Körpers spiegelt, macht diese Geschichte bis zum Ende unvorhersehbar. Huppert ist kalkuliert, pampig, leidenschaftlich, manipulativ, verschmitzt und sie ist noch so vieles mehr. Es ist die Quintessenz einer über 40 Jahre dauernden Karriere, bei der sich die erstaunlich alterslose Schauspielerin grundsätzlich eine Distanz zu ihren Figuren bewahrt hat. Hier sei das Leben, da ihre Rollen. Zwei völlig verschiedene Dinge.
"Life is here and doing roles is here. It's completely separate. For me acting is never about learning, it's about doing it the present time. It's something between consciousness and not-consciousness. It's a very special state of mind which is close to a state when you are a little drunk."
Bei der Schauspielerei - so Isabelle Huppert - gehe es nicht darum, etwas zu lernen, sondern nur um das gegenwärtige Tun. Es sei ein ganz besonderer Zustand zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit - ungefähr so, als sei man leicht angetrunken. Paul Verhoevens "Elle" präsentiert eine Schauspielerin auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Der Oscar wäre die längst überfällige Belohnung.