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Isidora Sekulić: "Briefe aus Norwegen"
Eine poetische Meditation

Eine der ungewöhnlichsten Beschreibungen Norwegens dürfte ein schmales Bändchen von Isidora Sekulić sein. "Briefe aus Norwegen" der serbischen Autorin und Feministin erschien 1914 zum ersten Mal. Der Reisebericht bietet ein einmaliges Porträt des Landes am Vorabend des Ersten Weltkrieges.

Von Volkmar Mühleis | 28.11.2019
Isidora Sekulić, "Briefe aus Norwegen"
Reiselustig, engagiert, humorvoll - Isidora Sekulić unterwegs im hohen Norden (Verlag Friedenauer Presse)
Am 14. Januar 1914 erschien in der Belgrader Zeitung Politika eine Todesanzeige, der polnische Arzt Emil Stremnicki sei auf der Rückfahrt seiner Hochzeitsreise unerwartet verstorben. Die junge Witwe trug noch eine Weile seinen Namen, dann legte sie ihn ab. Im selben Jahr veröffentlichte sie ihren Bericht dieser Reise, in dem von einem Ehemann keine Rede ist. Urkundlich belegt war die Hochzeit nie. Hatte es überhaupt einen Ehemann namens Emil Stremnicki gegeben? Isidora Sekulić – 1877 geboren und 1958 gestorben – hat ihr Geheimnis mit ins Grab genommen.
Womöglich hatte sie ihre Reise nach Norwegen als Hochzeitsreise ausgegeben, um tun zu können, was ihr vorschwebte: als serbische Intellektuelle frei zu reisen und den Wirren der Balkankriege 1912 bis 1913 zu entkommen. Sie war ebenso künstlerisch wie politisch engagiert, und ihr Reiseziel bot Anregungen für beides: eine stabile Friedenslage in Skandinavien, feministische Bestrebungen wie auch eine Natur und Mentalität des Nordens, die sie zu beschreiben reizte.
Sie war, wie gesagt, nicht etwa im Auftrag einer Zeitung unterwegs, sondern, wie in ihrem Reisebericht an einer Stelle vermerkt, mit zwei anderen Frauen, die darin anonym bleiben. Von Hochzeitsreise also keine Spur, diese war wohl reine Fiktion. In dem Bericht dagegen, Briefe aus Norwegen genannt, erschafft sie eine Genauigkeit im Ton, die ihren Eindrücken gerecht zu werden sucht, ob es sich dabei um Tatsachen handelt oder um mythische Anleihen. So schreibt sie von einer ihrer Wanderungen am Ranfjord:
"Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch, schon ziemlich tief im Wald, flog plötzlich aus einer tiefen Mulde unter einer Tanne ein riesiger weißer Vogel auf, verirrt und verschreckt, unverkennbar aus der Familie der Eulen. Als er den herrlichen Fächer seiner Flügel ganz ausgebreitet hatte, rieselte aus seinem Gefieder ein wahres Schneegestöber herunter. Es war ein einmaliges Detail aus der weißen Phantasie der friedlichen nördlichen Wälder."
Geschichte und Unendlichkeit
Dieses Detail ist eingebettet in eine nahezu archaische Erzählung. Sie handelt von einem alten, zerzausten Jagdhund, den sein Herrchen mit auf eine letzte Jagd nimmt, bei der das gejagte Tier aber nur Anlass ist, den Hund selbst zur Strecke zu bringen. Der treue Begleiter, der sich auf die Beute stürzt, um sie dem Jäger zu bringen, wird selbst von diesem erlegt. Zyklen sind kein Trost, nur das einzige Gesetz der Natur, die Sekulić eindrucksvoll schildert. Die norwegischen Küsten, Wälder und baumlosen Hochebenen werden zum Panorama natürlicher Kreisläufe, die sich dem sprachlichen Ausdruck wie den Markierungen menschlicher Geschichte entziehen. Eine Prähistorie durchweht alles Zeitliche, der Mythen wie kritische Reflektion gleichermaßen gelten.
Das serbische Wort für Vergänglichkeit, prolaznost, bedeutet zugleich Durchquerbarkeit, Passierbarkeit – was vergeht, ist nach Sekulić auch Teil endloser Durchquerungen. Die karge, norwegische Natur wird ihr, vom Balkan kommend, zum Sinnbild dieser Durchdringung von Geschichte und Unendlichkeit, oder, wie es in der insgesamt überaus stimmigen Versprachlichung ins Deutsche von Tatjana Petzer heißt: zum Ineinander von ‚Weg‘ und ‚Weglosigkeit‘. Die Briefe aus Norwegen sind einerseits eine poetische Meditation dieser Erfahrung im unwirtlichen Norden der längsten Winternächte wie Sommertage.
Andererseits schildert die Autorin soziale wie künstlerische Konsequenzen dieser Lebensbedingungen und schafft so ein einmaliges Portrait Norwegens am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Gerade die alleinstehenden Mütter und Frauen und ihre gesellschaftliche Integration sind für sie wesentlicher Bestandteil dieses Lebens:
"Ein Mensch, der niemandes Einsamkeit durchschritten hat, keinem unentbehrlich und nützlich geworden ist, wird in Norwegen als Sünder betrachtet. Die unverheirateten norwegischen Frauen wirken wahre Wunder. Ein ganzes Jahr lang bereiten sie einen Korb mit Büchern, Gerätschaften, Gefäßen, Fotografien, Sportgeräten, nützlichen und humorvollen Notizen vor – um im Sommer dorthin zu reisen, wo niemand gewesen ist, zu Freunden, die sie noch niemals gesehen haben, aber nun nie wieder vergessen werden."
Die Abstände zwischen den Höfen sind oft so weit, die Winter so lang, dass der Kontakt auf dem Land äußerst spärlich ist. Das sorgt mitunter auch für sexuelle Turbulenzen, die zu nicht wenigen alleinstehenden Bäuerinnen führen, die selbstbewusst ihr Leben und das ihrer Kinder – bisweilen verschiedener Väter – meistern, wie Sekulić unterstreicht. Schon der Beginn ihrer Briefe handelt von der norwegischen Sage des Königs Gylfi, durch dessen Land Gefjon pflügt, mit vier Ochsen vor ihrem Pflug, allesamt ihre Söhne, und dass so stark, dass sein Land zerbricht, in Festland und Insel. Dem Bild der starken Frau gegenüber steht das Bild des tragischen Mannes, ebenso mythisch erzählt wie auch beispielhaft veranschaulicht, am Grab von Henrik Ibsen:
"Der Blick auf Ibsens Grab in Oslo ist erschütternd. Er wurde abgeschieden beigesetzt auf einer Wiese am Fuße eines kleinen Hügels, inmitten des Friedhofs, jedoch weit entfernt von allen anderen Gräbern. Auf dem hohen schwarzen Obelisken steht kein Wort, nicht mal sein Name. Am Tor des Grabzauns sieht man, wenn man genau hinschaut, die charakteristischen Initialen Ibsens: H und I für Henrik Ibsen. Und man muss ganz nah herankommen, wenn man den mit kaum sichtbaren Zügen in den Stein eingravierten Hammer sehen möchte. An diesem Grab kann man nicht lange verweilen. Ibsen hat für seine Begabung und seine Macht redlich bezahlt."
Feministische Ironie
Neben den eindrucksvollen Szenen der Natur, den Betrachtungen zu Gesellschaft und Literatur stehen auch zahlreiche Beobachtungen, die Sekulić’ feine Ironie zeigen, ihre Freundlichkeit und ihren Humor. So wünscht sie den vorbeiziehenden Elchen Gute Reise!, als wären es Kameraden ihrer eigenen Unternehmung, entschuldigt sie sich bei den Fußballern, dass ihr Sport leider bei der Betrachtung erhaben wirkender Aktivitäten wie dem Reiten nicht berücksichtigt werden könne, und kommentiert sie das Unverständnis der Norweger für ihre Frauen süffisant, dass sie und ihre Begleitung als Ausländerinnen ja auch keine Vorstellung davon hätten, was denn eine typische Norwegerin sei. Isidora Sekulić war Norwegen verbunden, so wie norwegische Feministinnen ihr: 1920 erschien ihr Portrait als Titelbild der norwegischen Zeitschrift für Frauenrechte, Nylænde, Neuland, anlässlich ihrer Rede auf dem Kongress des Internationalen Frauenbunds in Oslo. Ihre Briefe aus Norwegen waren erst der Anfang ihrer literarischen Karriere, die mit vierzehn Bänden ihrer Gesamtausgabe im Verlag Stylos auf Serbisch bestens dokumentiert ist. Höchste Zeit, Isidora Sekulić in der Vielschichtigkeit ihres Schreibens auch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Vielleicht mit einer repräsentativen Auswahl ihres Schaffens zum 150. Geburtstag der Autorin, in acht Jahren?
Isidora Sekulić: "Briefe aus Norwegen"
Aus dem Serbischen übersetzt und herausgegeben von Tatjana Petzer.
Friedenauer Presse, Berlin. 132 Seiten, 18 Euro.