Monika Dittrich: In vielen westlichen Gesellschaften wird der Islam heutzutage vor allem als Problem gesehen - als Religion, die Integration verhindert, Frauen unterdrückt, Gewalt verherrlicht. Das Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen ist schwieriger geworden, auch in Deutschland. So beschreibt es Alfred Schlicht in seinem aktuellen Buch. Der promovierte Orientalist war jahrelang als Diplomat in muslimischen Ländern. Der Titel seines Buches heißt: "Gehört der Islam zu Deutschland?". Ich wollte von ihm wissen, ob man diese Frage angesichts von mindestens viereinhalb Millionen Muslimen in der Bundesrepublik überhaupt stellen kann.
Herr Schlicht, Ihr Buch heißt "gehört der Islam zu Deutschland?". Kann man das überhaupt fragen, angesichts von mindestens viereinhalb Millionen Muslimen, die hierzulande leben?
Alfred Schlicht: Es ist eine Frage, die gestellt worden ist. Es ist eine Frage, die immer noch viele Bürger beschäftigt. Aber in der Tat, wir haben sehr viele Muslime hier, wir haben eine wachsende Zahl von Muslimen, nicht nur durch die Flüchtlinge und insofern stellt sich die Frage mehr und mehr, denn die Frage bedeutet ja auch: Passen diese Leute zu uns? Passen diese Muslime zu uns? Und wie gehen wir mit ihnen um? Das beinhaltet diese Frage ja auch.
Dittrich: Und: Passen Sie zu uns?
"Wir haben eine große Zahl von Muslimen, die hier angekommen sind"
Schlicht: Auch da ist es wieder schwierig, eine eindeutige Antwort zu geben. Und deshalb ist dieses Buch ja geschrieben worden. All diejenigen, die glauben, dass man eine ganz einfache Antwort hierauf findet, sollten dieses Buch lesen. Für sie ist es geschrieben. Wir haben natürlich eine ganz große Anzahl von Muslimen, die hier angekommen sind. Muslime, die sich mit dem modernen Leben, mit der modernen Gesellschaft, mit dem Rechtsstaat, mit der Demokratie sehr gut arrangiert haben. Und wir haben natürlich leider immer noch Muslime, die beschränkt sind in ihrer wörtlichen Gläubigkeit an Aussagen des siebten Jahrhunderts. Und die müssen wir erst in unsere Realität hineinführen.
Dittrich: Sie schreiben sehr viel über mangelnde Integration vieler Muslime in Deutschland, über ihre Weigerung, demokratische Werte anzuerkennen, über Parallelgesellschaften, Ehrenmorde, Radikalisierung. Was hat das mit der Religion zu tun?
Schlicht: Die Religion schottet die Menschen ab. Da gibt es sehr viele Aussagen im Koran, in der Sunna, in der Rechtsliteratur. Zum Beispiel: "Nehmt Juden und Christen nicht zu Freunden", steht in Sure 5 des Korans. "Tötet die Heiden, wo ihr sie findet", in Sure 9, "Die Ungläubigen sind Schmutz", auch in Sure 9. "Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Gott glauben, bis sie kleinlaut Tribut bezahlen" – und derartige Äußerungen, wenn sie wörtlich genommen werden, so wie sie im siebten Jahrhundert gemeint waren, sind natürlich ein Hindernis für Integration.
Dittrich: Aber gewaltverherrlichende Passagen kennen wir beispielsweise auch aus der Bibel.
Schlicht: Wir kennen sie aus der Bibel, wir kennen sie aus dem Judentum und auch aus anderen Religionen. Nur, der Unterschied ist, dass es kaum Juden, kaum Christen gibt, die heutzutage diese gewaltverherrlichenden Passagen noch für relevant erachten. Heute bemühen sich alle Religionen, alle Weltanschauungen, sich mit Werten wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kompatibel zu zeigen. Schauen wir nur das Christentum an, das sich längst von Scheiterhaufen und Folter losgesagt hat.
"Der Islam ist keine Religion der Gewalt, aber er hat Gewaltpotenzial"
Dittrich: Das trauen Sie dem Islam so schnell nicht zu?
Schlicht: Doch, das traue ich dem Islam schon zu. Wie gesagt, gibt es ja zahlreiche Muslime, die in dieser Gesellschaft beweisen, dass sie mitmachen, dass sie Teil der Gesellschaft sind, dass sie konstruktive Elemente unserer Rechtsstaaten sind. Aber es gibt eben noch viel zu viele Muslime, die das nicht tun. Das sehen wir an den Parallelgesellschaften, den Familienclans, die kriminell sind. Gerade in der letzten Woche kam im RBB-Fernsehen hier in Berlin wieder ein Beitrag über Schwerstkriminalität in Berlin, wo wir gesehen haben, wie weit viele Muslime noch entfernt sind. Und da gehen Kriminalität und Radikal-Islamismus oft ineinander über.
Dittrich: Inwiefern können Sie sich sicher sein, dass dieses Beispiel Kriminalität oder mangelnde Integration tatsächlich mit der Religion zu tun hat. Es könnte ja auch an einem Bildungsdefizit liegen oder an mangelnden Sprachkenntnissen.
Schlicht: Da kommt sehr viel zusammen. Viele Muslime glauben, dass sie der hiesigen Gesellschaft weit überlegen sind. Es gibt ja auch im Koran, Sure 3, Vers 110, die Aussage: "Ihr seid die beste Gemeinschaft". Und viele Muslime glauben auch, dass sie, egal wie die Realität um sie herum ist, eigentlich von uns nichts lernen können und dass die einzige Möglichkeit, Probleme unserer Zeit zu lösen, im Koran sei. Und insofern ist es traurige Realität, dass viele Muslime sich unter Berufung auf den Islam von unserer Gesellschaft abschotten.
Dittrich: Ist der Islam insofern eine Religion der Gewalt?
Schlicht: Der Islam ist keine Religion der Gewalt, aber er hat Gewaltpotential. Es ist oft auch eine Frage der Auslegung. Während die sehr konservativen Muslime eine sehr wörtliche Auslegung praktizieren, sind die modernen Muslime so weit gekommen, Aussagen, wie sie im Koran vorkommen oder in der Sunna, als zeitbedingt zu sehen, als historisch einzuordnen und in der Interpretation jeweils anzupassen. Zum Beispiel ‚Dschihad‘, das wird sehr häufig als Krieg im Namen Gottes verstanden, kann aber natürlich auch ein ganz normales, moralisches Bemühen im Namen Gottes sein, muss nicht militärisch gesehen sein. Das ist eine Frage der Interpretation. Und wer bereit ist zu interpretieren und den Islam im Licht der Moderne zu sehen, kann ihn durchaus verändern. Wer ihn aber natürlich nur wortwörtlich verstanden wissen will, der bleibt befangen in den Konzepten des siebten Jahrhunderts.
"Moderne Islaminterpretationen gibt es schon"
Dittrich: Wie könnte denn so ein modern interpretierter Islam aussehen?
Schlicht: Diesen modern interpretierten Islam gibt es ja schon. Wie gesagt, es gibt Menschen, die der Meinung sind, dass all das, was im Koran steht, neu interpretiert werden kann, dass sich Muslime von den diskriminierenden Aussagen loslösen können, dass sie sich heute einpassen können in eine Gesellschaft und ihren Glauben zwar ausüben, aber nicht mehr in einer Weise, die andere diskriminiert. Wir haben hier zum Beispiel Seyran Ates, Ahmad Mansour, Abdel-Hakim Ourghi, lauter Muslime, die hier in unserer Gesellschaft Funktionen haben. Abdel-Hakim Ourghi ist Professor für Islamische Theologie, Ahmad Mansour war früher selbst Islamist, ist heute Sozialarbeiter und Psychologe, der die Islamisten betreut und behandelt. Und solche Leute, die haben gesehen und vorgeführt, wie man den Islam auch verstehen und leben kann.
Dittrich: Auch alles Leute, die regelmäßig in unserem Programm vorkommen. Nun sagen sie, man dürfe nicht länger schönfärben, auch aus einer falsch verstandenen politischen Korrektheit heraus. Ich frage mich: Wer färbt schön?
Schlicht: Schönfärben tun all diejenigen, die sagen: Das hat nichts mit dem Islam zu tun, jede Art von Kritik am Islam ist Islamfeindlichkeit. Aber: Kritik am Islam zu üben, ist noch keine Islamophobie. Abdel-Hakim Ourghi, den ich schon genannt habe und der auch bei Ihnen schon gesprochen hat, hat gesagt, dass der Islam die Islamkritik geradezu braucht. Die Islamkritik ist notwendig, so wie wir natürlich auch innerhalb unserer Rechtsstaaten unsere eigenen Systeme kritisieren und unser eigenes Verhalten kritisieren, Parteien kritisieren, geistige Bewegungen kritisieren, so muss der Islam durchaus auch kritisierbar sein.
"Die Mehrheit der friedlichen Muslime darf nicht passiv sein"
Dittrich: Was erwarten Sie von der Mehrheit der friedlichen Muslime in Deutschland – aber auch anderswo?
Schlicht: Die Mehrheit der friedlichen Muslime darf nicht passiv sein. Sie muss versuchen, die sehr konservativen, die salafistischen, die gewaltbereiten Muslime aus ihrer Ecke, aus ihrer selbstgewählten Isolation zu holen, sie einzubinden in ein Gespräch, sie herauszuführen aus dieser Befangenheit in Konzepten und wörtlichen Reden des siebten Jahrhunderts. Das können nur die Muslime, das können nicht wir. Denn wer so konservativ ist in der islamischen Welt, der ist nicht bereit, sich von einem Nicht-Muslim etwas sagen zu lassen und auch unsere Konzepte von Islam-Dialog sind für sehr konservative und sehr strikte Muslime nichts anderes als Methoden, ihren Islam weichzureden und Diskussionen zu führen, die letztlich zur Aufweichung des islamischen Weltbildes zu führen.
Dittrich: Hat die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht auch eine Mitverantwortung für schlechte Integration? Wird es manchen Muslimen auch erschwert, eine Identität als deutsche Muslime aufzubauen?
Schlicht: Das ist ganz richtig. Es sind Fehler in der Integration gemacht worden. Es gibt unterschiedliche Integrationserfolge und -misserfolge in der Integration, das ist auch regional unterschiedlich. Die Tagesschau hat vor einiger Zeit gesagt, Integration funktioniert am besten in Bayern. Und wenn Sie in Bayern einen Migranten ansprechen, dann kann es durchaus sein, dass Sie eine Antwort in bayrischer Mundart bekommen. Da hat man die Muslime sehr früh in Arbeit gebracht. Und man hat die Bildung von Schwerpunkten bei der Ansiedlung, bei der Wohnbevölkerung verhindert. Also es gibt nicht diese Viertel wie es sie beispielsweise in Berlin-Neukölln gibt, wo Muslime fast unter sich sind und wo sie praktisch glauben, das sei ihr Viertel. Das sagen sie ja auch bei Polizeieinsätzen: ‚Das hier ist jetzt unsere Straße‘. Und das hat es Süddeutschland, vor allem in Bayern nicht so gegeben. Also das kann man machen. Und man müsste einfach aus der Vergangenheit lernen. Denn wir hatten ja schon Flüchtlinge in den 80er Jahren aus dem libanesischen Bürgerkrieg und da wurde vorgemacht, wie man es eigentlich nicht machen soll.
Dittrich: Und hilft es nun bei der Integration, wenn man immer noch fragt, ob der Islam zu Deutschland gehört?
Schlicht: Das hilft in der Tat bei der Integration. Denn wir können, wenn wir diese Frage immer im Hinterkopf haben, mitgestalten und neu gestalten, und sehen: Was tun wir, damit der Islam zu Deutschland gehört? Aber da brauchen wir eben auch die Hilfe der modernen Muslime, derjenigen, die in der deutschen Gesellschaft hier angekommen sind. Aber wie Sie richtig schon suggeriert haben: Es ist natürlich auch eine Aufgabe für uns alle und auch die Kanzlerin hat ja gesagt, dass wir es schaffen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Dittrich: Finden Sie nicht, dass das eher ausschließend wirkt, diese Frage zu stellen?
Schlicht: Es wirkt vielleicht nicht ausschließend, aber es wirkt durchaus provozierend. Man muss sich mit der Frage befassen und man muss sich bewusst sein, dass es durchaus unterschiedliche Antworten geben kann. Das heißt, dass es kein Automatismus ist, dass wir nicht einfach sagen können, es gibt viele Muslime und damit gehört der Islam zu Deutschland. Sondern wir müssen sehen, dass wir den Islam und die Muslime zu deutschland-kompatiblen Mitmenschen hier machen. Denn sie sind es nicht immer. Viele sind es ja schon geworden. Aber viele, die in sehr konservativen Haltungen verharren, sind hier noch nicht richtig angekommen und fühlen sich hier auch an wie ein Fremdkörper.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alfred Schlicht: "Gehört der Islam zu Deutschland? Anmerkungen zu einem schwierigen Verhältnis", Orell Füssli Verlag, 232 Seiten, 19,95 Euro