Die Altstadt von Sarajevo. Hier steht ein typisch osmanisches Bauwerk, die Gazi-Husrev-Beg-Moschee. Sie erinnert an Moscheen in Istanbul. Wie der Islam hierhergekommen ist, nach Bosnien, darum ranken sich bis heute Mythen.
Auch dieser junge Bosnier erzählt eine der Legenden: Demnach soll der osmanische Sultan Mehmed II. im Jahre 1463 mit seiner Streitmacht nach Bosnien gezogen sein. Zehn Jahre zuvor hatte derselbe Herrscher Konstantinopel eingenommen. Doch anstatt auch Bosnien mit dem Schwert zu erobern, sei er dort mit Blumen empfangen worden. Die Bosnier hätten förmlich auf die Osmanen gewartet, da sie bereits einen islam-ähnlichen Glauben gehabt hätten.
Die Bogomilen wurden als Ketzer betrachtet
Es fällt der Begriff "Bogomilen". Aus dem Slawischen übersetzt bedeutet das in etwa "Gottesfreunde". Die Islamwissenschaftlerin Armina Omerika von der Goethe-Universität in Frankfurt hat bosnische Wurzeln und kennt diesen Begriff gut.
"Bogomilen, eine Gruppe, die von den christlichen Orthodoxien als Ketzer bezeichnet wurden und deren Existenz für andere Teile des Balkans belegt ist, aber es sehr fragwürdig ist, ob sie tatsächlich in Bosnien-Herzegowina selbst auch vertreten gewesen sind."
Tatsächlich ist nicht besonders viel über die Bogomilen bekannt. Diese mittelalterliche Glaubensgemeinschaft war einst eine gnostisch-dualistische Bewegung mit einer streng asketischen Lebensweise. Die Bogomilen sind im christlichen Kontext entstanden und waren vor allem auf dem Balkan verbreitet.
Manche Bosnier beziehen sich heute auf die Bogomilen, um ihre nationale Identität zu bekräftigen und ihre konfessionelle Andersartigkeit zu erklären. So heißt es, dass die Glaubensvorstellungen der bosnischen Bevölkerung bereits im Mittelalter von der christlichen Mehrheit elementar abwichen und dem Islam sehr nah waren – weil die Bosnier Bogomilen gewesen seien, die unter anderem die Taufe ablehnten. Historisch stimmt das allerdings nicht, so Omerika:
"Nichtsdestotrotz hat sich diese Erzählung eigentlich bis heute als ein populäres historisches Narrativ gehalten, was natürlich auch damit zusammenhängt, dass man auf die Art und Weise die Staatlichkeit Bosnien-Herzegowinas noch einmal besonders, auch innerhalb dieser Dimension stützen möchte."
"Der Islam war ein wichtiges Identitätsmerkmal"
Aus den christlichen Nachbarstaaten hieß es oft, Bosnien sei durch die Osmanen zwangsislamisiert worden. Die Legende der bosnischen Bogomilen sei deshalb auch ein konkretes Gegennarrativ der muslimischen Bevölkerung.
"Im Gegensatz zu den nicht-muslimischen Bevölkerungsteilen dieses Gebietes war der Islam natürlich ein ganz wichtiges Identitätsmerkmal, auch ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal durchaus ethnischer Art zu anderen Gruppen geworden. Da ist es auch verständlich und nachvollziehbar, dass man da eine andere Haltung zur Frage der Islamisierung entwickelt hat, die diesen Berichten über Zwangskonversion entgegengehalten wurden."
Doch wissenschaftlich betrachtet sei die Bogomilen-Erzählung ein großer Irrtum, so Omerika.
"Die bosnische Kirche wird häufig in den populären Erzählungen und eine Zeit lang auch in der Geschichtswissenschaft mit den sogenannten Bogomilen verwechselt, oder gleichgesetzt."
In dem kleinen Balkanstaat gab es einst drei Kirchen: die katholische, die orthodoxe und die davon unabhängige bosnische Kirche. Die bosnische Kirche darf aber eben nicht verwechselt werden mit den Bogomilen.
"Das war nicht so, dass die über Nacht konvertiert sind"
Und als die Osmanen kamen, sei die Bevölkerung auch keineswegs sofort geschlossen zum Islam übergetreten, wie es die Legenden besagen, so Islamwissenschaftlerin Omerika.
"Das war auch nicht so, dass die Menschen über Nacht konvertiert sind. Auch wenn es eine sehr populäre Erzählung gibt, die in diese Richtung hindeutet, die aber historisch nicht belegbar ist."
Erst Ende des 16. Jahrhunderts war die Mehrheit in Bosnien muslimisch. Ein Prozess, der circa 150 Jahre dauerte. Der Islam habe sich zunächst in den größeren Städten etabliert.
"Das heißt also, dass die Menschen dort zum Islam übergetreten sind, wo es eine islamisch-religiöse Infrastruktur gab, oder wo sie zuerst ausgebaut wurde. Und das war der Fall in den Städten, die unter anderem auch unter den Osmanen neu entstanden sind oder zumindest eine signifikante Entwicklung erfahren haben."
Diese Infrastruktur umfasste unter anderem Derwisch-Klöster, also Sufi-Konvente, Händlerverbände, aber auch osmanische Autoritäten vor Ort, die für den Ausbau der staatlichen Verwaltungsstrukturen verantwortlich waren.
Die Knabenlese bezog sich auch auf Muslime
Der Ursprung des Bogomilen-Mythos liege laut Omerika im 19. Jahrhundert. Er sei als eine Art Gegenerzählung zur Zwangsislamisierung entstanden, über die damals viel diskutiert worden sei.
"Gerade bei den Berichten zu den Zwangskonversierungen muss man sehr vorsichtig sein und aufpassen. Sie tauchen meistens in Chroniken auf, die nicht zeitgenössisch sind, sondern halt eben später verfasst wurden. Zum größten Teil im 19. Jahrhundert als Teil der nationalen, sich etablierenden Historiographien."
Die Knabenlese, auch als "Devshirme" bezeichnet, wird oft als ein Beispiel für die Zwangsislamisierung der Bosnier angeführt. Demnach habe das Osmanische Reich besonders im Balkan Jungen nach Talent und Potenzial gezielt ausgesucht und die stärksten und cleversten mit in die Hauptstadt Istanbul genommen, um sie dort auszubilden. Omerika weiß, dass diese Knabenlese existierte. Doch das Argument, die Bevölkerung sei aus Furcht vor der Knabenlese zum Islam übergetreten, sei zu kurz gedacht, weil:
"Nicht nur Kinder oder Knaben aus christlichen Familien, sondern auch Kinder aus muslimischen Familien ebenfalls im Zuge der 'Devshirme' nach Istanbul gebracht wurden. Also dass auch muslimische Familien davon betroffen waren. Insofern ist die Frage durchaus berechtigt, ob in so einem Fall, wo nicht nur Christen, sondern auch Muslime betroffen waren, tatsächlich eine Konversion die Familien davor gerettet hätte?"
Ein langer und komplizierter Prozess
Die Bosnier haben den Islam also wohl weder sofort freudig angenommen, noch wurden sie planmäßig islamisiert. Eine wichtige Rolle hätten bei den allmählichen Übertritten vom Christentum zum Islam politische und gesellschaftliche Anreize gespielt.
"Da war die Konversion sozusagen eine wichtige Voraussetzung und eine Art Türöffner für den sozialen Aufstieg. Und das war sicherlich einer der Punkte, der Leute dazu gebracht hat, im Laufe der Zeit sich zum Islam zu bekennen, oder zu konvertieren."
Dass Bosnien muslimisch wurde, war also ein langer und komplizierter Prozess. Mit den Bogomilen, der christlichen Splittergruppe aus dem Mittelalter, hat dieser Prozess wahrscheinlich nichts zu tun. Trotzdem wird der Bogomilen-Mythos in Bosnien offenbar immer beliebter. Das habe auch mit der politischen Annäherung des Landes an die Türkei zu tun, so Armina Omerika.
"Dort, wo es vorher anti-osmanische, nationalistische Narrative gab, in den historisierenden Schilderungen, die sich vom osmanischen Reich abgrenzten, so gibt es heute Gegen-Narrative, die nicht minder selektiv vorgehen bei der Betrachtung der Geschichte, die sozusagen ein mildes, vielleicht sogar ein romantisches Bild der osmanischen Herrschaft zu zeigen und dabei natürlich die historischen Realitäten und vor allem die Komplexitäten der osmanischen Herrschaft in diesen mehreren Jahrhunderten ignorieren oder auch ganz bewusst ausblenden."
Und Teil davon ist eben auch die Legende der christlichen Bogomilen, die die muslimischen Osmanen einst mit Blumen empfangen haben sollen.