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Islam in China
Frauen-Moscheen im Reich der Mitte

Bereits seit dem 13. Jahrhundert leben Hui-Muslime in China, heute sind sie die drittgrößte Minderheit im Land. Sie sind aufgeklärte, liberale Sunniten, die sich selbstbewusst zu ihrer Identität bekennen und weitgehend ungestört leben - ganz im Gegensatz zu den Uiguren.

Von Ruth Kirchner |
    Kunsthandwerker der Uiguren auf einem Markt in Kashgar in der autonomen Provinz Xinjiang
    Kunsthandwerker der Uiguren auf einem Markt in Kashgar in der autonomen Provinz Xinjiang (dpa/picture alliance/How Hwee Young)
    Die große Beida-Moschee von Zhengzhou in Zentralchina. Der Ruf des Imam hallt über den Hof, alte Männer kommen zum Mittagsgebet. Von außen sieht die Moschee aus wie eine chinesische Pagode – mit grauen Steinmauern, roten Holztüren und geschwungenen Dächern. Allein die arabischen Schriftzeichen über dem Eingang verraten, dass es sich um ein muslimisches Gotteshaus handelt. Und das neue Minarett, das hinter dem alten Gebäude in den smog-grauen Himmel ragt.
    "Die Moschee hat eine 600 Jahre lange Geschichte. Sie wurde zu Beginn der Ming-Zeit erbaut und ist daher ziemlich alt."
    Liu Baoqi ist der Iman der Beida-Moschee und Vize-Präsident der Islamischen Vereinigung der Provinz Henan – eine staatliche und damit parteitreue Organisation. Doch Liu, der mit seinem langen Bart aussieht wie ein alter Gelehrter, ist vor allem stolz auf die lange Tradition der Muslime in der Provinz:
    "Es gibt keine schriftlichen Dokumente, aber vermutlich sind die Muslime schon sehr früh nach Zhengzhou gekommen. Vermutlich schon zur Tang-Zeit, also im siebten Jahrhundert."
    Die ersten Muslime kamen demnach vor rund 1400 Jahren nach China: arabische und persische Händler, die sich zunächst in Hafenstädten im Süden niederließen und später ins Inland weiterzogen. Andere erreichten das Reich der Mitte über die alte Seidenstraße und Zentralasien. Heute leben Muslime in allen Provinzen der Volksrepublik – vor allem im Nordwesten, aber auch in Zhengzhou, einer grauen Industriestadt mit rund fünf Millionen Einwohnern.
    "Es gibt 110 Moscheen allein in Zhengzhou. 1,2 Millionen Muslime leben in der ganzen Provinz, davon 120.000 hier in der Stadt."
    Hui drittgrößte ethnische Minderheit in China
    Die Nachfahren der ausländischen Händler, die Hui, sind zahlenmäßig die drittgrößte ethnische Minderheit der Volksrepublik. Aber sie haben sich weitgehend assimiliert und sind bis auf ihre Religion von den Han-Chinesen kaum zu unterscheiden: Sie sprechen Chinesisch, sehen aus wie Chinesen und sind stolz auf ihren Beitrag zur chinesischen Kultur. Pan Shijie ist Islam-Forscher an der Akademie der Sozialwissenschaften in Zhengzhou.
    "Während der Yuan-Zeit, also während der mongolischen Herrschaft im 13. Jahrhundert, haben die Hui vor allem die Entwicklung wissenschaftlicher Instrumente vorangebracht. Sie unterhielten eine Reihe von Forschungseinrichtungen in den Bereichen Astronomie, Medizin, Waffen, Sprache. Die Hui galten schon damals nicht mehr als Fan-Ke, was Ausländer hieß. Sie waren naturalisiert. Ihr kultureller Einfluss auf China war sehr groß."
    Die Provinz Henan ist Heimat der ältesten Hui-Siedlungen Chinas. Außerhalb von Zhengzhou gibt es Dörfer, in denen fast nur Hui leben – zum Beispiel Jinzhai, keine 30 Kilometer von der Provinzhauptstadt entfernt. Auch hier ist die Hauptmoschee ein traditionelles Gebäude mit einem modernen Anbau mit Minarett. Dass die Moscheen heute wieder ausgebaut werden, hat einen Grund: Nach Jahrzehnten der religiösen Repression unter Mao Zedong, der keine Götter neben sich duldete, erlebe der Islam eine Renaissance, erzählt Bai Xianci, Imam der Moschee von Jinzhai:
    Koran und Gebetskette
    Koran und Gebetskette: Die Hui-Chinesen können ihre Kinder zum Religionsunterricht schicken. (dpa / picture alliance / Roos Koole)
    "Während der Kulturrevolution in den 60er- und 70er-Jahren wurde die Religion unterdrückt. Seitdem blüht sie wieder auf. Das gilt nicht nur für den Islam, sondern auch für die anderen Religionen."
    Bai Xianci nennt sich nicht Imam, sondern Ahong – ein Lehnwort aus dem Persischen. Gäste empfängt er an diesem kalten Februartag in einem ebenerdigen Büro ohne Heizung und führt sie an einen Tisch, der in der Mitte einen Schacht für glühende Kohlen enthält – das spendet Wärme. Bei Sonnenblumenkernen und Tee erzählt der 38-Jährige vom religiösen Leben in seiner Gemeinde:
    "Im Sommer veranstalten wir Kurse – auch für Kinder. Es geht um die Grundlagen des Islam. Dann verstehen sie von klein auf, was es bedeutet, ein Moslem zu sein. Wir bringen ihnen ein bisschen arabisch bei, aber hauptsächlich unterrichten wir auf Chinesisch – das ist einfacher."
    Auch Religionsunterricht für Kinder
    Religionsunterricht für Kinder? Eigentlich ist das im sozialistischen China nicht erlaubt. Kinder und Jugendliche unter 18 dürfen nicht mit religiösen Ideen indoktriniert werden. Aber in Jinzhai wie auch in Zhengzhou nimmt man es nicht so genau. Solange sich die Hui aus der Politik raushalten und ansonsten treu zur Kommunistischen Partei stehen, lässt man sie gewähren. Zumal über allen Moscheen die Islamische Vereinigung wacht: Jeder Imam, jeder Ahong braucht eine staatliche Zulassung.
    "Derzeit ist es relativ locker. Niemand mischt sich ein, wenn du in die Moschee gehst. Aber natürlich gibt es Regeln. Außerhalb der Moscheen darf es keine religiösen Aktivitäten geben. Wir sind frei, so lange wir uns an die Regeln halten."
    Auf dem Markt von Jinzhai werden Gemüse und Jacken verkauft; ein Zahnarzt bietet seine Dienste an – er wirbt mit einer stattlichen Anzahl gezogener Zähne. Daneben fährt ein Bauer mit einer Ziege auf seinem Lastkarren vorbei. Buntes Straßenleben wie überall in China.
    Die Muslime fallen nicht auf. Nur wenige Frauen tragen Kopftücher; und wer in den Fabriken von Zhengzhou arbeitet, hält nur selten die täglichen fünf Gebetszeiten ein. Trotzdem spielen die islamischen Traditionen eine große Rolle: Jedes Kind bekomme neben seinem chinesischen auch einen arabischen Namen, erzählen die Muslime von Jinzhai. Schweinefleisch ist verpönt. Und nach den Anschlägen auf die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo in Paris fürchteten auch die Muslime in Henan - wie Muslime in anderen Teilen der Welt - einen Backlash gegen ihre Religion, sagt Islam-Kenner Pan Shijie.
    "Diese Vorfälle verstoßen gegen den Koran und gegen die Menschlichkeit. In China machen sich einige Muslime Sorgen. Wenn sich der Extremismus durchsetzt, wird das Einfluss auf den Islam haben, obwohl es mit der Religion eigentlich nichts zu tun hat. Wir hoffen, dass sowohl in China wie auch im Westen ein moderater Islam propagiert werden kann."
    Chinas Hui sind aufgeklärte, liberale Sunniten, die sich selbstbewusst zu ihrer chinesisch-muslimischen Identität bekennen. Und die auch stolz sind auf eine Errungenschaft, die als einzigartig im Islam gilt: Moscheen nur für Frauen, geleitet von weiblichen Ahong. Die Frauen-Moscheen entstanden im frühen 18. Jahrhundert in Henan in Zentralchina und haben sich bis in den Nordwesten ausgebreitet.
    Moscheen speziell für Frauen
    Zum Beispiel in der Stadt Guyuan in der Provinz Ningxia – rund 1000 Kilometer von Zhengzhou entfernt. Auch hier leben viele Hui. Sie sind konservativer als ihre Glaubensbrüder und -schwestern in Henan: Fast alle Frauen tragen Kopftuch. Aber auch hier gibt es eine Moschee für Frauen.
    Morgens um halb sechs, während es in der Stadt noch stockfinster ist, unterziehen sich junge Frauen in einem Nebenraum des modernen, großen Gebäudes langwierigen Waschungen und eilen dann in den Gebetsraum im ersten Stock.
    Geleitet wird das Frühgebet von einer 77-jährigen Ahong mit weißem Kopftuch und schwarzem Umhang. Dai Ahong ist seit 19 Jahre Leiterin der Moschee. Ihre Familie kommt ursprünglich aus Henan, schon ihr Vater war ein Imam. Als Ahong in der Frauenmoschee sei ihre Rolle genau die gleiche, erzählt sie stolz.
    "Bei den täglichen Ritualen gibt es keine Unterschiede. In China sind Frauen und Männer doch gleichgestellt. Andere Länder haben andere Sitten. Andernorts dürfen Frauen oft nicht einmal das Haus verlassen."
    Entstanden sind die Frauenmoscheen einst als Bildungseinrichtungen. In den weit verstreuten muslimischen Gemeinden in China sollten auch Frauen in die Lage versetzt werden, die religiösen Traditionen weiterzugeben. Shui Jingjun ist pensionierte Professorin an der Akademie für Sozialwissenschaften in Henan.
    "In der Ming-Zeit hat sich China von der Außenwelt abgeschottet. Auch die Muslime hatten wenig Kontakt nach außen. Die traditionelle Art, den Koran vom Vater zum Sohn weiterzugeben, funktionierte nicht mehr richtig. Angesichts dieser Krise begannen einige Gelehrte, die religiöse Bildung zu reformieren."
    Bis heute sehen die Frauenmoscheen ihre Aufgabe in der Bildung – auch in Guyuan. In diesem Kurs lernen Frauen Arabisch, damit sie später den Koran selbst lesen können. Über 20 Frauen sind an diesem Vormittag gekommen. Für sie ist die Moschee auch ein sozialer Treffpunkt. So wie für diese junge Frau.
    "Ich komme jeden Tag mit meinem kleinen Sohn. Ich bin jung, ich will was lernen. Die Lehrer sind gut, viele Frauen kommen hierher und es nicht weit weg von unserem Haus."
    Reformorientierte Muslime in Guyuan und der Provinz Ningxia würden die Frauen-Moscheen gerne ausbauen, vor allem auf den Dörfern. Denn im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung Chinas verlassen immer mehr junge Leute die Dörfer und ziehen in die Großstädte und reichen Provinzen im Osten des Landes. Zurück bleiben die Alten, die jungen Mütter und Kinder. Ohne Hilfe der Frauen gingen die religiösen Traditionen verloren, fürchtet He Fa, ein junger Gemeindevorsteher, der sich in Guyuan für Frauenmoscheen einsetzt:
    "In unseren Dörfern wurde die Bildung von Frauen und Kindern lange vernachlässigt. Das müssen wir ändern. Frauen wissen oft sehr wenig über die Grundlagen des Islam, daher müssen wir Plattformen schaffen, wo sie lernen können."
    Andere Situation in Guyuan
    Eine zweitägige Eisenbahnreise von Guyuan entfernt, über 3000 Kilometer weiter westlich, liegt die alte Oasenstadt Kashgar, einst ein wichtiger Zwischenstopp auf der Seidenstraße, die China mit Europa verband. Das Zentrum von Kashgar wird von der Id Kah Moschee dominiert, der größten Moschee in ganz China. Zum Freitagsgebet kommen jede Woche zehntausend Menschen zusammen.
    Kashgar ist der westlichste Außenposten Chinas, kurz vor der Grenze zu Zentralasien. Hier leben fast nur Muslime – keine Hui, sondern Uiguren. Sie sind ein Turkvolk, ihre Sprache ähnelt dem Türkischen, benutzt aber arabische Schriftzeichen. Auch ethnisch unterscheiden sie sich deutlich von den Han-Chinesen und den Hui.
    Unweit der Moschee ist von der historischen Lehmziegelarchitektur der Altstadt nur noch wenig erhalten. In einem der flachen, gelbbraunen Häuser wohnt Frau Bu Sha Re Mu mit ihrem Mann. Sie trägt ein Kopftuch und ein besticktes langes gelbes Kleid. Sie und ihre Familien sind praktizierende Muslime. Doch wie viele Uiguren klagt die 53-Jährige über die Herrschaft der Chinesen – und die Unterdrückung ihrer Religion. Denn immer wieder würden die Familien von den Behörden ermahnt und schikaniert:
    Aufgenommen am 30. Juni 2013.
    Chinesische paramilitärische Einheiten der Polizei stehen Wache im von Uiguren belebten Teil der Stadt Urumqi in der Provinz Xinjiang. (AFP / MARK RALSTON)
    "Polizisten in Zivil kontrollieren ständig die Ausweise und Handys unserer Kinder. Wir müssen jede Woche zu Sitzungen des Nachbarschaftskomitees: Bei diesen Treffen sagt man uns, wir sollen unsere Kinder zur Schule schicken und nicht in die Moscheen. Wir bringen ihnen daher nur zu Hause etwas religiöses Wissen bei – wie man betet und ein bisschen was aus dem Koran."
    Religionsunterricht für Kinder wie in Henan oder gar Koran-Schulen wie in Ningxia sind in Xinjiang nicht erlaubt. Die Moscheen in Kashgar und Umgebung werden strenger kontrolliert als in allen anderen Landesteilen. Im Alltag gibt es unzählige Verbote: So dürfen Beamte, Lehrer und Studenten während des Ramadan nicht fasten. Junge Männer sollten keine Bärte tragen, heißt es in Medienberichten. Frauen dürfen sich nicht verschleiern. Einschränkungen, die es in anderen Landesteilen nicht gibt, und die in Xinjiang zu wachsendem Unmut führen:
    "Im Ausland würde man das als Menschenrechtsverletzung betrachten. Aber hier kümmert es niemanden. Keiner steht für uns ein. Jeder hat seinen eigenen Glauben. Das schadet doch niemandem."
    Dass in Xinjiang die Religion im Visier der Sicherheitsbehörden steht, hat vielschichtige Gründe: Seit Jahren begehren die Uiguren auf gegen die als Fremdherrschaft empfundene Kontrolle der Chinesen. Ost-Turkestan nennen die Uiguren ihre Heimat, die sich Peking 1949 einverleibt hatte. Viele Uiguren fühlen sich durch Pekings Politik in ihrer kulturellen Identität bedroht und klammern sich an ihre Traditionen und die Religion.
    Uiguren werden drangsaliert
    Die Spannungen entladen sich immer wieder in gewalttätigen Anschlägen. Die Regierung vermutet Drahtzieher im Ausland, sieht Einflüsse religiöser Extremisten und Separatisten. Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht, selbst Exil-Uiguren warnen mittlerweile vor einer Radikalisierung ihrer Landsleute. Solchen Trends mit der Unterdrückung religiöser Traditionen zu begegnen, sei allerdings der falsche Weg, sagt James Leibold von der La Trobe University in Australien und Experte für chinesische Minderheiten. Das habe den gegenteiligen Effekt:
    "Der gesunde Menschenverstand lehrt uns zwei Dinge: Informationen und Ideen fließen über Landesgrenzen – egal wie streng die Zensur, die große Firewall Chinas aus sein mag. Und das Zweite ist: Druck erzeugt Gegendruck. Wenn du einschreitest und Frauen zwingst, ihre Schleier abzunehmen, trifft es die Mutter, Tochter oder Ehefrau von jemandem. Und sie werden dir anschließend nicht mit Sympathien gegenüber treten, sondern sie werden natürlich radikaler."
    Im fernen Henan in Zentralchina, sieht man die Entwicklungen in Xinjiang mit Sorge. Die Probleme dort hätten mit Religion nichts zu tun, betonen die chinesischen Experten, sondern hingen mit der Geschichte, mit ethnischen Unterschieden und wirtschaftlichen Problemen zusammen. Der Vize-Chef der Islamischen Vereinigung, Liu Baoqi, stellt sich auch schützend vor die Kommunistische Partei:
    "Die Partei glaubt nicht an Religion, aber die chinesische Verfassung garantiert die Religionsfreiheit. Die Muslime in China erleben keinen Druck. Sie werden geschützt, ihre Religion wird respektiert."
    Im privaten Gespräch räumen aber auch chinesische Experten ein, dass in China mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Hui in Henan, Ningxia und vielen anderen Landesteilen seien weitgehend integriert. In Xinjiang bei den Uiguren sei die Lage jedoch bedrückend. Von religiöser Freiheit und der von Peking so oft proklamierten Harmonie zwischen Han-Chinesen und den muslimischen Minderheiten könne dort nicht die Rede sein.