Christiane Florin: Seit Jahresbeginn zeigt eine Reihe in "Tag für Tag", was es bedeutet, den Islam zu leben - zwischen Geburt und Tod, zwischen Pränataldiagnostik und postmortalen Himmelsvorstellungen. Ergänzt wird diese Reihe durch den Aspekt: Den Islam denken. Kürzlich ist ein Buch just mit diesem Titel erschienen. Besser gesagt: ein Essay zur Geistesgeschichte. Der Autor ist Frank Griffel, ein deutscher Islamwissenschaftler der an der amerikanischen Yale-Universität lehrt und sich besonders mit islamischer Philosophie auskennt. Wegen der Zeitverschiebung haben wir das Gespräch aufgezeichnet. "Versuch, den Islam zu verstehen" heißt der Untertitel. Herr Griffel, welche Missverständnisse machen das Verstehen besonders schwer?
Frank Griffel: Ich glaube, da sind zwei Dinge bedeutend: Zum einen ist das die Erwartung, die wir an Religion überhaupt haben, und zum anderen ist es die Erwartung, die wir an die Geschichte von anderen Gesellschaften haben.
"Der Islam hat keine Kirche - ein wichtiger Unterschied"
Christiane Florin: Was meinen Sie damit konkret?
Griffel: Zum einen: Was Religionen angeht, kennen wir im Grunde nur die Religion, die wir selber ausüben, gut. Andere Religionen funktionieren häufig ganz anders, und wir können uns häufig schwer vorstellen, in welcher Art und Weise die wirklich von unserer Religion unterschieden ist. Zum Islam gebe ich als Beispiel die Tatsache, dass der Islam niemals eine Kirche gehabt hat. Das allein ist ein sehr, sehr wichtiger Unterschied, den wir häufig nicht bedenken, wenn wir über den Islam reden.
Zur zweiten Sache, die Geschichte und die Geschichte, die verschiedene Gesellschaften haben: Da erwarten wir häufig, dass außereuropäische Gesellschaften sich in der gleichen Art und Weise entwickelt haben, wie wir uns entwickelt haben. Und da spielt natürlich besonders die Reformation und auch die Aufklärung eine wichtige Rolle, wenn wir über Religion reden. Viele Religionen, die außerhalb von Europa praktiziert werden, haben keine Reformation und keine Aufklärung gehabt – das gleiche gilt natürlich auch für den Islam.
Die Kolonialisierung hat die islamische Welt verändert
Florin: Was halten Sie von Forderungen, die mantramäßig wiederholt werden: Der Islam brauche eine Aufklärung, der Islam brauche eine Reformation – zumindest der Islam, der hier angekommen ist?
Griffel: Zum einen muss man sagen, dass der Islam natürlich die Aufklärung und auch die Reformation tatsächlich aufgeholt hat – nämlich im 19. Jahrhundert: Nach der Konfrontation mit europäischen Kolonialmächten wurde in der gesamten islamischen Welt ein säkulares politisches System etabliert, welches in der gleichen Art und Weise wie bei uns über Jahrhunderte hinaus ein politisches System entwickelt hat, das die Religion von der Politik trennt.
Allerdings ist das ganz anders passiert als bei uns. Wo das bei uns organisch, aus sich selbst heraus, aus eigenen Ideen heraus passiert ist, ist es in der islamischen Welt vom Westen aufoktroyiert worden. Und das führt zu besonderen Situationen in der islamischen Welt, die sich dann natürlich auch zeigen, wenn Muslime unter uns in Europa leben.
"Wir sehen häufig nicht die negative Seite der Aufklärung"
Florin: Sie schreiben an einer Stelle in Ihrem Buch: "Aufklärerisches Denken hat die Kolonisation legitimiert." Wenn wir, christlich geprägt, oder jedenfalls aus christlich geprägten Ländern stammend, von Aufklärung sprechen – hat das in der muslimischen Welt den Beigeschmack der Unterdrückung, der Kolonialisierung, der Unfreiheit?
Griffel: Was ich damit meine ist, dass die Kolonialisierung, die im 19. Jahrhundert eingetreten ist, - man kann sogar sagen, in fast jedem Fall – damit legitimiert wurde, dass diese Gesellschaften, die islamischen Gesellschaften, quasi durch die europäischen Kolonisatoren in eine Moderne hineingetragen werden. Das hat in vielen Fällen dann zum Beispiel auch zu Säkularisation geführt. Und wir sehen, dass im 20. Jahrhundert es dann eine Gegenbewegung in der islamischen Welt gibt, in vieler Art und Weise. Ein Phänomen zum Beispiel ist der islamische Fundamentalismus, der sich direkt gegen diese Säkularisierung wendet.
Tatsächlich ist es so, dass Aufklärung eben zum einen für uns etwas sehr, sehr Positives ist, wir sehen allerdings häufig nicht die negative Seite der Aufklärung. Nämlich die Idee, dass mit unserem Fortschritt, den wir erreicht haben, wir dann auch versuchen, diesen Fortschritt in verschiedene Weltregionen zu tragen – häufig mit Gewalt.
Florin: 1798 – Napoleon in Kairo. Warum ist dieses Datum bis heute so wichtig?
Griffel: Weil es das erste Mal war, dass eine europäische Macht eine Armee in ein islamisches Land hineingetragen hat und die dortige Armee besiegt hat, und damit ein koloniales Regime geschaffen hat. Gleichzeitig führt es auch dazu, dass viele Ideen aus Europa in die islamische Welt getragen werden. Beides hat Napoleon gewollt: Napoleon wollte Ägypten militärisch einnehmen; und Napoleon wollte Ägypten auch mit Ideen der Aufklärung, und auch mit Ideen der Demokratie – in seinem Verständnis – befruchten. Aber es hat nicht funktioniert. Dieser Moment, dass die Ideen in die islamische Welt getragen werden, dass das gleichzeitig mit Gewalt geschieht, das wurde in der islamischen Welt nicht vergessen.
"Eine Gesellschaft, die sich schon sehr, sehr angepasst hat"
Florin: Wie klingt das Wort "Fortschritt" für Christen? Und wie klingt es für Muslime?
Griffel: Ich denke, wir müssen schon zugeben, dass es für Muslime und für Christen gleich klingt. Heute, im 21. Jahrhundert, leben alle Menschen auf der Welt in Gesellschaften, die von Fortschritt getragen sind. Was ich versuche in meinem Buch aufzuzeigen, ist, dass das nicht immer so war.
Dass zum Beispiel der Islam, bevor er in die Konfrontation mit der europäischen Welt getreten ist, eine Gesellschaft entwickelt hat, die nicht auf Fortschritt gebaut war, die nicht auf Fortschritt angewiesen war. Und was ich damit meine, auf Fortschritt angewiesen, das können wir zum Beispiel damit ausdrücken, dass wir zum Beispiel stets eine Steigerung des Bruttosozialprodukts brauchen, dass wir immer neue Dinge brauchen, dass wir uns auf etwas Neues konzentrieren. Alles das sehen wir in vormodernen islamischen Gesellschaften so nicht – sie entwickeln sich auf andere Art und Weise. Aber nach 1798, nach der Konfrontation mit der europäischen Kolonisation, können sich diese Gesellschaften nicht mehr entfalten und werden, quasi wie unsere Gesellschaften, vom Fortschrittsdenken geprägt.
Florin: Was bedeutet das heute? Es gibt ja "Islamkritiker", um es vorsichtig auszudrücken, die muslimischen Ländern genau das bis heute – oder heute erst recht – vorwerfen? Dass sie kein Interesse haben an Fortschritt, an Bildung, an Erfindung.
Griffel: Wenn wir heute über den Islam nachdenken, dann sehen wir vor allen Dingen eine Gesellschaft, die sich schon sehr, sehr angepasst hat, die sich zum Beispiel auch an das Denken über Fortschritt angepasst hat. Gleichzeitig befassen sich Muslime natürlich auch mit ihrer eigenen Geschichte: Und sie sehen, dass ihre Gesellschaften in der Geschichte ganz anders strukturiert waren. Und ich denke, das sollten wir als Nicht-Muslime in Betracht ziehen, dass Muslime letztlich ihren eigenen Weg in die Zukunft finden müssen und dass es nicht wir sein können, die ihnen sagen sollten: Soundso müsst Ihr sein, Ihr müsst so sein wie wir, Ihr müsst Fortschritt erwarten, Ihr müsst Fortschritt kreieren.
Größere Freiheit, größere Unsicherheit
Florin: Ein wichtiges Wort beim Blick in die Geschichte muslimischer Länder ist das der Ambiguitätstoleranz, - das hat auch der Islamkenner Thomas Bauer ausgeführt, den wir auch vor einiger Zeit hier in der Sendung hatten –, also die Fähigkeit, Spannungen auszuhalten. Inwiefern kann da ein Blick in die Geschichte heute helfen? Denn man muss ja sagen: Von der Ambiguitätstoleranz ist so viel nicht zu erkennen - jedenfalls nicht im öffentlichen Bild des Islams oder der verschiedenen Islame, wie auch immer der Plural heißt.
Griffel: Ja und nein. Zum einen stimmt es, dass islamische Gesellschaften heute im 21. Jahrhundert nicht grundsätzlich verschieden sind von christlichen Gesellschaften. Weshalb eben auch die große Ambiguitätstoleranz, die zum Beispiel Thomas Bauer, und auch andere Forscher, in vormodernen islamischen Gesellschaften gesehen haben und dort auch noch sehen, heute nicht mehr so vorhanden ist. Das ist richtig.
Gleichzeitig muss man allerdings auch feststellen, dass immer noch sehr viel Ambiguitätstoleranz da ist, wenn wir nämlich über die Religion reden. Der Islam kennt keine Kirche, der Islam kennt keine Institutionen, die festlegen, was der "richtige" Islam ist. Der Islam kennt keinen Papst, der Islam kennt keine Bischöfe. All dies sind Dinge, die nach wie vor im Islam, sagen wir, größere Freiheiten – und damit auch größere Unsicherheiten und größere Ambiguitäten erzeugen als wir es zum Beispiel im Christentum sehen.
Florin: Und er kennt auch keine Inquisition.
Griffel: Das ist zum Beispiel ein sehr, sehr typisches Vorurteil, welches wir haben, wenn wir über Religionen denken. Wir glauben, dass alle Religionen so sind und so waren wie das Christentum – will heißen, dass es einen Konflikt gibt zwischen Glauben und zwischen Wissen, und dass die religiösen Institutionen sich gegen die Wissenschaften gewandt haben. Wenn wir in den Islam schauen, die Geschichte des Islams, dann sehen wir, dass das nicht so war.
Wo die Kirche progressive und kritische Ideen unterdrückt hat, sehen wir, dass sich solche Ideen im Islam viel, viel freier entfalten konnten. Und dann eben auch zu einer Synthese geführt haben – das ist der zweite Aspekt, der mit Ambiguitätstoleranz zusammengeht. Im Islam sehen wir nicht, dass diese Ideen konfrontativ aufeinander treffen, sondern wir sehen, dass sie häufig in einer Synthese miteinander verbunden werden - kritische Ideen mit dem, was wir vielleicht manchmal orthodoxe Ideen nennen würden.
Fundamentalismus hat keine Tradition
Florin: "Versuch, eine Religion zu verstehen" ist der Untertitel Ihres Essays. Wer ist das Publikum? Sind das Muslime? Nicht-Muslime? Jetzt sagen Sie bitte nicht, es sind alle.
Griffel: Ich denke, es sind beide – zum einen die Muslime in Deutschland, wie auch die Nicht-Muslime in Deutschland. Mit "wir" meine ich zuallererst die Nicht-Muslime, die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die feststellt, dass Muslime unter ihnen leben und dass der Islam Teil von Deutschland geworden ist. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass der Islam nicht Teil der deutschen Geschichte ist. Und wir müssen versuchen, die Geschichte des Islams aus sich selbst heraus zu verstehen.
Florin: Aber es müsste doch auch für muslimische Fundamentalisten die Selbsterkenntnis wichtig sein. Also so alt, wie die behaupten, dass ihr Fundamentalismus ist, oder ihr Traditionalismus, ist der ja gar nicht. Sondern die Tradition ist eigentlich die der Ambiguität.
Griffel: Richtig. Dieser Konflikt findet innerhalb des Islams statt, zwischen Fundamentalisten auf der einen Seite, die, wie ich schreibe, erst im 20. Jahrhundert aufkommen und sich gegen den Säkularismus wenden, der von außen in die islamischen Gesellschaften hineingetragen wird, und Traditionalisten, die sagen: Wir können auf die gleiche Art und Weise als Muslime weiterleben wie wir es schon seit Jahrhunderten getan haben. Das ist ein Konflikt, in dem wir, als Nicht-Muslime, eigentlich nichts zu sagen haben. Das einzige, wo es uns darum gehen sollte, ist, diesen Konflikt gut zu verstehen – und Freiheiten zu schaffen, dass er eben ohne Druck von außen innerhalb des Islams ausgetragen werden kann.
Eine Chance liegt in der Rückbesinnung auf eigene Werte
Florin: Was halten Sie von Forderungen wie Euro-Islam oder deutscher Islam oder – Sie leben in den USA -, amerikanischer Islam? Also ein Islam, der kompatibel ist mit der Mehrheitsgesellschaft?
Griffel: Richtig. Diese Forderungen sind nicht unbegründet. Ich denke, es gibt allerdings einen Unterschied, wenn wir schauen, was in Amerika passiert, zu dem, was in Europa passiert. In Amerika ist der Druck zur Integration nicht ganz so groß wie in Europa. In Europa gibt es starke Forderungen an den Islam, die sich eben aus der Geschichte des Christentums heraus manifestieren. Dass man eben sagt, der Islam brauche eine Reformation, der Islam brauche eine Aufklärung, nur wenn er das wirklich vollzieht, dann kann er ein europäischer Islam sein. Natürlich können wir mit Forderungen an sie herantreten, aber wir können ihnen nicht diktieren, wie sie auf diese Forderungen zu reagieren haben.
Florin: Braucht der Islam nicht weniger, sondern mehr Mittelalter?
Griffel: Es könnte dem Islam nicht schaden, ein wenig mehr eigenes Mittelalter zu haben. Obwohl ich gleichzeitig sagen muss: Es ist falsch, im Islam von Mittelalter zu reden. Aber es wäre gut für den Islam, es wäre auch gut für Muslime, wenn sie sich genauer anschauen würden, wie ihre eigenen Gesellschaften, wie ihre eigenen Religionen funktioniert haben, bevor es zur Konfrontation mit dem europäischen Kolonialismus gekommen ist. Ambiguitätstoleranz, Synthese – alles das sind Dinge, die auch heute den Islam noch befruchten können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Frank Griffel: Den Islam denken. Versuch, eine Religion zu verstehen. Reclam 2018. 102 Seiten, 6 Euro.