"So wie es üblich ist, lernt man die Übersetzung zu den Standardversen, die man so im Gebet aufsagt. Und mit der Zeit prägen sich dann halt die Wörter ein und man kann auch leicht Zusammenhänge von selbst schließen. Aber heutzutage ist der Koran sehr gut in sehr vielen Sprachen übersetzt, und das wird ja meist genutzt von den Muslimen."
Diese junge Frau ist kein Einzelfall: Viele Muslime lesen im Koran, verstehen ihn aber nicht im Original und müssen daher zu Übersetzungen greifen. Der Grund: Der Koran ist im Original auf Arabisch verfasst, einer sehr komplexen Sprache, wie der islamische Theologe Hureyre Kam weiß:
"Wo Sie für ein Phänomen hunderte von Begriffen haben. Dann sind diese Begriffe aber nicht nur für ein Phänomen besetzt, sondern sie haben selber noch innerhalb ihrer selbst viele verschiedene Ebenen und Dimensionen. Das heißt, die arabische Sprache ist ungeheuer komplex. Daher ist es gar nicht verwunderlich, dass ein Muttersprachler-Araber, auch wenn er studiert ist, den Koran nicht auf Anhieb versteht."
"Man muss sich hineinversetzen in die damalige Zeit"
Das heißt: Selbst für Menschen, die die arabische Sprache von klein auf gelernt haben, ist der Koran schwer zu verstehen, wie die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur von der Universität Köln bestätigt.
"Selbst wenn er arabischer Muttersprachler ist, ist das eine Form von Arabisch, die kennt man nicht. Insofern verstehen sie das nicht. Perser, Indonesier, Türken verstehen sowieso schon mal gar nichts."
Denn: Der Koran ist ein alter Text, offenbart im 7. Jahrhundert. Damals habe man eine andere Sprache gepflegt, meint die muslimische Theologin Hamideh Mohagheghi. Was die Lektüre erschwere:
"Das heißt, man muss sich hineinversetzen in die Weltbilder der damaligen Zeit, warum dann so bestimmte Bilder im Koran sind, die für uns heute überhaupt keine Bedeutung haben. Aber es muss ja eine Bedeutung für die Menschen damals gehabt haben. Und daher muss man irgendwie sich auch diesen Weltbildern der damaligen Zeit annähern, um ein wenig verstehen zu können, was dann der Koran damit vermitteln will. Ohne geht das nicht, und ohne die arabische Sprache kann kein Mensch sagen, ich habe kompletten Zugang zu dem Koran und verstehe, was alles drin steht. Wenn man ernsthaft inhaltlich sich mit dem Koran auseinandersetzen will, braucht man - und zwar nicht die modernarabische, sondern die koranarabische - also die altarabische Sprache, um wirklich verstehen zu können."
Der Koran erzählt keine stringenten Geschichten
Der Koran benutzt im Original eine komplizierte Sprache, auch der Aufbau ist nicht einfach zu verstehen, denn es wird nicht zusammenhängend erzählt. Somit ist seine Lektüre auch nicht mit der Lektüre der Bibel vergleichbar.
"Weil dieser Erzählstil, was dann so im Koran ist, ist anders als in der Bibel, dass dann diese Geschichten nicht zum Beispiel an einer Stelle und hintereinander in Form von einer abgeschlossenen Geschichte erzählt werden. Das heißt, wenn man zu Abraham etwas im Koran finden will, kann man nicht einen Abschnitt aufschlagen, Abraham, und liest man dann die ganze Geschichte von Anfang bis Ende, sondern man muss mithilfe der Konkordanz die Stellen über Abraham aus dem Koran herausholen, zusammensetzen und sich dann praktisch eine Geschichte aufbauen, die gestreut im Koran erzählt ist.
Das hat auch einen Grund, weil ja die Erzählungen im Koran sind ja nicht was ganz Neues, was ganz Anderes, sondern der Koran bezieht sich natürlich auf die vorherigen Bücher, auf die Tora und auf die Evangelien, und setzt voraus, dass dann die Geschichten den Menschen bekannt waren. Und dann nimmt man nur Stellen aus den Geschichten heraus, um eine Botschaft dann zu vermitteln. Daher ist es nicht die Intention vom Koran, Geschichten zu erzählen, sondern das setzt er voraus."
"Die göttliche Ruhe senkt sich auf einen herab"
Hinzu kommt: Der Koran war zunächst nicht als Text gedacht. Er ist vielmehr eine Ansammlung von situationsbedingten Offenbarungen, die aufgezeichnet wurden. Als Text wurde der Koran erst Jahrzehnte nach der ersten Offenbarung veröffentlicht. Und er ist in erster Linie ein Hörerlebnis: Seine Botschaft wird durch das Hören erfahrbar, denn Gott spricht zu den Menschen, so die muslimische Auffassung. Daher auch die Bedeutung des Wortes Koran im Arabischen: "Qur’an", das heißt: Rezitation. Und die Wirkung kann nur in arabischer Sprache erfolgen, um den spirituellen Effekt zu erzielen. Katajun Amirpur:
"Es geht darum, dass wenn man eine Koranrezitation hört, natürlich bevorzugt von einem wirklich guten Rezitator, dann empfindet man eine bestimmte Form von Ruhe: Sakina. Die göttliche Ruhe senkt sich auf einen herab, und man bekommt einen anderen Zugang zu seinem Schöpfer, und dann hat es eigentlich überhaupt keine Bedeutung, was jetzt wirklich im Text steht, sondern es geht darum, dass man sagen kann, das war einfach schön."
Und dazu ist es nicht unbedingt notwendig, dass man das Gehörte versteht. Die Wirkung entfaltet sich auch so – sogar bei Nichtmuslimen.
"Ich habe in meiner Zeit in Hamburg jedes Semester meine Studierenden mitgenommen in die Hamburger Imam-Ali-Moschee. Und dort hat man einen wunderbaren Koranrezitator, der einfach nur den Text gelesen hat. Natürlich haben meine Studierenden nicht verstanden, was da gesagt wurde, also was der wirkliche Inhalt des Textes ist, aber sie haben ein Gespür dafür entwickelt, was das für ein spiritueller Moment ist."
Eine Wiederholung der Offenbarung
Dennoch lesen viele Muslime im Koran, ohne ihn zu verstehen. Was bringt ihnen dann die Lektüre? Der Theologe Serdar Kurnaz von der Freien Universität Berlin erklärt:
"Das ist einmal eine spirituelle Situation, dass man das rezitiert, was der Prophet Mohammed von Gott erhalten hat und verkündet hat, also man spielt quasi die Offenbarungssituation immer wieder für sich selbst durch und erlebt sozusagen die Offenbarungssituation. Das macht ja auch mit den Muslimen etwas, das zu hören und selbst zu rezitieren im originalen Wortlaut."
Und so sieht man immer wieder Muslime, die im Koran lesen, zum Beispiel in den Moscheen. Es sind oft ältere Männer, die auf dem Boden sitzend die Zeit damit verbringen, den Koran halblaut zu rezitieren.
"Vor allem in der älteren Generation, die haben gar nicht den Anspruch, den Koran zu verstehen, das liegt denen gar nicht nahe. Also, die haben nur den Anspruch, man versteht den Koran dann so, dass man sagt, ich rezitiere jetzt den Koran, weil der Prophet gesagt hat, man sollte jeden Tag eine Seite lesen, das tue ich auch, ich bekomme für jeden Buchstaben einen jenseitigen Lohn. Das interessiert sie. Und es interessiert sie, dass sie überhaupt das Gotteswort lesen und das Gotteswort erfahren, obwohl sie das nicht verstehen. Das ist ein ganz anderer Zugang zum Koran, als das, was wir heute haben. Also, wir haben eher einen intellektuellen Zugang, sie haben eher einen spirituellen Zugang."
Auch Imame sind keine vollkommenen Exegeten
Und daneben existieren auch immer wieder besondere Anlässe für Muslime, im Koran zu lesen, wie eine Muslimin erzählt:
"Das ist eigentlich situationsabhängig. Manchmal macht man sich das einfach zur Routine, wie man das mehr oder weniger aus der Kindheit von den eigenen Eltern kennt, und dann wiederum gibt es Anlässe wie das Freitagsgebet, wo das einfach nochmal mit eingebunden wird oder andere besondere Anlässe wie zu Ramadan oder zu den Id-Feiern."
Doch wie können Muslime den Koran dann verstehen lernen? Hier sind vor allem die muslimischen Geistlichen gefragt - Serdar Kurnaz:
"Wenn sie entsprechend Koranexegese studiert haben und Theologie studiert haben, auch Arabisch beherrschen, wären das auch zum Beispiel auch Imame, die diese Aufgabe übernehmen können, neben den ausgewiesenen Koranexegeten oder Theologen, die sich mit der Koranexegese befassen. Weil die Imame ja auch den Draht zu der Gemeinde direkt haben, müssen sie auch eine gewisse Ausbildung genießen, um auch mit solchen Passagen umzugehen und diese Komplexität wiedergeben zu können."
"Das Altertümliche ist das Schöne an dem Ganzen"
In der islamischen Welt, aber auch in Deutschland, gibt es die sogenannten Koranschulen. Wird dort die Lektüre des Korans vermittelt? Der Theologe Serdar Kurnaz schränkt ein:
"Man lernt nur, das auf Arabisch korrekt zu rezitieren und die Buchstaben, die im Arabischen sind, korrekt zu sprechen. Und was man auch lernt ist, dass man den Koran auf eine schöne Art und Weise mit einer Melodie rezitieren kann."
Der Koran ist ein komplizierter Text im Original. Doch es gibt auch Übersetzungen, in Dutzenden von Sprachen. Könnte man diese nicht benutzen, um den Koran zu verstehen? Denn: Die Bibel wird ja auch nicht mehr in ihrer Ursprache gelesen, sondern ist übersetzt worden. Ja, so Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur, aber die spirituelle Wirkung entfalte sich nur im Original
"Das wäre theoretisch möglich, aber ich würde es nicht vorschlagen. Genau dieses Altertümliche ist ja das Schöne an dem Ganzen. Und es ist wirklich ein tolles spirituelles Erlebnis, wenn man den Koran hört. Und diese Form des spirituellen Erlebens geht nur, wenn man das Arabische beibehält, was der Koran nun mal hat."
Es hilft nichts: Am Ende müssen die Muslime die Sprache des Koran lernen, um ihn zu verstehen.