Christiane Florin: Terror, Frauenbild, Burka, Kopftuch - das waren Themen dieses Jahres, auch in "Tag für Tag" wie Sie in der Stimmencollage hören konnten. Die Sendung von heute soll eine "Islambilanz" des Jahres sein. Ziehen möchte ich diese Bilanz gemeinsam mit dem Isalmwissenschaftler und Juristen Mathias Rohe. Er lehrt an der Universität Erlangen, vor wenigen Wochen ist sein Buch "Der Islam in Deutschland" erschienen, eine fundierte Bestandsaufnahme.
Herr Rohe, das Jahr 2016 begann mit "Köln", der Name der Stadt steht seitdem für die Kölner Silvesternacht. Es folgte eine Debatte um das Frauenbild nordafrikanischer Männer. Auch nach der Vergewaltigung der Freiburger Studentin brach eine ähnliche Debatte los. Eine Boulevardzeitung titelte: "Ist das Frauenbild von Flüchtlingen ein Problem". Müssen wir über das Frauenbild reden und wenn ja, wie?
Mathias Rohe: Wir müssen sicherlich darüber reden. Das Frauenbild, das Geschlechterbild ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Aber es ist natürlich insbesondere ein Thema für Menschen, die in patriarchalischen Strukturen groß geworden sind. Das gilt nicht für alle Flüchtlinge, aber das gilt für viele. Und das Patriarchat, diese patriarchalische Geschlechterrollen-Zuschreibung scheint mir die eigentliche Wurzel des Übels zu sein. Das müssen wir angehen. Was wir auch noch auch noch wissen und was ich aus meiner jahrzehntelangen Erfahrung aus Orient-Aufenthalten weiß, ist, dass das Bild von europäischen Frauen bei vielen so eindimensional ist, wie das Bild von Muslimen bei vielen in unserem Lande. Das heißt, es gibt die Vorstellung: "Naja – leicht zu haben, allzeit bereit." Menschen kommen zu uns, die eine strenge Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit kennen und sehen nun, dass wir es hier ganz anders haben. Über deren Geschlechterbild müssen wir sicherlich reden, vor allem müssen wir vermitteln, warum es bei uns so ist und dass wir einfordern, dass es auch so bleiben kann.
"Alle Religionen und Weltanschauungen haben ihr Gewalt- und Problempotenzial"
Florin: Was hat das Geschlechterbild mit der Religion zu tun?
Rohe: Das Geschlechterbild rührt vor allen aus patriarchalischen Lebensstrukturen. Die Religion ist nicht die primäre Ursache. Aber Religion kann natürlich unterstützend wirken, ein solches Bild zu untermauern oder auch gerade das Gegenteil bewirken – je nach Lesart. Was wir wissen, ist, dass dieses patriarchalische Bild von verschiedensten Religionen unterstützt wird – also nicht nur vom Islam, auch vom Hinduismus, auch von Ausprägungen des Christentums. Es kommt wirklich, wie Herr Khorchide es (in der Stimmencollage) formuliert hat, auf die Auslegung an.
Florin: Religion macht nicht die gesamte Identität eines Menschen aus. Niemand würde sich ausschließlich über seine Religion beschreiben. Es hängt immer vom Kontext ab, in dem man gefragt wird. Warum ist das bei Muslimen anders? Warum definieren "wir" Muslime hauptsächlich über ihre Religion?
Rohe: Ich denke, das ist eine direkte Folge von 09/11. Diese Attentate in den USA haben – das können wir belegen aus wissenschaftlichen Untersuchungen – aus den früheren Ausländern oder zum Teil auch Türken oder Arabern Muslime gemacht. Das heißt, seither wird alles, was vor allem auch mal schief läuft, der Religion der Betroffenen zugeschrieben. Das ist eine sehr, sehr fatale Entwicklung. Nun kann die Religion tatsächlich auch negativ wirken. Alle Religionen und Weltanschauungen haben ihr Gewalt- und Problempotenzial. Aber wenn wir nicht richtig diagnostizieren, woher die tatsächlichen Probleme rühren, dann werden wir auch nicht die richtigen Konsequenzen draus ziehen. Und das ist gerade im Hinblick auf den Islam ein Riesenproblem geworden, denn das, was das auf der Kölner Domplatte passiert ist, das ist definitiv unislamisch. Das haben auch alle gesagt. Übergriffe auf Frauen, so und in der Öffentlichkeit – ich kenne niemanden, auch im islamischen Spektrum, der so etwas gut heißen wird.
Florin: Woher rühren denn die Probleme?
Rohe: Wenn wir uns die Kölner Domplatte ansehen, nach allem, was man weiß, sind das vor allem Leute gewesen aus verwahrlosten sozialen Verhältnissen, die sich zum Teil schon jahrelang mit Kleinkriminalität durch Europa durchgeschlagen haben, die sich da zusammengeballt haben. Wir haben tatsächlich auch ein erhebliches Problem im Rhein- und Ruhrgebiet, dass da irgendwelche Groß-Clans sich solche Leute zu Nutze machen für systematische Diebstähle und Ähnliches mehr. Wenn Sie so ein Publikum haben und die habe womöglich noch was getrunken, dann kann genau das passieren, was da leider passiert ist.
Mit Offenheit gegen Verschwörungstheorien
Florin: Gerade innerhalb unseres Berufsstandes - unter Journalisten - stellt sich eine Frage immer wieder. Es war in Köln so, das ist aber auch in Freiburg so gewesen und auch in Berlin. Wann ist es richtig, die Nationalität und die Religionszugehörigkeit eines Verdächtigen zu nennen? Wie würden Sie da entscheiden?
Rohe: Das ist immer dann richtig, wenn diese Nationalität oder Religion maßgeblich zur Erklärung von Sachverhalten beiträgt.
Florin: Wann ist denn die Religion maßgeblich? Also wenn zum Beispiel ein katholischer Priester am Altar von einem Islamisten ermordet wird – da würden Sie sagen, ist die Religion beider maßgeblich?
Rohe: Aber sicherlich.
Florin: Und wann nicht?
Rohe: Wenn wir es zum Beispiel mit irgendwelchen kriminellen Groß-Clans zu tun haben oder Mitgliedern solcher Groß-Clans, die alle möglichen Verbrechen begehen und die dann intern zum Beispiel, wenn da was passiert ist, Zeugen bedrohen, Opfer unter Druck setzen oder ähnliches mehr. Das sind Probleme, die haben wir in Berlin, die haben wir in Bremen, die haben wir in Teilen des Ruhrgebiets und in anderen Städten, dann stellen wir in unseren wissenschaftlichen Untersuchungen fest, die Mechanismen, die da ablaufen, haben mit der Religion nichts, aber auch gar nichts zu tun, sondern mit irgendwelchen archaischen kulturellen Praktiken. Das ist zum Beispiel gründlich danebengegangen in den öffentlichen Debatten über solche Dinge.
"Ich lasse mich von diesen Ängsten nicht treiben"
Florin: Wenn wir es jetzt mal etwas pauschal betrachten: Würden Sie sagen, die Medien nennen zu früh Identitäten oder verschweigen die etwas?
Rohe: Insgesamt meine ich, es gibt eine sehr besonnene Linie in den Medien. Man kann immer an einzelnen Punkten streiten: Ist es wichtig. Bei diesem Mord in Freiburg ist die große Debatte entbrannt. Ich muss sagen, in dieser etwas aufgeheizten Atmosphäre würde ich eher dazu raten, im Zweifelsfall auch Dinge offen zu legen. Und vielleicht nur deshalb, weil man dann auch thematisieren kann oder die Frage aufwerfen kann: Ist es denn wirklich die Nationalität, ist es denn wirklich die Ethnie, ist es wirklich die Religion des Betreffenden, die hier den Ausschlag gegeben hat? Wenn wir das nicht erwähnen, dann kommen diese ganzen Verdachtsinstrumente und in den sozialen Netzen werden die wildesten Verschwörungstheorien verbreitet. Man kann da nur durch Offenheit gegen halten.
Florin: Wie schätzen Sie das Klima ein – ist es noch offen für Offenheit oder schon sehr vergiftet?
Rohe: Das Klima ist vor allem in hohem Maße angstbelastet. Die Nerven liegen blank. Und ehrlich gesagt, das ist bei mir natürlich auch nicht anders. Man ist schon ziemlich erschüttert über das, was da alles auf einen zugekommen ist in diesem Jahr. Aber umso wichtiger ist es, dass man das Hirn einschaltet und sagt, ich lasse mich von diesen Ängsten nicht treiben, das ist kein guter Ratgeber. Furcht ist klug. Da, wo Probleme real existieren, da müssen wir uns dem stellen. Und ich habe den Eindruck breitflächig in der Medienlandschaft auch seriös gearbeitet wird. Da gibt es manche Überspitzungen, manche Schnellschüsse – das ist so. Und es gibt auch einzelne Medien, die dazu strukturell neigen. Aber insgesamt habe ich schon den Eindruck, dass da sehr sachorientiert an die Sache rangegangen wird.
Florin: Kommen wir mal auf den Sommer zu sprechen. Da richteten sich alle Blicke auf ein Kleidungsstück – auf die Burka. "Ich bin burkaphob", sagte der CDU-Politiker Jens Spahn in einem Zeitungsinterview. Seine Partei hat reagiert und es gab eine große, auch eher nicht so sachlich geführte öffentliche Diskussion um Burka und Vollverschleierung. Nun sind Sie Jurist. Gehört zur offenen Gesellschaft das offene Gesicht?
"Zur Freiheit gehört auch, komisch sein zu dürfen"
Rohe: Wenn ich als Mitglied der Gesellschaft antworten darf, ja – selbstverständlich ist es eine Zumutung, wenn sich jemand im öffentlichen Raum verhüllt, außerhalb von Karnevalszeiten oder ähnlichen Dingen mehr. Als Jurist muss ich sagen, im öffentlichen Raum ist es zwar erwünscht, dass man sich begegnet, es ist erwünscht, dass man sich offen zeigt, aber rechtlich durchsetzbar ist das nicht in jedem Kontext. Zur Freiheit gehört auch, komisch sein zu dürfen, schräg sein zu dürfen, ekelhaft sein zu dürfen. Das soll man nicht sein, aber das Recht kann nicht erzwingen, dass die Menschen nett zueinander sind. Das heißt, wir brauchen gute Gründe, warum wir die Freiheit einschränken können und wollen. Das können wir in bestimmten Kontexten ohne weiteres tun: in Gerichtssälen, in Schulen, in Amtsstuben, in Universitäten. Aber im reinen öffentlichen Raum müssen wir eine ganze Menge aushalten, auch wenn er uns nicht gefällt.
Florin: Was ist das Ergebnis dieser Burka-Debatte?
Rohe: Ich fürchte, dass eines der Ergebnisse ist, dass wir uns am falschen Gegenstand festbeißen. Es ist ja schon recht und schön, wenn man solche Dinge klärt und zum Beispiel eben, dass das in Gerichtssälen nicht akzeptabel sein kann, dass man vielleicht auch entsprechende Gesetze schafft, um Klarheit zu schaffen. Aber ich habe den Eindruck, die Burka oder die Gesichtsverhüllung ist ja eigentlich ein Nikab, ist nicht gerade das drängendste Problem des Zusammenlebens in Deutschland. Deshalb sollte man da auch lieber den Ball flach halten und sich um die Probleme kümmern, die wirklich da sind.
Florin: Aber es scheint doch schwer zu sein, den Ball flach zu halten. Denn auch wenn es nicht so viele Frauen gibt, die vollverschleiert in Deutschland zu sehen sind: Die Erregung darüber ist doch besonders groß, weil diese Frauen das Sinnbild des Fremden sind.
Rohe: Das ist sicherlich so. Und deswegen ist es ja auch okay, dass man die Sache diskutiert. Ich muss auch sagen, ich fühle mich persönlich eigentlich negativ angesprochen durch ein solches unsinniges Kleidungsstück, denn das Geschlechterbild, das da dahinter steckt, ist ja eine reine Katastrophe. Also einmal die Vorstellung, dass Frauen nur geschützt sein können im öffentlichen Raum, wenn sie so etwas tragen. Das ist doch auch ein Affront gegenüber Männern, denen dann letztlich unterstellt wird: "Sobald ihr auch nur das Gesicht einer Frau seht, könnt ihr nicht mehr an euch halten." Und ich bin nach wie vor der Überzeugung, zwischen Männern und zwischen Böcken gibt es einen strukturellen Unterschied in jeder Altersgruppe.
Das Problem namens Wahabismus
Florin: Und da würden Sie aber auch sagen, das hat wenig mit der Religion zu tun, aber viel mit patriarchalen Strukturen - dieses Männerbild?
Rohe: Da kann schon mal beides zusammenkommen. Wenn man sich anguckt, wer dieses Kleidungsstück trägt: Zu erheblichen Teilen sind es Konvertitinnen, die wollen damit schon ihre neue Islamität zur Show stellen. Ist natürlich auch so eine Art Aufreger- und Protestkultur, damit kann man vieles relativ billig erreichen. Dann haben wir dieses Kleidungsstück vor allem ja auch auf der arabischen Halbinsel, in Saudi-Arabien. Das ist schon auch eine Wurzel religiösen Übels, wenn ich das so sagen darf. Denn dieser extrem intolerante Wahhabismus gegen andere Muslime, gegen Schiiten, gegen Mystiker, schon gleich gegen alle anderen Nicht-Muslime, das ist eine echte Bedrohung, Herausforderung im Zusammenleben. Genau dieser Wahabismus ist im Grunde auch der Träger solcher extremen patriarchalischen Vorstellungen.
Florin: Bei uns geht viel Post zum Thema Islam ein und meistens negative. Ich habe einige Hörer, die uns – dem Deutschlandfunk – eine zu islamfreundliche Berichterstattung vorbeworfen haben, darum gebeten, mir Fragen zu schicken, die ich Ihnen dann stelle. Ein Hörer bezieht sich auf Sure 9 Vers 5, darin heißt es: "Und wenn die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet, und ergreift sie und belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf." Jetzt fragt dieser Hörer: Woher nehmen Islamwissenschaftler die Vollmacht, die aktuelle Gültigkeit dieser und anderer zum Töten auffordernder Suren für obsolet zu erklären und woher nehmen Sie die Überzeugung, dass diese Beurteilung als allgemein verbindlich im Islam auch umgesetzt wird – einschließlich des Handeln der Akteure? Darin steckt wohl der Vorwurf, dass Sie da was schön reden.
Rohe: Diesen Vorwurf kann man klar zurückweisen. Es liegt alleine in der Hand von Musliminnen und Muslimen, ihre Schrift, ihre Heilige Bezugsschrift, auszulegen – nach dem Motto: Wie soll man der eigentlich folgen oder nicht? Einen Wissenschaftler ist es nicht aufgegeben, dazu Stellung zu nehmen, aber sehr wohl sich anzuschauen, was sagen eigentlich muslimische Menschen zu diesen Versen, wie interpretieren sie die - in der Vergangenheit, in der Gegenwart. Dazu können wir eine ganze Menge sagen. Zum Beispiel eben, wenn hier von den Götzendienern die Rede ist, dass es eine sehr breite Überzeugung gibt, dass das die heidnischen Mekkaner sind, die da gemeint wären, die in kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dieser sehr neuen, jungen entstehenden islamischen Gemeinde in Medina standen. Die sind nun alle tot. Diese mekkanischen Götzendiener gibt es nicht mehr. Also wird man sagen können, mit den allermeisten Muslimen, die diesen Vers so lesen, das steht zwar noch in der Heiligen Bezugsschrift, aber das hat sich historisch erledigt, so wie manche Aussagen, die wir in der christlichen Bibel finden, etwa im 3. Buch Mose sich – Gott sei Dank – auch erledigt haben.
"Auf die Haltung der Gläubigen kommt es an"
Florin: Aber Terroristen berufen sich ja darauf – "tötet die Ungläubigen, wo immer ihr sie findet."
Rohe: Das ist wahr. Und deswegen halt ich auch gar nichts von dem Satz, das hat alles mit dem Islam nichts zu tun. Wer so etwas sagt, als Muslim, und will damit seine eigene Glaubensüberzeugung zum Ausdruck geben, dann schätze ich das sehr hoch ein. Das ist eine prima Aussage. Aber aus einer äußeren, objektiven Betrachtung muss man sagen, selbstverständlich berufen sich leider Terroristen der Gegenwart auf solche Koranstellen. Und es zeigt uns eben: Auch der Islam hat ein Gewaltpotenzial, wenn man das so liest, wie diese Leute das lesen wollen. Wo man sich dann die nächste Frage stellen muss: Wie kommen die eigentlich dazu, das so zu lesen? Wo haben sie dazu gelernt, wo nehmen sie das her? Nehmen sie das aus dem Internet? Sind das junge Leute in schwierigen Lebenssituationen, die sich da radikalisieren lassen? Sind es Verzweifelte, sind es Frustrierte? Sind es Leute, die indoktriniert werden, beispielsweise von irgendwelchen Medressen, die von reichen Golfstaaten finanziert werden und, und. Das sind viele Fragen, die wir angehen müssen.
Florin: Hörer interessiert auch immer wieder das Verhältnis zwischen Islam und Christentum. Auch ein katholischer Bischof hat es jüngst mal in einem Facebook-Beitrag angesprochen. Macht es nicht einen Unterschied, ob der Religionsgründer ein Gekreuzigter ist oder ein Feldherr, ob einer Gewaltlosigkeit predigt oder eben der andere Gewalt für ein gerechtfertigtes Mittel hält? Steckt nicht in der Figur des Religionsstifters schon eine Erklärung für die Neigung zur Gewalt?
Rohe: Die Figur des Religionsstifters ist sicherlich wichtig und man muss sagen, dass der Islam, dass islamische Theologie andere Herausforderungen hat als das Christentum. Das Christentum war nicht von vornherein eine politische Erfolgsgeschichte. Der Islam war es sehr wohl. Deswegen ist die wichtige Aufgabe auseinander zu sortieren, was in dieser Bezugszeit des 7. Jahrhunderts historisch mehr oder weniger zufällig und dieser Zeit geschuldet ist und was auch in dieser Zeit bleibt und dort bleiben muss und was die ewig gültigen religiösen Botschaften des Islam sind. Das ist wahrscheinlich eine schwierigere Aufgabe im Islam als im Christentum. Aber für das menschliche Zusammenleben – gerade auch hier und heute – ist es aus meiner Sicht überhaupt nicht wichtig, ob man die eine oder andere Formulierung in den Bezugsschriften hat, sondern alleine, was machen die Gläubigen draus. Das genau ist auch der Maßstab des Bundesverfassungsgerichts für die Prüfung von Rechtstreue und ähnlichem mehr. Wir finden auch im Christentum, wir finden auch im Judentum und in anderen Bezugsschriften Stellen, die wir mit dem Grundgesetz nicht in Übereinstimmung bringen können. Aber noch mal: Es kommt alleine auf die Haltung der Gläubigen an. Da glaube ich nicht, dass man sagen kann über die Weltgeschichte hinweg, der Islam hat sich gewalttätiger gezeigt als das Christentum. Die europäische Geschichte der Christenheit ist eine blutige Geschichte. Wir haben uns untereinander wahrscheinlich mehr umgebracht, als es jemals Tote gegeben hat zwischen den Religionen.
"Wir müssen aufpassen, dass wir nicht die friedliebenden Muslime in eine Ecke stellen"
Florin: Da würden natürlich diejenigen sagen, die sich auf die Gewaltfreiheit von Jesus berufen, naja – das war eben eine Perversion der Religion, wohin gegen es beim Islam keine Perversion ist, sondern schon in dem, was der Begründer gesagt hat, steckt.
Rohe: Ja, wenn wir in die Geschichte gucken: Meine Überzeugung als Christ ist es auch, dass es eine Perversion der Christentums ist, wenn man zur Gewalt aufruft. Aber wir haben doch in der Vergangenheit und zum Teil noch in der Gegenwart die Kanonen gesegnet im Namen Jesu Christi und Gottes. Ein amerikanischer Präsident hat mal zu einem Kreuzzug aufgerufen im Irak und ähnliche Dinge mehr. Ich glaube nicht, dass die Grundstruktur der Entstehung der Religionen hier maßgeblich wird für die Handhabung von Gläubigen.
Florin: Sondern, was die Gläubigen heute draus machen.
Rohe: So ist das.
Florin: Haben Sie Erkenntnisse darüber, was die Gläubigen heute draus machen?
Rohe: Wir haben jede Menge Erkenntnisse. Wir müssen an der Stelle auch unterscheiden zwischen den Vorkommnissen irgendwo in Asien, Afrika und hier bei uns in Deutschland oder in Europa. Wir haben ein problematisches Islambild auch deshalb, weil automatisch Islam assoziiert wird mit dem, was auf der arabischen Halbinsel passiert – im Iran oder sonst irgendwo. Wir müssen für unser Zusammenleben schauen: Was sind die Haltungen von Musliminnen und Muslimen hier und heute? Ich habe in meinem Buch alle seriösen Umfragen der letzten Jahre, fast schon Jahrzehnte ausgewertet im Hinblick auf Einstellungen zum Zusammenleben, zu anderen Religionen, zur Demokratie oder ähnlichem mehr und habe festgestellt, dass wir belastbare Zahlen haben, die uns sagen, die muslimische Bevölkerung ist genauso demokratie-verpflichtet. Auch die Hochreligiösen lassen die anderen gelten in ganz, ganz großer Mehrheit und sagen: "Die haben auch ihren Anteil an den Wahrheiten." Extremismus gibt es, der nimmt auch zu. Stichwort: gewalttätiger Salafismus und politischer Salafismus. Das müssen wir schon sehr genau im Auge behalten. Aber es sind im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sehr kleine Anteile. Und wir müssen aufpassen, dass wir nicht die gesamten friedliebenden Muslime hier in eine Ecke stellen und unter Generalverdacht stellen. Die Gefahr ist gerade sehr groß.
"Die Friedliebenden aller Religionen und Ethnien müssen zusammenhalten"
Florin: Berichten wir Medien zu wenig über friedliebende Muslime oder über den ganz normalen Alltag in muslimischen Familien?
Rohe: Ich glaube, das ist immer zu wenig, weil die guten Nachrichten – das wissen wir alle – geben nicht so viel her, sind weniger spektakulär als die schlechten Nachrichten. Wahrscheinlich ist es wirklich zu wenig. Es ist schon vieles gut gelungen. Das ist nicht nur meine Aussage, das ist die Aussage zweier Präsidenten des Bundesamts für Migration für Flüchtlinge, die sagen, wir haben wahrscheinlich auch in der Vergangenheit zu wenig kommuniziert, wie viel gutes Miteinander oder ordentliches Nebeneinander es schon gibt. Wir verlieren wirklich oft den Blick aufs Alltagsgeschehen. Wir wissen aus Umfragen beispielsweise, dass viele Menschen, wenn man sie fragt, ob sie Probleme mit muslimischen Nachbarn haben, am Arbeitsplatz oder sonst irgendwo, nur winzige Prozentzahlen das bejahen – also sagen: "Nö kein Problem, nette Leute, wir kommen gut klar." Dann kommt zum Schluss die abstrakte Frage: "Haben Sie Angst vor dem Islam? Haben Sie Angst, dass der Islam unsere Zukunft im Land negativ beeinflussen wird?" Da kriegen Sie Mehrheiten bis 80 Prozent. Es ist eine abstrakte Angst, die vor allem in den Köpfen derer ist, die am wenigsten Kontakt mit real existierenden Menschen muslimischen Glaubens haben.
Florin: Aber die doch bei Anschlägen sehr konkret wird, weil sich jeder vorstellt, es könnte mich auch erwischen.
Rohe: So ist es. Die Nerven liegen tatsächlich blank. Die Ängste sind Furcht, muss man leider sagen. Es ist so. Die Einschläge sind sehr nahe gekommen in diesem Jahr. Ich kann nur dazu raten: Wir müssen jetzt in der Mitte umso mehr zusammenhalten. Auch an dem Tag nach den Anschlägen in Würzburg, in Ansbach, wissen wir, dass muslimische Kinder weinend nach Hause gekommen sind aus der Schule, weil sie dort gemobbt wurden. Solche Sachen müssen wir verhindern. Wir müssen zusammenhalten, als die Friedliebenden, von allen Religionen und Ethnien und mehr. Das gelingt uns nur, wenn wir uns von diesen ganz abstrakten Ängsten lösen. Vielleicht sind die Briten da ein Vorbild. Die hatten den IRA Terror in den 70er Jahren. Man hat natürlich versucht, das mit Sicherheitsmaßnahmen zu bekämpfen. Aber sie haben sich die Grundlagen ihres Zusammenlebens nicht kaputt machen lassen. Genau daran müssen wir mehr denn je arbeiten.
Florin: Herr Rohe, herzlichen Dank für das Gespräch.
Rohe: Gerne, Frau Florin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mathias Rohe: "Der Islam in Deutschland"
C. H. Beck, München 2016. 416 Seiten, 16,95 Euro.
C. H. Beck, München 2016. 416 Seiten, 16,95 Euro.