Die Kämpfer des "Islamischen Staats" kamen wie aus dem Nichts. Völlig unerwartet für die Außenwelt brachten die Terroristen große Gebiete des Iraks und den Norden Syriens unter ihre Kontrolle, ermordeten alle, die sich ihnen in den Weg stellten. Erst mit der Ausrufung eines Kalifats durch Abu Bakr Al-Bagdadi gelangten die Islamisten ins Bewusstsein der Öffentlichkeit – und durch die Hinrichtung der US-Journalisten James Foley und Steven Sotloff im Sommer 2014. So jedenfalls wirkte es für viele Beobachter im Westen. Der Journalist und Autor Bruno Schirra erzählt eine andere Geschichte. Seit Jahrzehnten ist er im Nahen und Mittleren Osten unterwegs. Für sein Buch hat er den Irak bereist, Politiker und Terroristen interviewt, mit Menschen in Bagdad, Kerbela und Erbil gesprochen. Der Aufstieg der Terrorgruppe ISIS, die sich inzwischen nur noch IS nennt, sei vorhersehbar gewesen, meint Schirra. Abu Bakr Al-Baghdadi sei im Windschatten von Abu Musab al-Zarqawi groß geworden, dem ehemaligen Führer des Terrornetzwerks Al-Kaida im Irak. Doch diese Entwicklung habe kaum jemanden interessiert, schreibt Schirra.
"Der Westen hätte nach dem so euphorisch gefeierten 'arabischen Frühling' die Umwälzungen in den arabischen Ländern ab 2011 pragmatisch analysieren müssen, statt sie nur naiv zu bejubeln. Dass es in den arabischen Staaten ein großes Potenzial islamistischer Grundüberzeugungen gab und gibt, wurde ausgeblendet."
US-Abzug aus dem Irak ein Fehler
Schirra hält es für einen Fehler, dass die Amerikaner 2011 aus dem Irak abgezogen sind. Schon damals sei klar gewesen, dass der schiitische Ministerpräsident Nuri Al-Maliki die sunnitische Minderheit unterdrückte – ähnlich, wie Saddam Hussein früher mit den Schiiten umgegangen war. Diese Politik, meint Schirra, habe viele Sunniten in die Arme des Islamischen Staats getrieben.
"Kaum im Amt, setzte Nuri Al-Maliki seine scharfe, dezidiert antisunnitische Politik um. (...) Schiitische Todesschwadronen, die von Mitgliedern der iranischen Revolutionären Garden ausgebildet und ausgerüstet wurden, machten erbarmungslos Jagd auf Sunniten. (...) Unzählige Menschen verschwanden spurlos."
Unter Nuri Al-Maliki wurden die Sunniten im Irak systematisch von der Herrschaft ausgeschlossen. Für sie waren die Terroristen des Islamischen Staates deshalb oft das kleinere Übel. Schiiten gegen Sunniten – ein Nährboden für den Islamischen Staat. Die große Stärke von Schirras Buch liegt darin, dass er die geopolitischen Konfliktlinien nachzeichnet, ohne den Blick fürs Detail zu verlieren. Den Aufstieg von ISIS erklärt er mit dem Kampf des überwiegend sunnitischen Saudi-Arabien mit dem schiitischen Regime im Iran um die Vorherrschaft am Persischen Golf. Parallel dazu beschreibt Schirra aber, wie der Bürgerkrieg in Syrien, die Politik der türkischen Regierung und die abwartende Haltung von Europäischer Union und USA den Vormarsch der IS-Terroristen begünstigten – nicht zuletzt den Kampf um die syrische Grenzstadt Kobane.
Ausmaß der Verbrechen unvorstellbar groß
"Kobane ist zum Synonym geworden. Für die Hilflosigkeit der USA, des Westens, der Europäischen Gemeinschaft angesichts einer Gefahr, die direkt und unmittelbar gegen die Gesamtheit des Westens gerichtet ist. Der Westen war 2014 nicht in der Lage – weder militärisch noch politisch – dieser Gefahr entschlossen entgegenzutreten. Allein schon das kann ISIS für sich als Sieg reklamieren."
Um das Phänomen ISIS zu erklären, holt Schirra weit aus. Er blickt zurück in das vergangene Jahrhundert, umreißt die komplizierte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens, erklärt die politische Entwicklung in Afghanistan und Pakistan und analysiert die Geschehnisse seit Beginn des sogenannten arabischen Frühlings. Die große Linie ergänzt der Autor durch eigene Beobachtungen, die er bei seinen Reisen durch den Nahen Osten gemacht hat. Mehrmals war Schirra im Irak, auch im Herbst 2014. Er wurde Zeuge von Grausamkeiten, die IS-Anhänger begangen haben, und hat mit zahlreichen Opfern gesprochen. Sein Buch lässt keinen Zweifel daran, dass das Ausmaß der Verbrechen unvorstellbar groß ist.
"Als wir an diesem Sommertag in Tikrit ankamen, konnten wir den bestialischen Gestank des Todes, den Geruch des Blutes riechen, was kein Wunder war, denn überall lagen die zerfetzten Leiber der Gemarterten und verrotteten in der Wüstenhitze."
Warnung vor Anschlägen in Europa
Das Buch profitiert davon, dass der Autor den Irak schon seit Langem kennt und auf frühere Begegnungen und Beobachtungen zurückgreifen kann. Seine Berichte aus dem terrorisierten Land gewinnen dadurch an Tiefe. Schirra schreibt klar und verständlich, ohne die komplizierten Zusammenhänge in der umkämpften Region zu vereinfachen. Dass er das Buch schnell geschrieben hat, macht sich stellenweise sprachlich bemerkbar. Dafür ist es hochaktuell: Schirra warnt etwa vor terroristischen Anschlägen in Europa – ausgeführt von Rückkehrern, die im Irak und in Syrien für den "Islamischen Staat" oder Al-Kaida gekämpft haben oder sich von Bildern und Videos aus Syrien oder dem Irak radikalisieren lassen.
"Wir haben bisher ganz einfach nur Glück gehabt", zitiert der Autor einen Geheimdienstbeamten. "Sieht man von Madrid ab, sieht man von Frankfurt ab, sieht man von Toulouse ab, von Brüssel und von London. Alles Orte, an denen der Dschihad mitten in Europa schon zugeschlagen hat. Erinnert sich noch irgendwer daran? Nein. Aber das war erst der Anfang."
Der jüngste Anschlag in Paris oder auch das Attentat auf das Jüdische Museum in Brüssel wirken wie eine Bestätigung dieser Worte. Schirra hat ein Buch geschrieben, das sich wie ein Krimi liest, aber die Wirklichkeit beschreibt. Seine gründlichen Recherchen gewähren Einblick in die Untiefen des Islamischen Staates – und in das, was Europa möglicherweise noch bevorsteht.
Bruno Schirra: "ISIS – der globale Dschihad. Wie der Islamische Staat den Terror nach Europa trägt", Econ Verlag, 336 Seiten, 18 Euro.