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Islamischer Staat
Im Dschihad die Nummer eins

Die Terrororganisation Islamischer Staat hat in Sachen Heiliger Krieg Al Kaida längt überholt. Ein Großteil dieses Erfolgs bestehe in der hohen Medienkompetenz und staatsähnlichen Verwaltungsstruktur des Netzwerks, so der Journalist Abdel Bari Atwan in seinem Buch "Das digitale Kalifat".

Von Jan Kuhlmann |
    Eine junge Frau schaut in Köln auf einen Computermonitor, auf dem einer Website mit Propaganda des IS zu sehen ist.
    Bedeutsamer Teil des IS-Systems: eine präzise Medienstrategie (dpa-Bildfunk / Oliver Berg)
    Die sunnitische Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hält die Welt in Schrecken. Die Extremisten haben große Teile des Iraks und Syriens in ihre Gewalt gebracht - und für den arabischen Journalisten Abdel Bari Atwan gibt es keinen Zweifel, dass dieses Gebilde quasi ein Staat ist. Jahrelang galt das Terrornetzwerk Al Kaida im globalen Dschihad als die unbestrittene Nummer eins. Doch längst hat der IS seinem Konkurrenten den Rang abgelaufen. In vielerlei Hinsicht ist die Terrormiliz in neue Dimensionen vorgestoßen. Etwa im Umgang mit den Internetmedien. Ohne digitale Technik, so Atwan, wäre der IS niemals entstanden.
    "Jede 'Provinz' hat eine eigene Medienabteilung und hingebungsvolle Reporterteams, wodurch ein einheitlicher 'Nachrichtendienst' entsteht, der mindestens 38 Artikel am Tag produziert, darunter Video-Aufnahmen von Anschlägen, Hinrichtungen, Dokumentationen und Predigten. Diese Hochglanzproduktionen im Stile Hollywoods werden immer ausgeklügelter (…) und sind mittlerweile in vielen Sprachen erhältlich, von Schwedisch bis Bengali."
    AL Kaida gleich alt, IS gleich jung
    Atwan bezeichnet das IS-Reich deswegen als "digitales Kalifat". Der palästinensische Journalist Atwan gehört zu den bekanntesten Gesichtern der arabischen Medienszene. Über Jahre leitete er eine in London ansässige panarabische Tageszeitung. Lange schon beschäftigt er sich mit dem internationalen Dschihad – dem Kampf muslimischer Extremisten gegen alle, die sie als Ungläubige ansehen. Für Atwan ist der IS auch das Ergebnis eines Generationenkonfliktes innerhalb der globalen Dschihad-Szene. Die alte Generation, sie wird von Al Kaida verkörpert, die junge vom IS.
    "2009 tauchten jüngere und noch radikalere dschihadistische Gruppierungen auf, die eine Reihe von Rekruten (…) anzogen, für die der 11. September 2001 schon lange Geschichte war. Der Islamische Staat entstand aus dieser neuen Welle. Am anderen Ende des Spektrums befanden sich die zunehmend schwerfälligen 'afghanischen Araber', die bei Al Kaida und ihren Zweigen weiterhin in den Führungspositionen saßen und nach wie vor den Respekt und die Loyalität der Kader genossen."
    IS-Chef al-Bagdadi: mythischer Anführer
    Personifiziert wird dieser Gegensatz von den beiden Anführern der Terrorgruppen. An der Spitze von Al Kaida steht Osama bin Ladens Nachfolger Aiman al-Zawahiri – der die Dschihad-Gemeinde vor allem mit spröden Reden langweilt. IS-Chef Abu Bakr al-Bagdadi dagegen tritt nur selten auf – und ist so für seine Anhänger zu einem mythischen Anführer aufgestiegen. Für Atwan ist er:
    "(...) ein ruhiger und frommer Mann, der aber mit größter Berechnung brutalste Gewalt einsetzt; ein gerissener und kluger Militärstratege; ein Gelehrter der alten Schriften und des alten Rechts; ein überzeugender Redner und Prediger, der die Öffentlichkeit bewusst meidet und dadurch nur an Charisma gewinnt; und ein aufmerksamer Manipulator von Stammesloyalitäten, der nicht davor zurückschreckt, andere vom Thron zu stürzen, um ihn selbst zu besteigen."
    Ausgefeilte Organisationsstruktur
    Doch al-Bagdadis Charisma allein hat den IS nicht so groß gemacht. Die Terrororganisation konnte nur durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren aufsteigen. Bei ihr vereinen sich digitale Expertise und charismatische Führerschaft mit militärischem Wissen. Dieses stammt aus alten Militärkadern des Iraks, allesamt Sunniten, die sich von der schiitischen Mehrheit in ihrem Land diskriminiert sehen. Daneben hat der IS eine ausgefeilte Organisationsstruktur aufgebaut. Die Beschreibung der IS-Verwaltung gehört zu den interessantesten Teilen des Buches. Militär, Bildung, Wirtschaft, Dienstleistungen – für alle wichtigen Felder gibt es eigene Räte, erklärt Atwan:
    "Alle Berichterstatter stimmen darin überein, dass dieses hohe Niveau bürokratischer Abläufe und bürokratischer Rechenschaftspflicht auf ein großes, gut organisiertes Staatsgebilde hinweist."
    "Botschaft aus Blut"
    Dabei gibt die IS-Führung die Richtung vor – lässt ihren lokalen Anführern jedoch die Freiheit, diese umzusetzen. Dass sie dabei extreme Gewalt einsetzen, gehört laut Atwan zur Strategie der Terrormiliz. Die äußerste Brutalität sei eine "systematisch angewandte politische Kampagne", schreibt der Journalist.
    "Für den Islamischen Staat sind Gräueltaten eine bewusst hinterlassene 'Botschaft aus Blut', um an dieser Stelle einmal den Titel aufzugreifen, den die IS-Medienorganisation Al-Hayat im Oktober 2014 für ein grausames Video wählte, das die Ermordung kurdischer Kämpfer zeigt. Es handelt sich dabei um 'Propaganda durch die Tat', denn je abscheulicher die Tat, desto stärker die Wirkung (und die weltweite Berichterstattung darüber)."
    Kritik der US-Politik und Saudi-Arabiens
    So gelingt es dem IS auch, weltweit junge Männer und Frauen als neue Anhänger zu gewinnen, oft aus dem Westen. Nicht zuletzt Diskriminierungserfahrungen treiben sie laut Atwan in die Arme der Dschihadisten. Aber auch an der US-Politik in der islamischen Welt lässt Atwan kein gutes Haar – ebenso wenig an Saudi-Arabien. Seit Jahren verbreitet das Königreich mit den Petrodollars weltweit seine rigide Lesart des Islams – eine Saat, die vielerorts als Terror aufgeht. Atwan ist ein interessantes und lesenswertes Porträt der Terrormiliz gelungen. Ärgerlich sind einige Fehler, etwa bei Daten und Namen. Manche wichtige Punkte führt Atwan zudem nicht weiter aus. So fordert er ausländische Bodentruppen gegen den IS – lässt aber offen, wie er sich das konkret vorstellt. Mit ausländischen Militärinterventionen jedenfalls hat die Region kaum gute Erfahrungen gemacht. In einem Punkt aber liegt Atwan völlig richtig. Der IS wird die Welt noch lange beschäftigen:
    "Der Islamische Staat wird sich nicht einfach in Luft auflösen, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Entsprungen den stürmischen Zeiten besonderer historischer Umstände, hat die Organisation inzwischen Wurzeln geschlagen – geografische, ideologische und politische Wurzeln, die sich nicht mehr so einfach ausreißen lassen."
    Atwan hält es dabei sogar für möglich, dass sich der IS und Al-Kaida wieder annähern. Schon jetzt sieht er eine große Nähe zwischen dem IS und regionalen Al Kaida-Gruppen. So ist er der Meinung, dass der Angriff auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen Supermarkt für koschere Lebensmittel in Paris im Januar 2015 eine gemeinsame Aktion des IS und des Al Kaida-Ablegers im Jemen war. Sollten die beiden Organisationen miteinander verschmelzen, warnt Atwan, wäre das äußerst gefährlich.
    Abdel Bari Atwan: "Das digitale Kalifat. Die geheime Macht des Islamischen Staates"
    C. H. Beck, München 2016. 299 Seiten, 16,95 Euro.