Vor dem Hintergrund des wieder aufgeflammten Nahostkonflikts gibt es große Sorgen, dass der Islamismus in Deutschland erneut Auftrieb erhält. Der Verfassungsschutz sieht eine akute Gefahr für islamistische Anschläge. Im dschihadistischen Spektrum gebe es Aufrufe zu Attentaten, erklärte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang Ende November. Auch anderweitig ist die islamistische Szene aktiv, Experten beobachten ein Erstarken in Deutschland. Wie sie sich wieder zeigt und wie gefährlich sie ist – die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie groß ist die Gefahr von islamistischen Anschlägen in Deutschland?
Warnungen vor möglichen islamistischen Anschlägen in Deutschland kommen inzwischen aus Sicherheitskreisen, von Wissenschaftlern und aus der Politik. Laut Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang hat das Anschlagsrisiko "eine neue Qualität" erreicht: "Die Gefahr ist real und so hoch wie seit langem nicht mehr." Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) äußerte sich ähnlich: "Islamistische Terrororganisationen, aber auch islamistische Einzeltäter sind eine jederzeit bestehende, erhebliche Gefahr", sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Mehrmals mussten die Sicherheitsbehörden inzwischen eingreifen. In Nordrhein-Westfalen und Brandenburg wurden zwei Jugendliche im Alter von 15 und 16 Jahren festgenommen, die einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Leverkusen geplant haben sollen. Zudem wurde ein 20-Jähriger in der niedersächsischen Gemeinde Helmstedt in Gewahrsam genommen: Laut Landeskriminalamt hatte die Polizei Hinweise erhalten, wonach der Verdächtige eine schwere Gewalttat ausführen wollte.
Kampferfahrung in Syrien gesammelt
Bereits Ende Oktober war ein deutscher Islamist verhaftet worden, weil er einen Anschlag auf eine proisraelische Demonstration geplant haben soll. Der 29-Jährige war mehrere Jahre in Syrien und sammelte Kampferfahrung bei der Terrorgruppe des sogenannten Islamischen Staats.
Der Terrorismusexperte Peter Neumann ist beunruhigt: "Die Frage ist nicht, ob etwas passiert, sondern wann." Er sieht "wieder deutlich mehr Aktivität" in der islamistischen Szene. Wenn der Krieg in Nahost noch länger dauere, könnte "ein neuer Zyklus“ beginnen, denn es seien genug alte Islamisten da, um die Ideologie an junge Menschen weiterzugeben, betont er.
Deutschlandweite Razzien
Das Bundeskriminalamtes (BKA) stuft derzeit 487 Islamisten als „Gefährder“ ein. Von diesen seien 90 in Deutschland inhaftiert, 216 auf freiem Fuß und 181 im Ausland.
Die Sicherheitsbehörden gehen gegen Islamisten auch mit Razzien vor. So gab es am 23. November deutschlandweit 15 Durchsuchungen, 11 davon in Berlin. Sie richteten sich gegen die seit Anfang November in Deutschland verbotene palästinensische Terrororganisation Hamas und den palästinensischen Verein Samidoun. Eine Woche zuvor hatte es bereits eine Großrazzia in sieben Bundesländern gegeben, die sich gegen das "Islamische Zentrum Hamburg" (IZH) und mögliche Teilorganisationen richtete. Dabei wurde auch die bekannte Blaue Moschee in Hamburg durchsucht.
Welche Rolle spielt der Nahostkonflikt für islamistische Kreise in Deutschland?
Im Nahostkonflikt sehen Islamisten in Deutschland eine Möglichkeit, wieder sichtbarer zu werden und für sich zu werben. Eigentlich sei der Konflikt in der islamistischen Szene vor der Terrorattacke der Hamas kaum noch präsent gewesen, sagt die Arabistin Claudia Dantschke von der Deradikalisierungsstelle "Grüner Vogel" in Berlin. Doch das ist nun anders. Seit den Gräueltaten der Hamas in Israel und der militärischen Reaktion Israels im Gazastreifen sind die Botschaften der Islamisten stark antisemitisch geprägt.
So spielt die Beschwörung der Umma - die Gemeinschaft der gläubigen Muslime - in der islamistischen Internetpropaganda nun eine große Rolle. „Die islamische Umma soll sich über den gemeinsamen Kampf gegen die Juden und Zionisten vereinen“, beschreibt Kim Robin Stoller, Vorsitzende des Internationalen Instituts für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung, die Zielrichtung der Islamisten.
Auch im dschihadistischen Spektrum ist laut Verfassungsschutz ein "Andocken'" an den Nahostkonflikt zu beobachten: Hierbei geht es um die Extremistengruppen al-Kaida und Islamischer Staat (IS).
"Diese Gefahr trifft nun auf hoch emotionalisierte, durch Trigger-Ereignisse inspirierte Personen", warnt Behördenchef Haldenwang. "Dies kann zur Radikalisierung von allein handelnden Tätern führen, die 'weiche Ziele' mit einfachen Tatmitteln angreifen."
Wie versuchen Islamisten derzeit, Menschen von ihrer Sache zu überzeugen und zu mobilisieren?
Anfang November zeigten sich Islamisten in Essen auf einer Demonstration für die Rechte der Palästinenser und forderten ein Kalifat. Auf der Demonstration aufgenommene Videos zeigen Fahnen, die Hizb ut-Tahrir zugeordnet werden: eine Organisation, die bereits 2003 in Deutschland verboten wurde. Laut Verfassungsschutz will sie den Staat Israel vernichten. Gegen einen Redner auf der Demonstration wird wegen Volksverhetzung ermittelt.
Propalästinensische Demonstrationen seien teils antisemitisch, teils israelfeindlich oder auch nur israelkritisch, aber in der Regel sehr emotionalisiert und parteiisch, sagt die Arabistin Claudia Dantschke. Für Islamisten sei das eine willkommene Gelegenheit, die aufgeheizte Stimmung und das Mitfühlen mit den Leidenden im Gazastreifen aufzugreifen und für sich zu instrumentalisieren. So könnten sie nun auch Menschen beeinflussen, die bisher nicht für sie erreichbar gewesen seien.
Neben den Demonstrationen nutzen Islamisten wie andere Extremisten auch die sozialen Medien, um für ihre Sache zu werben. Besonders schlimm sei es auf TikTok, betont Dantschke. Durch den dortigen Algorithmus würden sich Nutzer nur noch in einer Blase bewegen und immer weiter reingezogen.
Einfache emotionale Botschaften
Sachverhalte werden ihrer Komplexität beraubt und auf einfache emotionale Botschaften heruntergebrochen: „Da ist eine Radikalisierung relativ schnell möglich.“ Auf TikTok fand unter anderem eine zwei Jahrzehnte alte Botschaft des ehemaligen al-Kaida-Anführers Osama bin Laden Verbreitung, die auf die heutige Situation in Nahost übertragen wurde. Bin Laden verurteilt darin die Unterstützung der USA für Israel und nennt diese als Grund für die Anschläge vom 11. September 2001.
Die Mobilisierung für die islamistische Sache findet Claudia Dantschke zufolge teilweise auch an Schulen statt. „Viele Jugendliche radikalisieren sich durch Bekannte, Freunde, Verwandte, die Peergroup“, sagt die Expertin. Der Pädagoge Burak Yilmaz warnt zudem vor islamistischen Influencern, die auch zu Demonstrationen aufrufen: „Da sind zum Beispiel islamistische Imame, die dann zu Jugendlichen sagen: ‚Wenn ihr Muslime seid, dann geht ihr auf diese Demos, und dann verteufelt ihr Israel‘.“ Damit werde die muslimische Identität an den politischen Konflikt angebunden.
Grenzen sich Muslime genug von Islamisten ab?
Seit dem Terrorangriff auf Israel vom 7. Oktober kommt es auch auf deutschen Straßen immer wieder zu Demonstrationen von Palästinensern und Unterstützern, bei denen auch die islamistische Hamas bejubelt wird. Deswegen rückte das Thema Antisemitismus in den Mittelpunkt der diesjährigen Deutschen Islamkonferenz. Bundesinnenministerin Faeser forderte dort von muslimischen Verbänden ein deutlicheres Bekenntnis gegen Judenhass. Sie appellierte an die großen Islamverbände, den Kampf gegen Antisemitismus noch sichtbarer voranzutreiben.
Gegen Terror und Antisemitismus
Es reiche nicht, eine Synagoge zu besuchen und sich dort gegen Terror und Antisemitismus zu stellen, ohne dies auch in Moscheen oder den eigenen Social-Media-Kanälen zu kommunizieren, sagte Faeser. Der Zentralrat der Muslime hatte einen Tag nach dem Blutbad der Hamas in Israel von „Kampfhandlungen“ gesprochen und „alle Seiten“ aufgefordert, diese einzustellen.
Die Arabistin Dantschke sieht vor allem ein gesamtgesellschaftliches Problem. Antisemitismus gebe es nicht nur bei Menschen mit muslimischem Hintergrund, er gehe quer durch die Gesellschaft, betont sie. Dantschke verweist auf die Diskussion über die Wähler der AfD: Diese stimmten zum Teil für eine rechtsextreme Partei, obwohl sie selbst nicht rechtsextrem seien.
Analog dazu gebe es Migranten, die sich in einer „emotionalisierten Situation“ antisemitisch äußerten und mit Islamisten auf die Straße gingen. Man müsse hier „an die Wurzel, an das Hauptproblem ran“, sagt die Arabistin - und eine Antwort darauf finden, warum antisemitische Stereotypen ständig wiederholt und nicht hinterfragt würden.