Christoph Heinemann: Die Schriftstellerin Gila Lustiger hat gestern an einer Demonstration auf der Pariser Place de la République teilgenommen. Mein Kollege Jasper Barenberg hat sie gefragt, ob sie den Eindruck hatte, dass ihre Landsleute der Aufforderung des Präsidenten nach einem Schulterschluss gefolgt sind.
Gila Lustiger: Ich war nach dem Place de la République in den Vierteln, in denen es einen Hauptanteil von Moslems gibt, und ich denke nicht, dass die Moslems in Barbes zum Beispiel dieses Attentat befürworten. Aber auf der Place de la République hatten alle Schilder, "Je suis Charlie", "Ich bin Charlie", um einfach zu sagen, dass man mit diesem Attentat die Meinungsfreiheit und Frankreich und die Demokratie angreift, und diese Schilder habe ich dort nicht gesehen und ich glaube, ich habe sie dort nicht gesehen, weil die Moslems Angst haben. Sie haben Angst vor den Islamisten und es wird sich jetzt entscheiden, in den nächsten Tagen - in den nächsten Tagen gibt es Massendemonstrationen -, ob auch Moslems mitmarschieren, und sie müssen es tun. Sonst hat Marine Le Pen - wir haben ja das Problem, dass wir hier Rechtsradikale haben, die immer mehr Stimmen gewinnen, und wenn die Moslems in Frankreich jetzt nicht auf die Straße gehen und sich solidarisieren mit der Demokratie und mit Frankreich und mit den Werten Frankreichs und weiterhin Angst haben vor den Salafisten, Dschihadisten, wenn sie sich jetzt nicht mit dem Staat solidarisieren, kriegt Marine Le Pen noch eine Riesenwählerschaft. Das ist das Drama und die Gefahr in Frankreich.
Jasper Barenberg: Und da haben Sie durchaus Sorgen, dass genau das passieren wird, dass die Gesellschaft auseinanderdriften wird, weiter auseinanderdriften wird möglicherweise?
Lustiger: Ja, natürlich! - Natürlich! - Natürlich! Das ist die Gefahr hier.
"Diese Männer sind eine Gefahr für die Demokratie"
Barenberg: Welche Eindrücke haben Sie denn dort sammeln können, wo Sie sagen, dass Sie sich auch dort umgeschaut haben, wo die Mehrheit der Menschen Muslime sind, möglicherweise mit Einwanderungshintergrund?
Lustiger: In ein paar Wochen erscheint mein neues Buch und für dieses Buch habe ich zwei Jahre recherchiert. Ich war zwei Jahre in den Industriekleinstädten, ich war in den Vororten mit hoher Arbeitslosigkeitsquote, ich war in den Städten mit Migrationshintergrund, ich war bei der Polizei, ich habe mit Politologen gesprochen, mit Kleinkriminellen, mit Soziologen, mit Sozialarbeitern und mit Salafisten. Und das Profil dieser Salafisten ist immer das gleiche, und das ist eben so gefährlich. Das sind junge Männer, arbeitslos, eine hohe Gewaltbereitschaft. Ihre Eltern kommen aus dem Maghreb oder aus Schwarzafrika. Sie sind aber in Frankreich geboren, hier aufgewachsen und erzogen worden und fühlen sich hier nicht zugehörig. Sie sind frustriert und sie haben sich diese neue Identität geschaffen mit einer Art "do it yourself Islam", der sehr gewalttätig ist, antisemitisch ist, frauenfeindlich ist und homophob ist, und diese Männer sind eine Gefahr für die Demokratie. Nicht, weil sie in der Mehrheit sind. Die meisten Moslems hier in Frankreich sind in der Demokratie aufgegangen. Wir haben ja hier fast zehn Prozent Moslems in Frankreich. Sie sind eine Gefahr, weil sie eben so gewalttätig sind.
Barenberg: Sie beschreiben das ja, Frau Listiger, als so eine Art Mischung zwischen Angst in der muslimischen Gemeinschaft vor der Furcht vor diesem radikalen islamistischen Fundamentalismus und einer Art von Anziehungskraft, die von ihm ausgeht. Ist das dieses Klima der Verunsicherung, von dem dieser Tage jetzt wieder so viel die Rede ist?
Lustiger: Sie haben eben das Integrationsmodell, das nicht aufgegangen ist. Sie haben viele frustrierte junge Männer, die sich irgendwie ausgeschlossen fühlen, die sich missachtet fühlen, und sie propagieren einen radikalen Islam, der auch importiert wird von den Golf-Staaten. Das muss man mal sagen! Das ist kein Islam, der in Frankreich gewachsen ist. Jeder weiß heute und das wird auch in der Presse thematisiert, wer diesen radikalen Islam finanziert. Das ist Katar, das ist Saudi-Arabien, und der wächst in den Vororten und er ist sehr gefährlich, weil er die ganze Gesellschaft radikalisiert und auseinanderspaltet.
"Zivilgesellschaft muss Islamismus verurteilen"
Barenberg: Sie haben vom Front National gesprochen, von Marine Le Pen. Marine Le Pen und der Front National macht Politik mit der Angst vor dem Islam, der Angst vor dem Fremden, und feiert einen Wahlsieg nach dem anderen. Jetzt haben Sie gesagt, unsere Reaktion im Moment ist Trauer, ist Sprachlosigkeit, Fassungslosigkeit. In welche Richtung muss sich die Reaktion ab jetzt denn verändern und entwickeln, damit es nicht noch Wasser auf die Mühlen des Front National ist?
Lustiger: Die Moslems in Frankreich, aber auch die Linke und die Rechte, also die Zivilgesellschaft muss den Islamismus verurteilen. Islam ist nicht gleich Islamismus. Es gibt Islamismus, es gibt radikalen Islamismus, Salafismus, Dschihadismus und es gibt den Islam, und diese Differenzierung zwischen Islam und Islamismus müssen die Moslems machen, aber auch die Zivilgesellschaft, und man darf den Islamismus verurteilen, man muss ihn verurteilen, man muss gegen ihn vorgehen. Man muss da Wege finden, um diese jungen Männer nicht diese Gesellschaft auseinanderspalten zu lassen. Das geht einfach nicht. Es ist einfach fatal, was sie heute gemacht haben.
"Front National hat sehr viele Stimmen gewonnen"
Barenberg: Frau Lustiger, wie werden die reagieren, die den Islam auch schon gestern für eine Gefahr gehalten haben und sich heute auf sehr grausame Art bestätigt fühlen können?
Lustiger: Sie meinen die Front National Wählerschaft? - Front National hat heute sehr viele Stimmen gewonnen und Front National hat heute sehr viele Stimmen gewonnen, weil eigentlich die Linken, also die Regierung, aber auch die Rechten eben diese Differenzierung zwischen Islam und Islamismus nicht machen, aus Angst, dass sie als Rassisten angesehen werden könnten. Und solange das nicht geschieht, wird Marine Le Pen Wählerschaft bekommen. Wissen Sie, ich gebe Ihnen ein Beispiel, und ich sage Ihnen auch, warum ich zum Beispiel den Roman von Michel Houellebecq,...
Barenberg: „Unterwerfung", der heute erschienen ist.
Lustiger: Ja, warum ich ihn so fantastisch finde. Michel Houellebecq beschreibt eigentlich eine Realität, die ich in den Vororten schon gesehen habe. In den Vororten! Ich rede jetzt von Créteil, ich rede jetzt von Sarcelles, ich rede jetzt von Saint Denis, wo ich war. Dort kann zum Beispiel eine junge Frau, wenn sie ein größeres Dekolleté hat und einen Rock - ich rede nicht vom Minirock, sondern bis Knielänge -, wenn sie so in Sarcelles, in gewissen Vierteln spazieren geht, wird sie angepöbelt. Sie muss sich züchtig anziehen, sie muss ihr Haar bedecken, und das sind Realitäten in Frankreich. Das kann nicht angehen!
Heinemann: Die Schriftstellerin Gila Lustiger. Die Fragen stellte mein Kollege Jasper Barenberg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.