"Mein Sohn kam am 16. Februar nach Dhaka." Ajoy Roy, emeritierter Physikprofessor aus Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. "Ich habe meinen Sohn davor gewarnt zu kommen. Die Lage speziell in Dhaka war, wie soll ich es sagen, nicht besonders friedlich. Man konnte sie mit einem Wort beschreiben: Chaotisch. Ich habe wörtlich gesagt: Avijit, vielleicht ist dein Leben in Gefahr. Nach dem, was du geschrieben hast, bist du im Fadenkreuz."
Ajoy sitzt in seinem Wohnzimmer, nebenan kocht die Schwiegertochter das Abendessen. Ajoys Frau ist in einem Nebenzimmer. Seit dem Februar sei sie sehr in sich gekehrt, sagt der Professor. Er ist 81 Jahre alt. "Mein Sohn sagte nur: Warum sollte ich hier in Gefahr sein? Dhaka ist meine Heimatstadt. Ich kenne sie gut. Und ich habe viele Freunde hier. Er nahm die Drohungen nicht ernst genug, würde ich sagen."
Avijit Roy, Ajoys Sohn, war ein bekannter Schriftsteller. Seit Jahren lebte er mit seiner Frau in den USA. Avijit bezeichnete sich als säkular und als Atheist. Er hatte unter anderem Mukto-Mona gegründet, zu Deutsch: Freidenker, eine Plattform für liberale und säkulare Blogger und Autoren. 2014 erschien sein Buch mit dem Titel "Das Virus des Glaubens". Ein Auszug:
"Terror, der auf Glauben beruht, ist nichts anderes als ein Virus. Wenn man ihm erlaubt, sich zu verbreiten, wird es die Gesellschaft wie eine Epidemie zerstören. Es war natürlich das Virus der Religion, das Mohammad Atta und 18 andere am 11. September 2001 davon überzeugte, dass ihr Blutbad nicht nur ein moralischer Akt, sondern auch eine heilige Pflicht sei."
Auf dem Heimweg von der Buchmesse mit Macheten angegriffen
Avijit war im Februar nach Dhaka gekommen, um diese Schrift auf der Buchmesse vorzustellen, allen Hassmails und Drohungen über Facebook zum Trotz. Dann kam der 26. Februar. "Ich hatte gerade persönliche Dinge erledigt. Mein anderer Sohn und dessen Frau schauten Fernsehen. Und dort hieß es, dass Avijit schwer verletzt und ins Krankenhaus gebracht worden sei. Wir sind sofort dorthin."
Mehrere Männer hatten das Paar mit Macheten angegriffen, als es von der Buchmesse nach Hause gehen wollte, und auf Avijit eingehackt. Es gibt Fotos, auf denen Avijits Frau zu sehen ist, blutüberströmt, mit weit aufgerissenen Augen, umringt von bestimmt 50 Passanten. Keiner hatte ihr geholfen.
"Die Ärzte ließen mich nicht in den Operationssaal. Ich fragte: Was ist los? Sie sagten nur: Sein Zustand ist kritisch. Aber er war noch am Leben. Nach 30 oder 40 Minuten brachten sie ihn in ein zeltähnliches Gebilde. Sie sagten: Wir haben alles getan, was möglich ist, jetzt versuchen wir, ihn mit lebenserhaltenden Maßnahmen zu stabilisieren. Aber da wusste ich schon, dass das Ende nicht mehr weit sein würde."
Avijit wurde 42 Jahre alt. Seine Frau überlebte den Angriff. Avijit Roy war der bekannteste Internetblogger aus Bangladesch. Er hatte unter anderem mit weltbekannten Autoren wie Salman Rushdie zusammen gearbeitet. Wie konnte es so weit kommen, dass junge Männer Avijit Roy gezielt auflauern und ihn dann mitten auf der Straße, mitten in Dhaka, ermorden?
Bangladesch - gegründet als Teil Pakistans
1947. Muhammad Ali Jinnah ruft nach dem Abzug der britischen Kolonialherren und der Teilung ihres indischen Kolonialreichs den Staat Pakistan aus. Pakistan soll Heimstatt für die Muslime des Subkontinents sein. Der britische Beamte Cyril Radcliffe hatte das riesige Reich praktisch mit einem Federstrich aufgeteilt. Pakistan bestand danach aus zwei etwa tausend Kilometer auseinander liegenden Gebieten: Westpakistan und Ostpakistan.
1971. In Ostpakistan, am Delta des Ganges, leben die Bengalis. Sie fühlen sich von der Regierung in Islamabad unterdrückt. 1971 gehen deshalb Millionen auf die Straße und fordern einen eigenen Staat: Bangladesch. Der Aufstand eskaliert in einen offenen Krieg. Indien greift aufseiten der Unabhängigkeitsbewegung ein. Es gibt schreckliche Massaker. Sie werden unter anderem von pro-pakistanischen Milizen begangen. Viele Milizionäre sind Islamisten. Sie werden unterstützt von der pakistanischen Armee. In Dhaka werden Studenten, Professoren, Ärzte, Anwälte, Journalisten systematisch ermordet. Überall gibt es Vergewaltigungen. Die britische Zeitung Sunday Times titelt mit nur einem Wort: "Genozid".
2013, mehr als 40 Jahre danach. Ein Kriegsverbrechertribunal verurteilt Abdul Kader Mullah zu einer lebenslangen Haftstrafe. Mullah, ein Politiker der islamistischen Partei Jamat-e-Islami, soll während des Krieges von 1971 für ein Massaker an 344 Menschen verantwortlich gewesen sein. Sein Spitzname lautet "Der Schlächter von Mirpur". Mirpur ist ein Stadtteil von Dhaka. Das Tribunal gilt international als umstritten und nicht fair. Das ist die eine Seite. In Bangladesch dagegen herrscht nach der Urteilsverkündung blanke Wut.
Es sind Blogger aus Avijit Roys Internetplattform "Freidenker", die Hunderttausende auf die Straßen Dhakas bringen. Über soziale Netzwerke erreichen die "Freidenker" vor allem junge Menschen, unzufrieden mit den Perspektiven in Bangladesch, ungeduldig mit der Regierung. 1971 waren die meisten noch gar nicht geboren. Dennoch ist das Tribunal gegen die Kriegsverbrecher ein Ventil für sie. Die Demonstranten fordern die Todesstrafe für den "Schlächter von Mirpur". Ihnen ist das Urteil gegen Mullah viel zu lasch. Tagelang legen sie die Hauptstadt lahm. Ihre Bewegung benennen sie nach dem Platz, auf dem sie demonstrieren: Shahbag.
Ein schmuckloses Hochhaus in Dhaka. Vor dem Gebäude lungern junge Männer herum. Einer führt uns zum Fahrstuhl und begleitet uns in den 8. Stock. Die Tür der Wohnung öffnet sich nur einen Spalt. Ein kurzer, skeptischer Blick. Dann lässt Imran uns hinein. "Ich bin Imran Sharkar, ich bin Blogger und Sozialaktivist. Ich bin ein Krieger. Ich kämpfe für meine Nation."
Was Imran nicht sagt: Er ist der Kopf der Shahbag-Bewegung. "Damals, 2013, gab es Proteste in jedem Dorf, überall, wo Bangladeschis lebten. Sie solidarisierten sich mit uns. Niemand konnte uns widersprechen. Alle wollten damals auf dem Shahbag-Platz ein Selfie mit mir machen. Ich glaube, mein Bild müsste inzwischen auf 50 Prozent der Smartphones in Bangladesch sein. Seit 2013 verstehen vor allem junge Menschen, dass sie ein politisches Bewusstsein benötigen, um die Gesellschaft zu verändern. Aber nach wenigen Tagen begann die Gegenpropaganda. Sie beschimpften uns als anti-islamisch. Sie empörten sich, auf dem Shahbag-Platz würden Jungen und Mädchen gemeinsam und obszön tanzen. Es gab auch persönliche Angriffe. Als das nicht zog, kamen sie mit ihrer Religion. Sie gründeten eine Gruppe: Hefazat-e-Islam. Das heißt: Beschützt den Islam!"
Niemals alleine unterwegs
Imran führt durch seine Wohnung, genauer gesagt: durch die Wohngemeinschaft. "Wir leben hier niemals allein, es sind immer Leute um uns herum. Ich gehe auch nie allein auf die Straße. Ich gehe nicht mehr auf öffentliche Plätze, nicht mal mehr in ein Restaurant auf eine Tasse Tee. Selbst wenn ich in eine Talkshow zum Fernsehen gehe, nehme ich meine Gruppe mit."
Wie Avijit Roy steht Imran, ein ausgebildeter Arzt, auf einer Todesliste mit insgesamt 84 Namen. Die Liste erschien im Internet, veröffentlicht von Gruppen, die angeblich der Hefazat-e-Islam, also den Beschützern des Islams nahestehen. Es scheint, dass jemand diese Liste gerade abarbeitet. Nach Avijit Roy starben in diesem Jahr drei weitere Blogger: Washiqur Rahman, Ananta Bijoy Das und Niladry Chattopadhya, besser bekannt als Niloy Neel. Sie alle wurden wie Avijit Roy überfallen und zu Tode gehackt, Niloy Neel in der eigenen Wohnung. Frau und Kind hatten die Täter im Nebenzimmer eingesperrt.
"Natürlich wollen sie ein Klima der Furcht erzeugen. Sie wissen genau, dass sie nicht Hunderttausende töten können. Aber sie wissen, dass diese Morde einige aus unserer Bewegung abschrecken werden. Aber wir haben uns unsere Arbeit selbst ausgesucht. Deshalb habe ich keine andere Option als weiter zu machen."
Islamisten machen mobil gegen die Shahbag-Bewegung
Als Reaktion auf Imran, die Blogger und ihre Shahbag-Bewegung gab es 2013 wieder heftige Proteste. Wieder gingen Hunderttausende auf die Straße. Diesmal waren es ausschließlich Männer, in weißen Gewändern, die meisten von ihnen trugen lange Bärte. Diesmal blieb es nicht friedlich. Niemand zündete Kerzen an, niemand sang fröhliche Lieder. Stattdessen gab es Straßenschlachten mit der Polizei. Und erneut ertönte der Schlachtruf "Hängt sie!" Gemeint waren diesmal Blogger wie Imran und die anderen. Aber die Forderungen nach der Todesstrafe für die Blogger sollte keine Vergeltung für deren Forderung nach der Todesstrafe für Kriegsverbrecher sein. Die Islamisten warfen den Bloggern etwas anderes vor: Nach ihrer Auffassung waren die jungen Demonstranten auf dem Shahbag-Platz mit ihren säkularen Ansichten zu weit gegangen.
Die Lalbagh Shahi Moschee in Dhakas dicht bebauter Altstadt. Von hier aus wurden die Demonstrationen der Islamisten gesteuert. "Sie haben die Bilder doch gesehen. Unsere Proteste waren die größten Massendemonstrationen, die das Land jemals gesehen hat." Janab Faizullah unterbricht sofort seine Besprechung, als er uns sieht. Er lädt in sein Büro, auf eine Tasse Tee und Knabbereien.
"Die Blogger? Ich bin ja für Meinungsfreiheit, aber das heißt nicht, dass die Blogger mich oder meine Familie oder meine Religion beleidigen können. Damit handeln die Blogger nicht nur gegen die Verfassung dieses Landes, sie verstoßen auch gegen internationales Recht. Darin steht, dass man den Glauben kritisieren darf, aber man darf ihn nicht diskriminieren. Nicht alle Blogger haben uns beleidigt. Aber einige."
Mohammed Faizullah ist einer der führenden Köpfe der Hefazat-e-Islam, ein Geistlicher und Gelehrter. Faizullah betont, er sei zuständig für die islamische Rechtslehre, vor allem Fatwas, Gutachten auf Basis des islamischen Rechts.
Faizullah wirkt in der Lalbagh Shahi Moschee. Hier gibt es eine der vielen Medressen, Koranschulen. In den Medressen lernen vor allem Kinder aus armen Familien. Allein hier in der Lalbagh Shahi Moschee seien es bis zu 2.000, sagt Faizullah. Für die Kinder ist der Besuch kostenlos. Sie erhalten hier Tee und Essen. Der Koran ist der Unterrichtsinhalt, an ihm richtet sich die Schule aus. Kritiker sagen, die Medressen seien Brutstätten des Islamismus.
Mohammed Faizullah kennt diesen Vorwurf. "Wir kämpfen in erster Linie für soziale Gerechtigkeit. Gegen das Unrecht. Für die Menschen. Für den Frieden. Wir haben auf unseren Demonstrationen 'Hängt die Blogger!' gerufen. Das stimmt. Aber wir wollen das nicht umsetzen. Es ist ja nichts daran, das zu fordern. Aber der Staat muss sich natürlich darum kümmern. Wir wollen sie nicht aufhängen. Wir wollen, dass sie nach dem Islamischen Recht bestraft werden. Und zwar so hart wie möglich."
Mehr als 20 islamische Gruppen und Parteien haben sich unter dem Dach der Hefazat-e-Islam gesammelt. Sie verfügen über ein weit verzweigtes Netzwerk, zu dem neben politischen Gruppierungen auch Banken gehören sollen. Geld, so heißt es, sei für die Hefazat kein Problem. Wurde hier, in der Lalbagh Shahi Moschee, der Nährboden für die Morde an Avijit Roy und den anderen Bloggern bereitet? Oder – schlimmer noch – hat die Hefazat damit etwas zu tun? Selbst bei dieser Frage bleibt der Islamgelehrte Faizullah ruhig und zuvorkommend.
Direkte Verbindung konnten nicht nachgewiesen werden
"Schauen Sie sich die gegenwärtigen Ereignisse in Bangladesch an. Es gibt politische Morde, Chaos, Menschen sind verschwunden. Die Morde an den Bloggern sind nur einige gesonderte Fälle. Ich persönlich unterstütze dieses Vorgehen aber nicht. Meine Botschaft an die Mörder wäre eher: Ja, wir brauchen eine Revolution, aber eine spirituelle Revolution, ohne Waffen."
Eine direkte Verbindung des Hefazat-e-Islam zu den Morden an den Bloggern konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Zu den Anschlägen bekannt haben sich andere Gruppen, die behaupten, der Terrororganisation Al Kaida nahezustehen. Im August, nach dem Mord an dem Blogger Niloy Neel, verhaftete die Polizei mehrere Männer, die sie für die Mörder hält. Aber selbst wenn sich das bewahrheitet: Sind sie nur willfährige Werkzeuge von anderen, geistigen Brandstiftern? An einen Durchbruch in den Ermittlungen glauben Blogger Imran und der Vater von Avijit Roy nicht.
Ist Bangladesch im Begriff in einen immer brutaleren Kampf zwischen säkularen und Extremisten abzugleiten? Ajoy Roy, der Vater von Avijit Roy, behält trotz des Mordes an seinem Sohn im Namen der Religion immer noch die Größe, diese Religion nicht für seinen Verlust verantwortlich zu machen. Ajoy Roy mahnt stattdessen zur Besonnenheit. Bangladeschs Muslime hätten in ihrer großen Mehrheit noch nie zum Extremismus geneigt.
Glauben an einen säkularen Staat
"Bei uns wurde der Islam nicht durch das Schwert verbreitet. In anderen Ländern, im Mittleren Osten zum Beispiel, haben die Extremisten in einer Hand das Schwert und in der anderen den Koran getragen. Nicht so in Bangladesch. Hier waren es Heilige, die wir Sufis nennen. Diese Sufis haben den Islam verbreitet. Und der Sufismus unterscheidet sich sehr von den Extremisten. Er ähnelt schon eher der Philosophie der Hindus. Es geht um die Reinheit der Seele, um die Größe der Philosophie und der Literatur. Und dieser Islam, der wurde von den Menschen in Bangladesch verinnerlicht. Ich bin deshalb optimistisch, dass alles wieder ins Lot kommt. Ich glaube nicht, dass die Islamisten die Oberhand gewinnen werden. Sie werden von außen finanziert, aus dem Mittleren Osten, ich will ihre Gefahr gar nicht leugnen. Also müssen wir sie besiegen. Denn wir wollen, dass dieses Land ein säkularer Staat ist und keine Theokratie."
Aber schon Ende Oktober, an einem schwarzen Samstag, gewinnt die Angst wieder die Oberhand: erst stürmen drei Männer das Verlagshaus Schudoschwar. Der Verlag hat die Schriften von Avijit Roy veröffentlicht. Die Täter schießen auf den Chef des Unternehmens, Ahmid Rahim Tutul, sowie auf zwei Nachwuchsautoren. Die Drei werden schwer verletzt.
Nur Stunden später stirbt Faysal Arefin. Auch er leitet einen Verlag. Arefin hat Avijit Roys Buch "Das Virus des Glaubens" veröffentlicht. Das Mordkommando dringt in sein Büro ein, verschließt es und hackt Arefin zu Tode. Sieben Mitarbeiter müssen hilflos und verängstigt zusehen, wie ein weiterer kritischer Geist brutal ausgelöscht wird.