Das dramatischste sei für ihn die Brutalität oder Inkohärenz der deutschen Außenpolitik, sagte van Aken im Deutschlandfunk. Allen in Berlin sei bewusst, dass die Gruppierung "Islamischer Staat im Irak und Syrien", ISIS, von Katarr und Saudi-Arabien unterstützt werde. Die Bundesregierung kümmere sich jedoch nicht darum, die Waffenlieferungen in diese Länder zu stoppen. Stattdessen kooperiere man indirekt mit den ISIS-Unterstützern.
Die irakische Regierung um ihren Chef Nuri al-Maliki habe "alles falsch gemacht, was falsch zu machen ging". Seine schiitische Regierung habe nach dem Sturz des sunnitischen Machthabers Saddam Hussein eine brutale Machtpolitik gegen die Sunniten betrieben und diese ausgegrenzt. Das habe zu großem Hass der Sunniten auf Maliki geführt, so van Aken.
Das Gespräch in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Es sind dramatische Entwicklungen, über die wir in diesen Tagen aus dem Irak hören. Im Land breitet sich eine neue sunnitische Terrorgruppe aus. Sie nennt sich ISIS und die Kämpfer dieser Gruppe rücken inzwischen auf die Hauptstadt Bagdad vor. Der Nahost-Experte Michael Lüders hat die Lage gestern hier bei uns im Programm so beschrieben:
O-Ton Michael Lüders: "Es ist hier wirklich ein politischer Tsunami in sicherheitspolitischer Hinsicht, der auf uns zurollt, denn diese Terrorgruppe ist ja gleichzeitig eine soziale Bewegung, die nicht nur große Teile des Irak mittlerweile kontrolliert. Die ISIS kontrolliert auch weite Teile in Syrien und zunehmend auch des Libanon. Es ist das erste Mal, dass eine islamisch-fundamentalistisch-terroristische Gruppe über mehrere Ländergrenzen hinweg es schafft, ein zusammenhängendes Territorium zu kontrollieren."
Armbrüster: Soweit also Michael Lüders. Am Telefon ist jetzt Jan van Aken, der außenpolitische Sprecher der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag. Schönen guten Morgen.
Jan van Aken: Einen schönen guten Morgen.
Armbrüster: Herr van Aken, steht der Irak vor einem neuen Krieg?
van Aken: Ja, wobei neu weiß ich gar nicht. Das ist immer noch die Fortsetzung des Krieges von 2003, oder wenn Sie so wollen auch von '91, denn ISIS ist ja in dieser Zeit entstanden, 2003/2004. Sie hat in den letzten Jahren auch in Syrien gekämpft und hat jetzt offensichtlich es geschafft, große Teile des Nordens des Iraks einzunehmen, und ich befürchte, das könnte bis nach Bagdad gehen.
Armbrüster: Haben die Iraker, hat die irakische Regierung die US-Truppen zu früh aus dem Land abziehen lassen?
van Aken: Ich glaube, das ist nicht der Punkt, sondern die irakische Regierung um Maliki hat wirklich alles falsch gemacht, was falsch zu machen ging. Man muss sich das vergegenwärtigen: Die Mehrheit im Irak ist ja schiitisch. Saddam Hussein damals war sunnitisch und nach dem Sturz von Saddam Hussein haben die Schiiten die gesamte Macht an sich gerissen und haben sich zu Tode gesiegt. Sie haben die Sunnis rausgehalten, wo es nur ging, haben wirklich reinste brutalste Machtpolitik betrieben, und das führt dazu, dass im gesamten Land es mittlerweile bei den Sunnis einen totalen Hass auf Maliki, auf Bagdad gibt. Das sind alles keine Terroristen, das sind auch alles keine Hardcore-Islamisten oder ISIS, aber sie unterstützen die sunnitische ISIS gegen die Schia, und da muss man einfach sagen, dass in den letzten Jahren Maliki da wirklich komplett das selbst mit verursacht hat.
"Inkohärenz der deutschen Außenpolitik"
Armbrüster: Wenn nun im Irak die Islamisten um ISIS immer mehr Macht übernehmen, sich in immer weiteren Regionen ausbreiten, hat das für uns in Deutschland irgendeine Konsequenz?
van Aken: Ja natürlich hat das ganz massive Konsequenzen. Ich meine, das ist hier leider wieder mal so ein Fall, wie wir ihn in Afghanistan ganz anders auch erlebt haben, dass teilweise sogar NATO-Länder wie die Türkei ISIS erst mal unterstützt haben, als sie ihnen noch gepasst haben in Syrien, und jetzt droht sich das dagegen zu richten. Mossul liegt 150 Kilometer von NATO-Gebiet entfernt, von der Türkei entfernt. Das heißt, die Gruppen, die Ankara noch massiv unterstützt hat bis vor wenigen Wochen, wenden sich jetzt gegen die Türkei, und da droht natürlich irgendwie jetzt eine Situation möglicherweise wie mit den Taliban in Afghanistan. Was für mich das Dramatischste dabei ist, ist sozusagen die Brutalität oder Inkohärenz der deutschen Außenpolitik, denn wir wissen alle, alle in Berlin wissen, dass die ISIS von Katar, von Saudi-Arabien unterstützt wird, und da regt sich in Berlin gar nichts, dass man mal sagt, wenigstens jetzt sofort sollten mal die Rüstungslieferungen nach Katar und Saudi-Arabien eingestellt werden, die Botschafter müssen einbestellt werden, da muss doch mal Druck ausgeübt werden. Aber da wird sozusagen hinten herum eigentlich kooperiert mit denen, die ISIS unterstützen.
Armbrüster: Woran genau liegt das?
van Aken: Na ja, das ist eine brutalst mögliche interessensgeleitete Politik, nicht nur von Maliki in Bagdad, sondern tatsächlich auch von der Regierung Merkel in Berlin, dass man sagt, man möchte gute Beziehungen zum Golf-Kooperationsrat haben, zu Saudi-Arabien. Das hat auch mit Öl zu tun, nicht nur, und da wird eben in Kauf genommen, dass man dort Länder unterstützt, die auf der anderen Seite dann solche brutalen Terrorregime unterstützen. Ich finde, das muss ein Ende haben. Da muss heute noch in Berlin reagiert werden.
Armbrüster: Na ja, aber ich meine, die Außenpolitik ist ja dafür da, um sozusagen Beziehungen zu anderen Ländern aufrecht zu erhalten, und wir können nicht von allen Ländern überall auf der Welt erwarten, dass sie Demokratien nach deutschem Vorbild sind. Muss man da nicht die Realpolitik akzeptieren?
van Aken: Völlig richtig, völlig richtig. Ich sage ja auch nicht Beziehungsabbruch. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Beziehungsabbruch oder die Länder bis an die Zähne hochrüsten. Gestern ist ja nicht nur Mossul gefallen durch ISIS; gestern hat die Bundesregierung ihren Rüstungsexportbericht vorgestellt. Und wer sitzt auf Platz zwei und Platz vier der topdeutschen Rüstungsempfänger? - Das sind genau Katar und Saudi-Arabien. Zwischen Beziehungsabbruch und für eine Milliarde Euro Waffen liefern, gibt es ja noch ganz viel diplomatische Möglichkeiten.
"Sicherlich noch viele politische Einflussmöglichkeiten"
Armbrüster: Herr van Aken, Sie haben die Türkei bereits erwähnt. Die Türkei hat gestern auch bereits den NATO-Rat eingeschaltet. Was könnte denn gerade in Verbindung mit der NATO, mit der Allianz, was könnte auf uns in Deutschland zukommen?
van Aken: Ich würde mal sagen, ich hoffe, dass es erst mal nicht die NATO ist, dass das Militärbündnis wieder entscheidet, sondern dass es da politische Gespräche gibt, denn es gibt ja noch Einflussmöglichkeiten. Die Situation in den letzten Monaten im Irak ist doch eskaliert, weil es auch diesen Machtkampf zwischen Maliki in Bagdad gab und den Kurden unter Barzani im Norden des Irak, die sich um die Ölgelder gestritten haben, also ganz einfache Machtkämpfe, wo es um sehr viel Geld auch geht, und Deutschland und Europa hat traditionell sehr gute Beziehungen zu Barzani in den kurdischen Gebieten des Nordirak. Da gibt es sicherlich noch viele politische Einflussmöglichkeiten, die man erst mal nur nutzen muss. In der Vergangenheit hat man da genau das Gegenteil gemacht und hat sich einfach einseitig und blind hinter Barzani gestellt und hat ihn gewähren lassen. Insofern hoffe ich, dass erst mal politische Lösungen kommen, und nicht, dass die NATO heute Entscheidungen trifft, möglicherweise jetzt die Gruppen zu bombardieren, die das NATO-Land Türkei bis vor Kurzem noch unterstützt hat.
Armbrüster: Müssen wir dann möglicherweise auch wieder mit Leuten wie Syriens Machthaber Assad sprechen, um diese Gefahr von ISIS wieder einzudämmen?
van Aken: Na ja, in Syrien muss man so oder so mit Assad sprechen. Assad ist da. Ob man das nun gut findet oder schlecht findet, ist egal. Assad ist eine Macht im Moment in Syrien. Wenn man da Waffenruhe haben will, wenn man da ISIS zurückdrängen will, dann muss man natürlich mit ihm reden. Das ist aber davon unabhängig. Man muss mit allen Beteiligten vor Ort reden, und das Absurde ist doch, dass nun gerade die Kräfte, die in der Region sich massiv gegen ISIS verteidigen mussten in den letzten Monaten und Jahren, die aber trotzdem demokratisch sich organisiert haben, nämlich die Kurden in Nordsyrien, dass das die Einzigen sind, mit denen man nun überhaupt nicht redet, weil man die als Terroristen beschimpft. Ich finde, da gibt es tatsächlich Gruppierungen, Regionen, die eine sehr positive Rolle spielen könnten, aber genau da guckt Berlin weg, weil das politisch nicht in den Kram passt, und man hält sich dann doch lieber an Menschen wie Maliki in Bagdad oder Barzani im Nordirak.
Armbrüster: Deutschland hat sich ja aus dem Irak in den vergangenen Jahren, in den vergangenen zehn Jahren immer eher herausgehalten. Sind wir damit nicht eigentlich ganz gut gefahren?
van Aken: Das stimmt leider nicht. Aus Irak, wenn Sie Bagdad meinen, ja. Aber gerade in den kurdischen Gebieten des Nordirak, die ja einen vollen Autonomiestatus haben - ich war im Januar dort, bin auch durch Mossul gefahren im Januar -, aber in diesen kurdischen Gebieten, das ist ja quasi ein eigener Nationalstaat, da hat es massive Reisetätigkeit, diplomatische Beziehungen, wirtschaftliche Beziehungen gegeben zwischen den kurdischen Autonomieregionen dort und Deutschland. Da gab es sehr viel Kontakt und Einflussmöglichkeit, aber das wurde eben falsch genutzt aus meiner Sicht.
Armbrüster: Wir hören nun heute Morgen, Herr van Aken, dass die irakische Regierung offenbar die Amerikaner um militärische Hilfe bittet. Wiederholt sich da möglicherweise die Geschichte?
van Aken: Das muss man abwarten. Diese Bitte um Luftunterstützung, die ist ja schon mehrere Wochen alt, wenn ich richtig informiert bin. Schon Mitte Mai gab es sogar ein schriftliches Ersuchen von Maliki an die Amerikaner, bombardiert ISIS, und die Amerikaner haben dann gesagt, solange ihr da einfach nur euren Kampf ums Geld mit den Kurden führt und darüber die Einheit Iraks vernachlässigt, passiert das gar nicht. Es ist eine völlig berechtigte Kritik an Maliki zu sagen, ihr habt euch da als Schia totgesiegt und habt versucht, die Sunnis extrem klein zu machen. Das schlägt jetzt zurück. Ich hoffe, dass die Amerikaner jetzt nicht anfangen, zu bombardieren. Ich glaube es ehrlich gesagt auch nicht, dass das passieren wird, denn das funktioniert, glaube ich, so nicht, dass da ein Machthaber in Bagdad sich brutal möglichst viel Geld und Macht reißen will, und wenn es schiefgeht, dann um Hilfe von außen zu bitten. Ich glaube, da wird Obama nicht reagieren. Aber mal abwarten. Wenn jetzt morgen möglicherweise Bagdad fällt, könnte sich das wieder verändern.
Armbrüster: Live hier bei uns in den „Informationen am Morgen" war das Jan van Aken, der außenpolitische Sprecher der Linkspartei. Vielen Dank, Herr van Aken, für das Gespräch.
van Aken: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.