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Islamisten in Deutschland
Rätselhafte Radikalisierung

Ein Berliner Ex-Rapper aus Kreuzberg wird zum wichtigsten deutschen Propagandisten der Terrormiliz IS: So geschehen bei dem Extremisten Denis Cuspert. In Deutschland gibt es immer noch keine umfassende Erforschung dieser islamischen Radikalisierung - doch mit jedem deutschen Dschihadisten wird die Gefahr von Anschlägen hierzulande größer.

Von Barbara Weber |
    Porträtaufnahme von Denis Cuspert
    Einige hundert in Deutschland lebende Muslime sind soweit radikalisiert, dass sie bereit sind, für die Extremistenmiliz Islamischer Staat (IS) zu kämpfen. (dpa / Di Matti)
    "Deso Dogg/Denis Cuspert ist sicherlich einer der schillerndsten Gestalten des deutschen Dschihadismus heute."
    Sagt Dr. Guido Steinberg.
    "Ein Berliner Ex-Rapper aus einem dieser Problembezirke, nämlich aus Kreuzberg, der sich einen gewissen Namen gemacht hatte, dann aber zum salafistischen Islam konvertiert ist gewissermaßen, der dann eine Weile auf der Suche war, Gefährten gefunden hat in einer kleinen Gruppe, die sich nannte 'Gemeinschaft Abrahams."
    "Cusperts Einfluss auf die Szene in Deutschland kann kaum überschätzt werden"
    Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin:
    "Und diese Gruppe ist gewissermaßen der Nukleus der deutschen Präsens in Syrien. Die Gruppe wurde vom Innenminister verboten im Juni 2012, und daraufhin haben sich zunächst die führenden Mitglieder und dann auch die Kerngruppe nach Ägypten zurückgezogen, sind dann, meist über Libyen und die Türkei, nach Syrien gegangen."
    Dennis Cuspert hat sich dort zum wichtigsten deutschen Propagandisten von ISIS, später IS entwickelt.
    "Er veröffentlicht Videos, er veröffentlicht vor allem teilweise sehr professionell gemachte Dschihad-Gesänge. Sein Einfluss auf die Szene in Deutschland kann kaum überschätzt werden, weil in dem Moment, als Cuspert und einige Kollegen begonnen haben, in Syrien Propaganda zu betreiben und zur Reise nach Syrien aufzurufen, ist die Zahl der Ausreisen so etwa Mitte bis Herbst 2013 enorm angewachsen. Cuspert befindet sich weiterhin im Irak oder in Syrien."
    Dschihadistische Bewegungen wollen islamische Normen mit Gewalt durchsetzen
    Islamisten, Salafisten, Dschihadisten - die auch hierzulande aktiven islamistischen Bewegungen haben eine Gemeinsamkeit, meint Dr. Michael Kiefer, Islamwissenschaftler am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück:
    "Zunächst einmal kann man sagen, dass in allen islamistischen Bewegungen davon ausgegangen wird, dass es ein vollendetes Recht gäbe, dass zur Regelung aller Angelegenheiten herangezogen werden müsse. Das geschieht dann natürlich auf sehr unterschiedliche Weise. Wir haben es einerseits mit Bewegungen zu tun, die sich durchaus auch an demokratischen Gepflogenheiten orientieren."
    ... sich zum Beispiel an Wahlen beteiligen und dann die Wahlergebnisse auch akzeptieren.
    "Aber es gibt am anderen Rand tatsächlich auch Bewegungen, die davon ausgehen, dass man diese islamischen Normen notfalls auch mit Gewalt durchsetzen müsse, und hierzu zählen wir dann auch die neosalafistischen, dschihadistischen Bewegungen wie zum Beispiel der Islamische Staat oder andere militante Netzwerke."
    Gewaltbereite islamistische Szene entstand in 1970er-Jahren in Ägypten
    Ursprünglich kämpften Dschihadisten in der Opposition gegen autoritäre arabische Regime. Die gewaltbereite islamistische Szene entstand in den 1970er-Jahren in Ägypten als Antwort auf die Regierung Sadat. Aus ihr rekrutierten sich auch seine Mörder, die eine Aussöhnung mit Israel ablehnten.
    Erst in den 90er-Jahren - nachdem sie sich mit anderen gewaltbereiten Gruppierungen in Afghanistan zusammengeschlossen hatten - erwuchs ein neuer Gegner: Die USA, die damals als Unterstützer des ägyptischen Präsidenten Mubarak gesehen wurde. Der 11. September enthielt letztendlich die klare Botschaft:
    "Zieht eure Truppen aus der arabischen Welt, aus der islamischen Welt zurück, wenn ihr das nicht tut, werden wir euch immer wieder bekämpfen so wie heute im politischen, im wirtschaftlichen und im militärischen Herzen der USA."
    Seit dem 11. September begann der Internationalisierungsprozess der dschihadistischen Szene und wurde – so Guido Steinberg - durch Fehler der Amerikaner und Europäer begünstigt.
    "Ich denke, der schwerste Fehler war der Irakkrieg. Aber auch in Afghanistan ist vieles falsch gemacht worden. Und man kann dann beobachten, dass jeweils nach einer Intervention Al Kaida und die dschihadistische Bewegung insgesamt neue Rekrutierungspools erschlossen haben."
    Am 11. September begann der Internationalisierungsprozess der dschihadistischen Szene
    Eines der Flugzeuge steuert auf den noch unversehrten Turm des World Trade Centers in New York zu. 
    Bei den zwei Anschlägen auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York kamen mehr als 3000 Menschen ums Leben. (picture alliance / dpa)
    Zum Beispiel 2003:
    "2003 kamen viele Iraker dazu, Palästinenser, Syrer, auch irakische Kurden."
    Zum Beispiel 2006:
    "2006 Afghanen und Pakistanis und gleichzeitig ist Al Kaida in der europäischen Diaspora immer attraktiver geworden. Das war zunächst zu spüren in den westeuropäischen Staaten, vor allem in England und Frankreich, wo die Dschihadisten sehr früh sehr stark waren."
    Das zeigte sich auch in Deutschland, wo nun ebenfalls eine dschihadistische Szene entstand, die ihre Vorläufer in den Attentätern vom 11. September hatte:
    "Die Entwicklung, die wir beobachten können, ist vor allem diejenige der Gesamtbewegung: Wenn wir uns die Hamburger Zelle angucken von 2001, in der ja viele aus Deutschland kommende Attentäter vertreten waren, dann stellen wir fest, dass die meisten von denen zwischen 1993 und 1996 zum Studium nach Deutschland kamen, also soziologisch in ihren Heimatländern geprägt wurden."
    "Die meisten deutschen Dschihadisten sind hier geboren"
    Das hat sich geändert:
    "Seit 2006 kann man beobachten, dass die meisten deutschen Dschihadisten einerseits vor allem salafistisch geprägt sind, dann aber eben vor allem entweder hier geboren sind oder große Teile ihres Lebens hier verbracht haben. Das ist eine ganz wichtige Veränderung. Seit dem Jahr 2006 wissen wir, dass wir es mit einem einheimischen Phänomen zu tun haben, das nicht mehr importiert ist, das nicht mehr so stark arabisch geprägt ist und eine sehr, sehr deutsche Prägung annimmt. Und in dem Maße, in dem diese Bewegung in Deutschland deutscher geworden ist, sind auch deutsche Ziele eher in den Mittelpunkt gerückt."
    Theologisch lässt sich das Phänomen nicht erklären, meint der Islamwissenschaftler Michael Kiefer:
    "Je kruder und einfältiger, desto erfolgreicher!"
    "Man muss vielleicht viel mehr psychologische und soziologische Ansätze hinzuziehen. Das Wachsen fundamentalistischer Bewegungen ist ja etwas, was wir nicht nur im Kontext des Islams beobachten können, sondern auch in vielen anderen Religionen ist dies der Fall, und der Forscher Olivier Roi hat vor wenigen Jahren mal sehr pointiert formuliert: 'Je kruder und einfältiger, desto erfolgreicher!'."
    Schwarz-weiß Malerei, klare Anleitungen für das Leben - neben der Sinnsuche spielen noch andere Motive eine Rolle. Guido Steinberg:
    "Die Geborgenheit in der Gruppe, die eine Rolle spielt, es gibt, wenn die Leute ausreisen in Richtung Pakistan oder Syrien, auch diesen Aspekt Abenteuerlust. Es gibt das Motiv, dass die Amerikaner 'Quest for significant', also ein Suchen nach Bedeutung, nennen. Das sind junge Leute, die etwas darstellen wollen.
    Motive: Abenteuerlust und Suche nach Bedeutung
    Und wenn es denn überhaupt einen gemeinsamen Nenner gibt unter diesen jungen Leuten in Deutschland, dann ist es, dass sie diese Bedeutung, dieses Selbstbewusstsein, nicht in der deutschen Gesellschaft aufbauen können. Man kann in den letzten Jahren beobachten, dass ganz viele von denen aus den Problemvierteln der großen Städte kommen, dass ihre Bildungsbiografien abgebrochen oder gar nicht erst richtig begonnen wurden. Also wir haben es doch eher mit einem Unterschichtenphänomen zu tun."
    Ganz anders als zum Beispiel bei der Rote Armee Fraktion handelt es sich nicht um ein Phänomen der Mittelschicht, sondern eher um:
    "Die Problemfälle unserer Gesellschaft, die dann diesen Weg zunächst einmal in den Salafismus, dann in den Dschihadismus und oft auch zu den terroristischen Organisationen in Syrien oder Pakistan wählen."
    "Dschihadismus als westdeutsches Pendant zur rechtsextremistischen Szene im Osten"
    Der salafistische Prediger Pierre Vogel betet am 19.07.2014 in Hamburg auf einer Kundgebung mit rund 300 Anhängern auf dem Hachmannplatz.
    Salafisten in Deutschland - hier in Hamburg. (picture-alliance / dpa / Markus Scholz)
    Guido Steinberg beobachtet Parallelen zu anderen terroristischen Organisationen:
    "In gewisser Weise ist der Dschihadismus das westdeutsche Pendant zur rechtsextremistischen Szene im Osten."
    Michael Kiefer sieht hingegen eher Unterschiede: Im Gegensatz zum Dschihadismus sei der Rechtsextremismus stark verortet. Beim gewaltbereiten Salafismus bestimmten häufig Wanderprediger die Szene:
    "Sie sehen es ja allein hier in Nordrhein-Westfalen: Da hatten wir 'Millatu Ibrahim' in Solingen. Dann werden die verboten, dann tauchen die Monate später woanders auf. So zieht der Zirkus quasi durch die Lande, und dem ist dann im Sozialraum sehr schwer zu begegnen."
    Das macht die Prävention so schwierig, meint Michael Kiefer. Dazu käme die unbefriedigende Studienlage:
    "Wir haben einige Studien, die entstanden sind im Rahmen des 'Contest-Programms' in Großbritannien. Wir haben die eine oder andere Untersuchung aus den Niederlanden. Mittlerweile haben wir auch zu Deutschland das ein oder andere kleinere Papier, was Auskunft gibt über den Verlauf von Präventionsprojekten. Aber insgesamt ist das zu wenig.
    "Deutschland ist ein Entwicklungsland in der Radikalisierungsforschung"
    Also wir wissen immer noch nicht so richtig, wie Radikalisierung abläuft, welche Faktoren dazu beitragen können, dass man sie erfolgreich unterbrechen kann, und all diese Dinge sind noch unklar. Und wir haben zur Zeit auch zu wenig erprobte Interventionsformate in der Prävention, von denen wir dann tatsächlich sagen könnten, wenn wir den und den Fall haben, dann machen wir das und das, und damit kommen wir dann vielleicht zum Erfolg."
    Was die spärlichen Studien zeigen, ist, dass nur eine mehrteilige Präventionsstrategie Erfolge bringen kann: Das beginnt in der Schule, wo Schüler lernen, auch andere Meinungen zu tolerieren. Das setzt sich fort in der Förderung benachteiligter Gruppen, um zu verhindern, dass durch Schulabbruch und mangelnde Ausbildung einer Radikalisierung Vorschub geleistet wird. Schwieriger wird es, die Menschen zu erreichen, die sich zu gewaltbereiten Milieus hingezogen fühlen.
    "Wir bräuchten eigentlich in Deutschland eine unabhängige Forschung hierzu. Ich verstehe überhaupt nicht, warum man denkt, dass man das nicht machen müsste. Die Briten haben so etwas mit dem King's College, an dem Radikalisierungsforschung betrieben wird. Die Niederländer haben ein solches Institut. Nur wir hier in Deutschland haben das nicht. Wir sind in dieser Hinsicht, ganz klar, ein Entwicklungsland. "

    Literatur zum Thema:
    Rauf Ceylan, Michael Kiefer: "Salafismus: Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention"
    Springer VS, Wiesbaden, 2013
    Ulrich Kraetzer: "Salafisten – Bedrohung für Deutschland"
    Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 2014
    Behnam T. Said / Hazim Fouad (Hg.): "Salafismus, Auf der Suche nach dem wahren Islam"
    Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
    Guido Steinberg: "Al-Qaidas deutsche Kämpfer - Die Globalisierung des islamistischen Terrorismus"
    edition Körber-Stiftung, Hamburg 2014