Mit dem Verbot von IS-Aktivitäten in Deutschland könne die Bundesregierung die Gesinnung der einigen Hundert Dschihadisten in Deutschland nicht ändern, sagte der Nahost-Experte Michael Lüders im Deutschlandfunk. Es sei weiter erforderlich, die IS-Sympathisanten zu überwachen und ihnen notfalls die Pässe zu entziehen. Das Verbot allein mache für die Terroristen keinen Unterschied. Wie es mit dem Islamischen Staat weitergehe, entscheide sich nicht vor deutschen Gerichten, sondern im Nahen Osten.
"IS wirkt wie ein Magnet auf radikale Muslime"
Der Islamische Staat sei eine Art Kultbewegung unter Dschihadisten geworden, so Lüders weiter. Die Organisation wirke wie ein Magnet auf radikalisierte Muslime - auch in Europa. Besonders betroffen seien Arabisch-Stämmige und Konvertiten. Auch orientierungslose junge Muslime neigten in kleiner Zahl der terroristischen Bewegung zu, sagte Lüders im DLF-Interview. Die Terroristen hätten die Reaktionen des Westens auf die Enthauptungen zweier Journalisten zynisch berechnet: Ziel des IS sei, europäische und amerikanische Soldaten auf ihr Schlachtfeld im Nahen Osten zu holen, um sie dort in die Enge zu treiben.
Viele sunnitische Muslime in Europa und Nahost verharrten angesichts des Erfolgs der Gruppe in einer Art Schockstarre, so der Nahost-Experte. In der Zukunft komme es darauf an, ob die sunnitischen Araber bereit seien, dem IS massiv etwas entgegenzusetzen. Dass die Regime in der arabischen Welt derzeit sehr zögerlich seien, mache die Situation nicht leichter, sagte Lüders im DLF.
Das Interview mit Michael Lüders in voller Länge:
Dirk Müller: Wie vorgehen gegen die Dschihadisten? Das wird auch in Berlin wieder heftig diskutiert, zumal auch in der Unions-Fraktion die Stimmen lauter werden, die da fordern, die amerikanischen Luftangriffe irgendwie zu unterstützen, vielleicht durch eine Überwachung des Luftraums. Zugleich stellt sich aber eine ganz andere Frage: Wie umgehen mit den Anhängern der IS-Milizen hierzulande? Hilft da ein mögliches Verbot wirklich weiter? Eine Antwort ist gegeben worden. Es ist nämlich jetzt amtlich: Seit zwölf Uhr ist die IS in Deutschland verboten.
Wir bleiben beim Thema IS-Verbot und beim Thema Kampf gegen die IS-Terroristen, gegen die IS-Milizen. Am Telefon begrüße ich dazu Nahost-Experte Michael Lüders. Guten Tag.
Michael Lüders: Schönen guten Tag, Herr Müller.
Schritt in die richtige Richtung
Müller: Fangen wir mit dem IS-Verbot an. Hilft das wirklich weiter?
Lüders: Es ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Aber es ist natürlich vor allem Symbolpolitik, denn bei den einigen hundert Aktivisten, dschihadistischen Aktivisten, die es in Deutschland gibt, die erkennbare Sympathien haben und hegen für den Islamischen Staat, ändert man deren Gesinnung nicht. Es bleibt nach wie vor erforderlich, sie zu überwachen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, wie erwähnt den Entzug des Reisepasses beispielsweise, damit sie nicht an die Kriegsschauplätze reisen können.
Müller: Wir reden immer von 400, vielleicht sind es ja ein paar mehr, ein paar weniger. Kann man die alle identifizieren? Sind die alle namentlich aufgelistet?
Lüders: Nein, das sind sie mit Sicherheit nicht. Es ist ja eine sehr fließende Bewegung. Der Islamische Staat ist ja aufgrund seiner immensen Erfolge, die er erzielt hat in militärischer Hinsicht, eine Art Kultbewegung geworden unter radikalisierten Dschihadisten und er wirkt wie ein Magnet auf radikalisierte Muslime auch in Europa, vor allem auf arabische Muslime, arabischstämmige Muslime und auf Konvertiten, die hierin die Verkörperung sehen einer vermeintlich idealisierten Frühform des Islam, so wie sie es verstehen, Mohammed Reborn sozusagen, und dieses Missverständnis führt dazu, dass orientierungslose muslimische Jugendliche in kleiner Zahl, aber trotzdem nicht zu kontrollieren, dieser Bewegung zuneigen.
Müller: Wir haben ja eben in unserem Korrespondentenbericht von Klaus Remme auch die Stellungnahme von Bundesinnenminister Thomas de Maizière gehört, Michael Lüders. Wenn Sie jetzt sagen, in erster Linie Symbolpolitik, aber ein wichtiges Signal, heißt das aber umgekehrt in der Praxis kaum von Belang?
Lüders: In der Praxis wird es in der Tat keinen wesentlichen Unterschied machen. Denn machen wir uns nichts vor: Die Schlacht um den Islamischen Staat, wie geht es mit dieser Organisation weiter, welchen Einfluss wird sie haben im Kontext des internationalen Dschihad, diese Frage wird nicht entschieden werden durch deutsche Gerichte, sondern auf dem Schlachtfeld im Nahen Osten und auch mit Blick auf die Frage, ob die sunnitischen Araber bereit sind, dieser Herausforderung durch den Islamischen Staat massiv etwas entgegenzusetzen – nicht nur militärisch, sondern auch gesellschaftlich. Die Zukunft des Islamischen Staates entscheidet sich maßgeblich in Syrien und im Irak, nicht bei uns in Europa.
Müller: Wir reden, wir berichten ja meistens über die Radikalen in diesem Zusammenhang, diejenigen, die sich angeschlossen haben den IS-Milizen, die bereit sind, in diesen Dschihad zu ziehen als Deutsche, auch bereit sind, wieder zurückzukommen. Das findet viel auch in sozialen Medien statt, in den sozialen Netzwerken. Es gibt Spendensammlungen, es gibt diese Anwerbung von Kämpfern, es gibt auch eine Sharia-Miliz, eine Sharia-Polizei, wie wir ja vor einigen Tagen gesehen haben am Beispiel in Wuppertal. Gibt es eine einflussreiche Bewegung auch von jungen Muslimen, vielleicht sogar von Islamisten, die dagegen opponieren, die einen Gegentrend bilden?
Regime sind zögerlich in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat
Lüders: Alle führenden muslimischen Verbände in Deutschland, aber auch in Europa und im Kontext der arabischen Welt, etwa die Al-Azhar-Universität in Kairo, das Sunnitische Zentrum der islamischen Welt, haben die Aktivitäten des Islamischen Staates verurteilt. Nichts desto Trotz muss man sagen, dass viele sunnitische Muslime in Europa, aber auch im Nahen Osten in einer Art Schockstarre verharren im Augenblick gegenüber dem islamischen Staat, weil deren enormer Siegeszug vielen selber unheimlich ist. Sie können es sich nicht erklären, wie es gelingen konnte, dass eine solche reaktionäre gewalttätige Bewegung in so kurzer Zeit einen so großen Rückhalt finden konnte. Natürlich kann man das erklären durch den Zusammenbruch der staatlichen Strukturen in Irak und in Syrien, aber nichts desto Trotz: Es wird hier natürlich ein grundlegendes gesellschaftliches Problem offenbar, jenseits des Staatszerfalles, und hier müssen sich die Muslime auch in der arabischen Welt, die sunnitischen Muslime, erst sortieren, und das Ganze wird natürlich nicht dadurch leichter gemacht, dass die jeweiligen Regime in der arabischen Welt, die ja mehrheitlich sunnitische Regime sind, sehr zögerlich sind in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat, aus Sorge, selber ins Visier zu geraten dieser Terrororganisation.
Müller: Wenn Sie sagen, Herr Lüders, das ist eine geistige ideelle Auseinandersetzung, und es ist ja auch über Jahre gewachsen, dieses Bewusstsein oder auch diese Bereitschaft, dort mitzumachen, sich zu beteiligen, sogar aktiv mitzukämpfen – über die Zeitperspektive redet keiner. Versuchen wir beide das. Dies ist sehr schwierig. Reden wir hier über Jahrzehnte?
Lüders: Ich würde sagen, das ist ein sehr, sehr langfristiges Phänomen, und es ist nicht damit getan, den Islamischen Staat militärisch zu besiegen. Das alleine wird schwer genug sein. Deren militärische Führung, die übrigens zu einem erheblichen Teil aus ehemaligen Kadern des Regimes von Saddam Hussein besteht, deren militärische Führung ist zwar skrupellos, aber keineswegs dumm. Diese Leute wissen ganz genau: Sie haben zynisch berechnet, welche Reaktionen es zur Folge haben wird, wenn man zwei amerikanische Journalisten köpft. Genau das ist geschehen. Wir haben jetzt Bemühungen der USA, der Europäer, etwas militärisch zu unternehmen in der Region. Genau in diese Falle möchte der Islamische Staat die westlichen Staaten tappen sehen. Sie haben erkannt, dass in Afghanistan der Kampf gegen die Taliban dort ja eben nicht mit einer vernichtenden Niederlage der Taliban geendet hat, sondern im Gegenteil: Die Taliban sind heute stärker, als sie es waren im Jahr 2001, und es gibt sie heute auch in Pakistan, was vorher nicht der Fall war. Vor diesem Hintergrund ist das Kalkül des Islamischen Staates, holt die Europäer, die Amerikaner auf unser Schlachtfeld, dort werden wir sie in die Enge zu treiben versuchen.
Es ist ein sehr langfristiges Phänomen
Müller: Sie haben den Horizont jetzt schon erweitert. Wir wollten ja nicht nur über das heutige Verbot innenpolitisch in Deutschland sprechen, sondern auch international auf die Situation im Nahen Osten schauen. John Kerry versucht im Moment, die Amerikaner, weltweit so viele verbündete Partner wie möglich mit ins Boot zu holen. Auch die Deutschen sollen sich beteiligen, vielleicht sogar über Waffenlieferungen hinaus. Es hat eben eine Stellungnahme der Bundesregierung noch einmal gegeben: Es gibt keine weitere deutsche Beteiligung. Wir müssen das abwarten, ob das politisch nach wie vor auch in einigen Tagen, in einigen Wochen gilt. Aber viele fragen sich ja jetzt: Das ist ein Konflikt in der Region, im Nahen Osten, und die arabischen Staaten sollen auch wiederum mit eingebunden werden. Jetzt haben die Amerikaner gesagt, wir setzen keine Bodentruppen ein. Warum setzen die Araber keine Bodentruppen ein?
Lüders: Ja, die Frage ist sehr berechtigt. Und die ehrliche Antwort lautet, weil die Bodentruppen der arabischen Staaten nicht zuverlässig sind. Wir haben ja im Falle der irakischen Armee gesehen, dass sie weggelaufen sind, kaum dass die ersten Schüsse gefallen sind. Sie wissen, diese regulären Soldaten der irakischen Armee, die schlecht bezahlt sind, dass sie gegen die Guerilla-Kämpfer des Islamischen Staates kaum eine Chance haben. Und auch die hochgerüstete Armee Saudi-Arabiens oder Jordaniens beispielsweise ist der Guerilla-Taktik der Dschihadisten des Islamischen Staates nicht gewachsen. Die traditionellen arabischen Armeen sind Panzerarmeen und sie sind in der Lage, die eigene Bevölkerung zu unterdrücken, aber nicht in der Lage, eine Guerilla-Armee zu bekämpfen. Sie sind nicht so flexibel, sie sind dafür nicht ausgerüstet - mit einer einzigen Ausnahme, und das ist die Armee von Baschar al-Assad, dem syrischen Diktator. Dessen Armee hat sich mittlerweile auf die Methodik des Islamischen Staates eingespielt. Auch sie kämpfen mit Pickup-Trucks, auf die schwere Maschinengewehre gepflanzt werden und mit denen man dann versucht, gegen die Kämpfer des Islamischen Staates vorzugehen. Ansonsten aber fehlt es an militärischer Erfahrung im Umgang mit diesen Dschihadisten, die die Guerilla-Taktik auf ein sehr hohes Niveau perfektioniert haben, und das ist eine große Herausforderung. Man hat nicht wirklich ein Konzept. Die arabischen Staaten haben kein militärisches Konzept, die regulären Armeen, mit dieser Guerilla-Armee fertig zu werden.
Guerilla-Taktik auf ein sehr hohes Niveau perfektioniert
Müller: Die Panzer, die wir nach Riad liefern, die die Deutschen nach Riad liefern, andere Nationen auch, die können höchstens, wie Sie es gesagt haben, dazu benutzt werden, nach innen weiter Druck zu machen, zu unterdrücken?
Lüders: Das wäre zumindest eine Option. Auf jeden Fall muss man sagen, dass bisher bei dem Vormarsch der Milizen des islamischen Staates deren Toyota-Fahrzeuge einfach die Panzerkolonnen umfahren haben und sie von hinten dann unter Feuer genommen haben und damit sehr, sehr erfolgreich waren. Es muss wirklich klar gesagt werden, dass die Herausforderung des Islamischen Staates eine sehr, sehr ernste ist. Man kann sie nicht militärisch allein lösen, es braucht auch eine politische Maßnahme: wie geht man um mit den zerfallenden Regimen in Irak, in Syrien? War es sinnvoll, Baschar al-Assad zu isolieren, oder braucht man ihn wieder? Diese Frage wird in diesen Tagen erörtert werden. Und vor allem: Es fehlt einfach an einer liberalen sunnitischen Gegenbewegung in einem gedeihlichen gesellschaftlichen Umfeld, die dieser Bewegung wirklich die Substanz nehmen könnte. Das fehlt.
Müller: Könnte es doch sein, dass die Golf-Staaten, die viel gepriesenen und gescholtenen Golf-Staaten, politisch – wir haben jetzt über den militärischen Aspekt gesprochen – auch gar nicht so richtig da heran wollen, weil das zu gefährlich ist?
Lüders: Ja, in der Tat. Die Golf-Staaten sind vollkommen gespalten. Es gab ja wiederholt den Vorwurf, dass beispielsweise das Golf-Emirat Katar direkt die Kämpfer des Islamischen Staates unterstützen würde. Diese Behauptung ist in dieser Form falsch. Aber richtig ist, dass reiche religiöse Stiftungen und reiche Privatpersonen aus den Golf-Staaten den Islamischen Staat unterstützen, ...
Müller: Die dann geduldet werden? Die dann von staatlicher Seite geduldet werden?
Lüders: Und der Staat lässt diese reichen Institutionen und reichen einheimischen Bürger dieses auch tun, weil man sich damit nicht anlegen möchte. Die sind auch zu einflussreich. Aber die Regime selber haben große Angst vor dem islamischen Staat, allen voran Saudi-Arabien, weil sie Angst haben, ins Visier zu geraten, wie ja schon einmal zuvor zu Zeiten von Osama Bin Laden.
Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Nahost-Experte Michael Lüders. Danke für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag.
Lüders: Vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.