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Islamistische Radikalisierung
Wie Musik Dschihadisten formt

Dschihadisten werden mit "Naschids" auf den Kampf eingestimmt. Einst dienten diese islamischen Lieder der Volksfrömmigkeit, heute sind Naschids oft islamistische Mobilisierungs- und Durchhaltelieder - und das, obwohl Musik unter Fundamentalisten als verboten gilt. Die Gesänge sollen Jugendliche radikalisieren und trauernde Mütter trösten.

Von Thorsten Gerald Schneiders |
    Ein Mann schaut sich eine Internetseite über den sogenannten 'Islamischen Staate' an. Insbesondere durch das Internet als Plattform für Extremisten radikalisieren sich heute junge Menschen.
    Insbesondere durch das Internet als Plattform für Extremisten radikalisieren sich heute junge Menschen (imago / Reporters)
    "Wir haben uns entschieden, wir haben uns schon längst entschieden, für Allah und seinen Gesandten und das Leben nach dem Tod."
    Mit dieser Musik hatte es angefangen. Es war diese Melodie, dieser Gesang, der dazu beigetragen hat, dass sich eine junge Frau im Internet radikalisierte und zum Salafismus konvertierte. Diese Form der Musik hat einen eigenen Namen: Naschid.
    Im Video zu diesem Naschid: ein junger Mann. Mitte 20. Weißes Gewand, Tuch über dem Kopf. Lagerfeuerstimmung. Er sitzt im Kreis seiner Kampfgenossen. Kinder sind auch anwesend. Andächtig lauschen sie ihm, wenn er singt: "Kommt zum Dschihad - Hayya ala l-jihad".
    "Die Naschids, die Videos, die sind schon so'n starker Bestandteil, und die haben auch so einen starken Sog, wenn man sich die jeden Tag anhört, immer wieder, dann beeinflussen die einen dermaßen und manipulieren dich, und man wird halt nur noch in diese eine Richtung gedrängt und da wirklich hineingezogen, das hat wirklich Sekten-Strukturen."
    "Ich fand einfach den Naschid erstmal schön"
    Melissa - nennen wir die junge Frau so - zu ihrem Schutz. Sie war nah dran an den führenden deutschen Salafisten, die später zur Terrormiliz IS nach Syrien gingen. Sie war radikal, propagierte im Internet den Kampf gegen Ungläubige. Inzwischen hat sie sich von der Szene abgewandt, engagiert sich in De-Radikalisierungsprogrammen.
    Was sie an diesem Naschid so fasziniert hat, fällt Melissa schwer zu erklären. Der Text war es jedenfalls nicht:
    "Das war mir jetzt ganz am Anfang gar nicht klar. Ich fand einfach den Naschid erstmal schön, weil er halt eben auch so ruhig war und so. Und nach und nach hab ich dann denn Sinn immer mehr verstanden. Und das hat mir dann halten eben auch irgendwie so, so, ich weiß nicht, das hat mich dann irgendwie so in die Richtung gedrückt, irgendwie so nach und nach. Aber das hat mir irgendwie immer nur ein positives Gefühl gegeben kein negatives."
    Was Melissa beschreibt, kennen Experten. Professor Rüdiger Lohlker lehrt an der Uni Wien. Er hat dort einen Lehrstuhl für Islamwissenschaft. In einem Projekt zur Terrorismus- und Extremismusforschung namens VORTEX befasst er sich auch mit Naschids - oder Anashid wie der Plural im Arabischen heißt:
    "Also historisch haben Anashid eine ziemlich lange Geschichte, gehen also zurück bis in frühere Zeiten unter Sufis, in Sufi Versammlungen gab es Vorsänger und ähnliches, da könnte man eine Verbindung ziehen."
    Im 20. Jahrhundert kam es dann zu einer Professionalisierung dieser religiösen Musik. Musikkassetten wurden produziert und unters Volk gebracht. Damals waren es bloß religiöse Lieder. Mit Extremismus hatten sie nichts zu tun. Das änderte sich in den 70er Jahren:
    "In den 1970ern haben wir die Entstehung von, ich nenne es mal 'Islamischen Kampfliedern', die im Kontext der islamischen Frömmigkeitsbewegung der 70er, 80er Jahre an Bedeutung gewonnen haben und dann eben aufgenommen worden sind von Dschihadisten."
    Eine Wirkung wie Heavy-Metal
    Es gibt bislang nur wenige Experten, die sich näher mit der Frage befasst haben, warum Dschihadisten auf Naschids setzen. Der New Yorker Musikwissenschaftler Jonathan Pieslak hat zur Rolle von Musik beim amerikanischen Militär geforscht. In seiner Studie "Sound Targets" geht er auch auf Naschids ein. Er schreibt:
    "Ich habe dargelegt, wie US-Soldaten Heavy-Metal-Musik und Rap-Musik gehört haben, um sich auf den Kampf einzustimmen. Naschids scheinen bei gewissen muslimischen Kämpfern dieselbe Wirkung zu entfalten."
    Neben der Stärkung der Kampfesmoral hat Pieslak weitere Parallelen aufgetan:
    "Die kulturspezifischen Botschaften, die die Musik jeweils transportieren, formen eine erste Bindung zwischen der 'Pflicht gegenüber dem Land' und dem 'Dienst beim Militär oder bei einer Miliz'. Das Pflichtgefühl gegenüber einem Land und/oder einer Religion ist eines der Hauptmotive junger Rekruten, sich Kampfverbänden anzuschließen. Die Propaganda dürfte mithin versuchen, diesen Bezug zu stärken. Sowohl das US-Militär als auch islamistische Kämpfer nutzen Musik offenbar, um eben dies zu erreichen."
    Bitte nicht klagen, bitte nicht weinen
    Naschids sind nicht alle ruhig. Naschids sind unterschiedlich. Von der Musik her, vom Text. Manche werden höchst professionell produziert, manche laienhaft. Professor Lohkler macht als vier gängige Typen aus: Kampf-, Lob- und Trauer-Lieder sowie Lieder, die an Mütter gerichtet sind.
    "Das verblüfft etwas, weiß ich. Aber Mütter spielen eine sehr, sehr starke Rolle, auch in der dschihadistischen Poesie." Inwiefern? "Dass eben den Müttern gesagt wird, sie sollen nicht klagen, sie sollen nicht weinen, denn ihre Kinder sind auf dem richtigen Wege und letztlich ist da die Trauer verfehlt."
    Wie schon am Beispiel von Melissa, der jungen Aussteigerin, angeklungen ist, entfalten Naschids ihre radikalisierende Wirkung weniger über die Texte. Rüdiger Lohlker:
    "Videos sind schon zwar allein schon vom Inhalt her, vom Schnitt, von den Bildern her ein sehr emotional anreizendes Mittel. Aber sie entfalten erst ihre volle Wirkung, wenn eben ein Naschid unterlegt wird. Naschids sprechen das emotionale Element in den Jugendlichen an, sind mitreißend und prägen damit sehr viel mehr als die Texte an sich."
    Radikalisierung verläuft nie nach Schema F. Radikalisierung ist ein individueller Prozess. Die Anfänge haben oft wenig mit Ideologie oder Religion zu tun, sondern mehr mit persönlichen Krisen, persönlichen Problemlagen.
    Der französische Soziologe Far-had Khos-ro-khavar hat gerade eine vielbeachtete Studie dazu vorgelegt. Sie heißt schlicht: "Radikalisierung". Er schreibt:
    "Nicht unbedingt muss Religion, genauer: eine radikal einseitige Auslegung des Islam als Treiber individueller und kollektiver Radikalisierung hinzukommen – der Weg in den Terror kann, muss aber nicht über die Moschee führen. Bei immer mehr 'ausländischen Kämpfern' und Attentätern stellt man nur ganz oberflächliche Berührungen mit der Religion fest."
    Pragmatismus trotz Extremismus
    Schon die Existenz der Naschids selbst deutet darauf hin, dass vieles im Dschihadismus weniger mit religiöser Überzeugung zu tun hat, als man vermuten könnte. Es ist bekannt, dass gerade konservativere Muslime öfters die Auffassung vertreten, sowohl Bilder als auch Musik seien im Islam verpönt, wenn nicht sogar gänzlich verboten. Und ausgerechnet die "Hardcore"-Islamisten von der Terror-Organisation IS verstoßen nun dagegen? Professor Lohkler überrascht das nicht:
    "Es ist so etwas wie ein Pragmatismus extremistischer Gruppierungen, zu nehmen was zur Hand ist. Wir unterschätzen häufig den Pragmatismus solcher Gruppen."
    Stellt sich die Frage, was kann man gegen Radikalisierung über Naschids tun. Mit Verboten werden sich nur Teilerfolge erreichen lassen, argumentiert Lohlker:
    "Es gab immer wieder Versuche, die Online-Foren, beispielsweise Blogs und Homepages vom Netz zu nehmen. Das Material ist regelmäßig wieder aufgetaucht. Dennoch bewirkt es eine partielle Störung für bestimmte Momente und das ist schon Mal sehr gut. Wer weiß, wenn ein Jugendlicher gerade nicht das Material zugänglich hat in einer bestimmten Krise, geht er vielleicht einen anderen Weg. Allein das ist es schon wert."
    Lohlker plädiert letztlich dafür, zunächst einmal die Naschids und ihre Wirkung besser zu erforschen. Um dann professionelle Gegenrede zu betreiben:
    "Das heißt für mich, und das ist die Folgerung, die wir hier auch gezogen haben in Wien, Wettbewerb mit Alternativen einzuleiten gegen dschihadistische und andere extremistische Materialien. Man hat dann eben einen Wettbewerb mithilfe anderer, in ähnlich kompakter Form, zugänglicher Form formulierte, alternative Auffassung des Islams in Form von Videos, in Form von kurzen Texten."