Es ist kein ganz großer Streit, der in der französischen Öffentlichkeit über den "Fall Mila" entbrannt ist, aber doch einer, der seit Tagen immer wieder in den Medien und Sozialen Netzwerken für neue Erregungsschübe sorgt. Wie weit geht die Meinungsfreiheit? Lässt sie auch Religionskritik zu? Ja, natürlich – sagen die einen, doch wo eine Religion beschimpft, Gläubige beleidigt werden, fällt die Antwort schon nicht mehr so eindeutig aus.
Im Mittelpunkt des Streits steht die 16-jährige Schülerin Mila, die inzwischen in Frankreich eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Wie Mila der Tageszeitung "Libération" erzählte, begann alles mit einem Live-Video auf Instagram, in dem sie sich mit einer lesbischen Bekannten über die Schönheit arabischer Frauen unterhielt. Dabei habe sich ein muslimischer Mann eingemischt und sie als "dreckige Lesben" beschimpft. Erst daraufhin habe sie auf Instagram jenes Video veröffentlicht, um das sich der jetzige Streit dreht. In dem Video sagt Mila:
"Der Koran ist eine Religion des Hasses, es ist nichts als Hass darin, der Islam ist Scheiße! Ich sehe das so, ich sage, was ich denke!"
Die Reaktionen auf das Video ließen nicht lange sich auf warten, und sie fielen heftig aus. Mila erhielt so viele Morddrohungen, dass sie unter Polizeischutz gestellt wurde, auf Anraten der Polizei ging sie nicht mehr zur Schule. Zu anhaltendem Streit kam es, nachdem sich Justizministerin Nicole Belloubet im Sender Europe 1 geäußert hatte. Morddrohungen seien absolut inakzeptabel, sagte sie und weiter:
"Die Beleidigung der Religion ist ein Angriff auf die Gewissensfreiheit, das ist schwerwiegend, aber es rechtfertigt natürlich niemals solche Drohungen."
Polemik von allen Seiten
"Schockierend" seien diese Worte gewesen, kommentierte Richard Malka, der Anwalt der 16-jährigen Schülerin, mit diesen Worten habe die Justizministerin "die Propaganda der Islamischen Weltliga nachgeplappert" und deren Forderung, Gotteslästerung zu bestrafen. Die Ministerin bezeichnete ihre Worte später als "unglücklich", doch die Polemik war nicht mehr aufzuhalten. Auf den Internetseiten der Zeitschrift "Charlie Hebdo" etwa erschienen sogleich Karikaturen dazu, etwa Nicole Belloubet, voll verschleiert, Titel: "Flirt der Justizministerin mit den Bärtigen". Der Generaldelegierte des Französischen Islamrats, Abdallah Zekri, kritisierte ebenso diese Karikaturen wie die Schülerin Mila. Im Sud Radio sagte er:
"Ihr jugendliches Alter ist doch keine Entschuldigung für solche Beleidigungen! Sie wusste genau, was sie tat, sie hat Wind gesät und Sturm geerntet, nun muss sie die Folgen tragen! Natürlich bin ich gegen diese Morddrohungen! Auch die Freiheit des Wortes ist wichtig, natürlich! Aber das hatte jetzt nichts mit Meinungsfreiheit zu tun, das war eine Beleidigung, eine Provokation! Und sie wusste genau, was sie tat!"
Diese Äußerungen nannte wiederum die Staatssekretärin für die Gleichstellung der Geschlechter, Marlène Schiappa, "unwürdig" und "kriminell". Und doch eröffnete die Staatsanwaltschaft zwei Ermittlungsverfahren: gegen diejenigen, die die 16-Jährige im Internet bedrohten und dabei auch private Daten der Schülerin veröffentlichten – aber auch gegen die Schülerin selbst wurde ermittelt: wegen des Verdachts der "Hassrede in den Sozialen Netzwerken" – derlei steht in Frankreich seit einem Jahr unter Strafe. Dieses Verfahren wurde inzwischen wieder eingestellt. Und Innenminister Christophe Castaner setzte in der Nationalversammlung den Worten der Justizministerin dieses entgegen:
"In diesem Land gibt es den Tatbestand der Gotteslästerung nicht, und wir garantieren: es wird ihn mit dieser Regierung niemals geben. Die freie Meinungsäußerung in unserem Land ermöglicht es jedem, eine Religion zu kritisieren. Auch die junge Mila konnte das tun, und es ist inakzeptabel, sogar unerträglich, dass einige im Namen der Institution, die sie vertreten, sagen, dass dies verboten war. "
Mit seinem entschiedenen Auftreten konnte der Innenminister den öffentlichen Streit vorerst beruhigen. Doch jener Satz der Justizministerin, wonach die Beleidigung der Religion ein Angriff auf die Gewissensfreiheit sei, wird in der Öffentlichkeit immer wieder zitiert, oft gefolgt von der Frage: lässt Frankreich sich in seiner Kritik am Islamismus zu sehr einschüchtern – aus Angst vor Repressalien?