Mit rund 100 Muslimen haben Farhad Khosrokhavar und einige Doktoranden Anfang 2020 in zwei nordfranzösischen Kleinstädten ausführliche Gespräche geführt: junge Leute aus der Mittelschicht, die es im Leben zu etwas gebracht haben und die sich selbst als Bürger der Republik bezeichnen. Doch das Fazit, das der franko-iranische Soziologe Khosrokhavar zieht, wirkt eher bedrückend.
"Der aktuelle Bürgermeister von London ist pakistanischer Abstammung. Dass in Frankreich nun jemand mit nordafrikanischen Wurzeln Bürgermeister wird, ist sehr unwahrscheinlich."
Laizistisches Bürgertum als Ideal
Khosrokhavar warnte schon 1995 mit seinem damals veröffentlichten Buch "Der Islamismus und der Tod" vor dem Erstarken des radikalen politischen Islam. Seit 2013 beschäftigt sich der Forscher mit den "Kollateralschäden" der Entwicklung, der zunehmenden Islamfeindlichkeit in Frankreich. In seiner jüngsten Studie befragte er Mittelschicht-Muslime zur alltäglichen Islamophobie.
"Aufnehmen konnten wir die Gespräche nicht, um eine Selbstzensur der Teilnehmer zu verhindern. Häufig reagierten sie anfangs sehr roh und aggressiv. Sie hatten Angst, dass ihre Aussagen gegen sie verwendet werden könnten, dass wir vom Geheimdienst sind. Vor allem Jüngere hegten diese Befürchtung."
Doch die Forscher konnten Zitate mitschreiben. Ahmad, Inhaber mehrerer Läden, der eigentlich anders heißt, vertraute ihnen an:
"Ich bin Bürger und erfolgreicher Geschäftsmann. Wieso gilt es als suspekt, wenn ich auf der Gemeinde- oder Landesebene politisch aktiv würde? Was ist daran so schlimm?"
Ein anderer Studien-Teilnehmer erklärte:
"Wir sehen uns mit einer Art Republikanismus der Gesellschaft konfrontiert, die Arabern das Recht abspricht, gute laizistische Bürger zu sein, weil man sie die Republik betreffend finsterer Absichten verdächtigt."
Muslime stehen unter Generalverdacht
Viele Teilnehmer der Studie meinten, die Wunden der Kolonialzeit seien noch nicht verheilt. Nicht zu Unrecht, sagt Khosrokhavar. Zudem fühlten sie sich unter Generalverdacht gestellt, sich in ihrer Community abzuschotten. Und: Auch Angehörigen der Mittelschicht seien wirtschaftliche Probleme nicht fremd.
"Um die zu lösen, wählen manche einen Beruf, der wenig Kontakt beschert mit 'Weißen', wie sie 'alteingesessene' Franzosen nennen. Zum Beispiel im Informatik-Sektor, als selbstständige Experten. Oder als Fahrer bei Uber, für die aus der Unterschicht. Weil sie die Vorurteile der Gesellschaft fürchten. Und selbst Vorurteile der Gesellschaft gegenüber entwickelt haben."
Reaktion und Gegenreaktion, die sich, so der Soziologe, gegenseitig hochschaukeln. Khosrokhavar spricht von einer "gläsernen Decke", mit der Muslime aus Frankreichs Mittelschicht konfrontiert seien. Zum selben Schluss kommt eine Umfrage des Pariser Meinungsforschungsinstituts IFOP von vor einem Jahr.
Erstmals wurden da muslimische Franzosen zum Thema Diskriminierung befragt. Von Benachteiligungen im Laufe seiner Berufskarriere sprach jeder vierte Befragte - fünf Mal mehr als in der Gesamtbevölkerung. Noch erschreckender ist ein Detail: Unter den befragten Muslimen, die Führungspositionen ausüben, erklärten 63 Prozent, sie seien schon gezielt diskriminiert worden.
"Beim Thema Islam verkrampft sich alles"
"In Frankreich nimmt, über einen längeren Zeitraum gesehen, die Toleranz zu."
Sagt der Soziologe Vincent Tiberj. Er hat die regelmäßigen Umfragen der "Nationalen konsultativen Menschenrechts-Kommission" über Jahrzehnte hinweg analysiert.
"Ob es nun um die Lage der Frauen geht, um Homosexualität oder auch generell um Einwanderer - die französische Gesellschaft ist heute toleranter denn je."
Beim Thema Islam allerdings wirkt die Toleranzkurve wie auf Zickzack-Kurs. In der jüngsten repräsentativen Umfrage von Oktober 2019 sagten 61 Prozent der Befragten, der Islam sei nicht kompatibel mit den Werten der französischen Gesellschaft. Kaum weniger als 2003. Dabei hatte bei einer Erhebung im Jahr 2014 nur noch jeder Zweite erklärt, der Islam sei nicht kompatibel mit den Werten der Republik. Doch das war vor Beginn der dschihadistischen Terrorwelle ab Januar 2015.
"Beim Thema Islam verkrampft sich alles. Das betrifft nicht mehr nur die Religion, sondern auch jene, die sie praktizieren. Weil das Thema zunehmend politisiert wird."
Das begann beim erfolgreichen Unterfangen der Rechtsextremen, die Themen Einwanderung und Islam miteinander zu verknüpfen. Es folgten die Konservativen: Nicolas Sarkozy, ab 2007 Staatspräsident, beschwor in seiner Amtszeit mehrfach die "christlichen Wurzeln Frankreichs und Europas".
Zweifaches Maß
Nunmehr bedient sich die Politik massiv der Werte der Republik: Die seien hochzuhalten, als Bollwerk gegen den radikalen politischen Islam. Wobei trotz gegenteiliger Versicherungen die Grenze zwischen Islamisten und Muslimen immer schwammiger gezogen wird.
Ein Beispiel: Die Gesetzesvorlage zum Kampf gegen den radikalen politischen Islam vom 9. Dezember sieht auch ein Polygamie-Verbot vor. Dazu äußerte sich Marlène Schiappa, in der Macron-Regierung ehemals Gleichstellungs-Ministerin, nun zuständig für Staatsbürgerfragen, erklärt Soziologe Vincent Tiberj.
"Die Ministerin verurteilt die Polygamie – aber sie akzeptiert die 'trouples'. So nennt sich eine neue, aber absolut minoritäre Modeerscheinung: Paare mit drei Partnern, die zusammenleben. Das sieht man nun oft in nordamerikanischen Netflix-Serien. Dass sie einerseits traditionelle Bigamie ablehnt und andererseits 'trouples' befürwortet, hat die Ministerin einfach mal so dahingesagt. Schon merkwürdig, wie da jemand, der eigentlich den linken Flügel der Regierung inkarniert, mit einer solchen Bemerkung eine Religion anvisiert. Zudem geht Schiappa dabei prinzipiell von einem aus: Polygamie stehe für Islam. Ganz so, als hätten alle Muslime eine Neigung zur Polygamie. Dabei belegen Erhebungen, dass Polygamie in Frankreich sehr selten ist, auch unter den hiesigen Muslimen."
Diskurse wie der von Schiappa dürften kaum geeignet sein, Frankreichs Gesellschaft für mehr Toleranz Islam und Muslimen gegenüber zu erwärmen. Der Forscher Tiberj setzt seine Hoffnung in die junge Generation: Die sei multikulturell und offen. Und in ihrem Jahresbericht zitiert die "Beobachtungsstelle für die Laizität" eine aktuelle Umfrage. Eines ihrer Ergebnisse: 68 Prozent der Befragten sind der Ansicht, die Laizität werde von den Politikern zu oft instrumentalisiert.