Nicht Mathe, nicht Deutsch, nicht Biologie – kein Fach in der Schule hat verfassungsrechtlichen Rang, bis auf eines: Religion. In Artikel 7, Absatz 3 des Grundgesetzes heißt es: "Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach." Er wird "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt". Stefan Korioth, Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität:
"Der bekenntnisgebundene Religionsunterricht wird in den öffentlichen Schulen so behandelt wie jedes andere Unterrichtsfach. Mit einer Besonderheit: Die inhaltliche Gestaltung geschieht wegen der Bekenntnisgebundenheit des Unterrichts durch die Religionsgemeinschaften selbst. Der Staat muss im Curriculum der Schule den Religionsunterricht berücksichtigen, er muss die Kosten tragen und er muss entsprechende Lehrerkapazitäten vorhalten."
Die Lehrpläne gestalten die Religionsgemeinschaften, der Staat bleibt weltanschaulich neutral. So legten es die Autoren des Grundgesetzes 1949 fest, in einer Zeit, da die religiöse Landschaft durch zwei christliche Volkskirchen dominiert war.
"Als Artikel 7, Absatz 3 des Grundgesetzes in Kraft trat, gehörte praktisch jeder Schüler der katholischen oder der evangelischen Kirche an. Das hat sich natürlich inzwischen grundlegend geändert, vor allem in den östlichen Bundesländern und in den Großstädten. Aber auch in dieser Situation kann bekenntnisgebundener Religionsunterricht noch sinnvoll sein. Man muss versuchen, die religiöse Pluralität mit in die Schule hineinzunehmen, und das zielt natürlich im Moment vor allem auf den Islam."
Beiräte als Übergangslösung
Schon seit Jahren fordern muslimische Vertreter Islamunterricht nach Artikel sieben – also keine rein informierende Religionskunde, sondern bekenntnisgebunden wie bei Katholiken und Protestanten. Rein rechtlich betrachtet muss der Staat alle Religionsgemeinschaften gleich behandeln. Das Grundgesetz spricht mit Blick auf den Religionsunterricht nicht nur von den Kirchen. Trotzdem ist der Weg für die Muslime steinig. Die Kultusministerien der Länder hätten am liebsten einen festen Ansprechpartner, wie sie es von den Kirchen gewohnt sind. Aber der Islam ist eher lose organisiert. Die verschiedenen Verbände repräsentieren lediglich eine Minderheit von zehn bis 20 Prozent der Muslime in Deutschland.
Deshalb experimentieren die Bundesländer mit verschiedenen Hilfskonstruktionen. So kümmern sich in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen so genannte Beiräte um Unterrichtsinhalte und die Auswahl der Lehrer. In diesen Gremien sitzen Vertreter der muslimischen Verbände, die in Nordrhein-Westfalen zur Hälfte vom Land mit ausgewählt werden. Rechtswissenschaftler Korioth:
"Das Beirats-Modell ist nicht ganz das, was der Artikel 7, Absatz 3 vorsieht. Weil der Artikel eben eine Religionsgemeinschaft als Ansprechpartner für die inhaltliche Gestaltung des Religionsunterrichts voraussetzt. Aber der Beirat kann, wenn eine religiöse Gemeinschaft auf dem Weg dazu ist, feste Strukturen auszubilden, eine gewisse Ersatzrolle auf diesem Wege einnehmen."
Nordrhein-Westfalen bietet seit 2012 islamische Religion als ordentliches Fach an. Rund 350.000 muslimische Schüler leben hier, fast die Hälfte aller muslimischen Kinder in Deutschland. Und trotzdem sei die Politik beim bekenntnisorientierten Islamunterricht lange zurückhaltend gewesen, sagt Eva-Maria El-Shabassy. Sie sitzt als Vertreterin des Zentralrats der Muslime im nordrhein-westfälischen Beirat.
"Auf Dauer wünschen wir uns natürlich schon, dass die Organisation und die Mitbestimmung so funktioniert wie bei den anderen Religionsgemeinschaften auch."
Das hieße, die Muslime wären autonom darin, die Inhalte festzulegen, die der Islamunterricht vermitteln soll – Verfassungstreue vorausgesetzt. In Hessen gelingt dies ansatzweise, dort sind zwei Gruppierungen direkte Kooperationspartner des Landes: Die türkeinahe DITIB sowie die Reformgemeinschaft der Ahmadiyya. Den Weg dafür öffnete das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2005: Die muslimischen Verbände müssten nicht im gleichen Maße verfasst sein wie die Kirchen. Ausreichend sei ein "Minimum an Organisation", ein Verband müsse zudem nicht alle Gläubigen repräsentieren, urteilten die Richter. Das Beirats-Modell könne daher eine Übergangslösung sein, aber nicht von Dauer, folgert Eva-Maria El-Shabassy.
"Besser wäre es natürlich, wenn jetzt endlich Nägel mit Köpfen gemacht würden und die muslimischen Verbände, die nun wirklich über Jahre hinweg bewiesen haben, dass sie Ansprechpartner sein können, wenn die den Status der Religionsgemeinschaft bekommen. Die Verbände haben sich wirklich bemüht, aber es wurden immer wieder Steine in den Weg gelegt. Hier in Nordrhein-Westfalen tut sich jetzt was und wir hoffen, wenn es in einem Bundesland exemplarisch vorexerziert wird, dass es dann in anderen Bundesländern auch genauso geht."
Liberale Strömungen fühlen sich schlecht vertreten
Keine befriedigende Antwort gibt es bislang auf die Frage, wie umfassend das Beirats-Modell die unterschiedlichen Strömungen des Islam repräsentiert. Derzeit dominieren die vier etablierten Verbände: DITIB, Zentralrat, Islamrat und der Verband der Islamischen Kulturzentren. Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor, Gründerin und Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes, kritisiert das:
"Weil ich finde, dass er ziemlich einseitig besetzt ist. Dort sitzen vor allem Vertreter des konservativen Islams, aber weniger liberaler gesinnte Muslime oder mystisch angehauchte Muslime. Das Spektrum wird nicht vollständig abgedeckt, und das finde ich dann zu wenig."
Denn wie es die Verfassung vorsieht, befindet der Beirat letztlich über die Grundsätze der Religionsgemeinschaft. Und da gingen die Ansichten in manchen Fragen deutlich auseinander, sagt Lamya Kaddor:
"Wie steht man zu Andersgläubigen, wie werden andere Religionen aufgearbeitet in Lehrplänen? Oder die Frage der Rolle der Frau im Islam. Darf sie wirklich genau so viel erben wie der Mann? Oder bleibt man immer noch bei dem alten, klassischen Rollenverständnis? Das fängt eben mit solchen schwierigen Positionen an. Gerade da wünschte ich mir noch etwas stärker liberalen Einfluss."
Zentralrat kritisiert bayrischen Sonderweg
Einen anderen Weg geht Bayern: Die dortigen Lehrpläne hat eine Kommission aus muslimischen und evangelischen Theologen, Pädagogen und Vertretern des Kultusministeriums entwickelt. Rund ein Zehntel der gut 100.000 muslimischen Schüler in Bayern besuchen den islamischen Religionsunterricht. Dabei handelt es sich allerdings offiziell um einen Modellversuch, den das Kabinett soeben noch einmal um fünf Jahre bis 2019 verlängerte. Der Unterricht wird vom Kultusministerium beaufsichtigt. Das hält Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, für unzureichend:
"Entscheidend ist, wer den Unterricht im Sinne des Bekenntnischarakters verantwortet. Und solange der Staat dies tut – das erkenne ich in dem bayerischen Modell bisher – kann man nicht nach dem Religionsunterricht nach Artikel 7, 3 sprechen. Nämlich dass die Letztverantwortung die Religionsgemeinschaft hat. Und das ist ja eine sehr sensible, auch eine sehr weise Angelegenheit, wie das Grundgesetz das geregelt hat. Weil wir kein Gottesstaat sind, sondern ein neutraler Staat."
Womit Mazyek hingegen kein Problem hat: Dass der Staat mit dem Islamunterricht auch integrationspolitische Ziele verfolgt. Wenn sich Kinder in der Schule auf Deutsch mit ihrer Religion auseinandersetzen, kann das ins Gemeinwesen hineinwirken.
"Wenn ein Schüler die Möglichkeit hat, in der Schule einen regulären Islamunterricht zu bekommen, dann sind das sehr positive Aspekte für sein Selbstverständnis, als gleichberechtigt in dieser Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Insofern ist das ein Ansatz, den wir auch aus integrationspolitischer Sicht gutheißen und nicht die Nase rümpfen, wenn das mit eine Zielformulierung ist."