Das Staatskirchenrecht hat bisher noch keine befriedigende Antwort für einen Islamunterricht an öffentlichen Schulen gefunden, meint Claus Dieter Classen. Er ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Greifswald:
"Das Problem ist, die Idee von Religionsunterricht ist, dass er in Übereinstimmung mit den Grundsätzen einer Religionsgemeinschaft gemacht wird. Das setzt natürlich voraus, dass es auch irgendwie eine rechtlich verfasste Gemeinschaft gibt, dass man jemanden hat, mit dem man vernünftig reden kann. Und da hat der Islam sich lange Zeit sehr schwer getan, weil es so viele kleine Organisationen gibt, und man weiß auch nicht, wer für wen so richtig repräsentativ sprechen kann, und damit verbinden sich viele praktische Probleme."
Sowohl der Staat als auch der Islam müssen also Antworten finden, wie sie sich aneinander anpassen können. Claus Dieter Classen hält deshalb den Begriff "Staatskirchenrecht" für überkommen und spricht lieber vom Religionsrecht. Mouhanad Khorchide pflichtet ihm da bei. Er ist einer der wenigen Professoren für Islamische Theologie in Deutschland und lehrt an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster islamische Religionspädagogik:
"Im Gesetz selbst, also im Kirchenrecht, ist alles angepasst an christliche Strukturen, nicht auf islamische. Und jetzt erwartet man von den Muslimen, dass sie ähnliche Strukturen auch einrichten wie die christlichen, was schwierig ist. Es ist wichtig, dass der Staat nicht erwartet von den Muslimen, dass sie sich verkirchlichen im christlichen Sinne."
Der Staat hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, wenn er alle Religionen im Bildungssystem gleichbehandeln will. Er muss entweder allen relevanten Religionen die Möglichkeit zu einem bekenntnisgebundenen Religionsunterricht einräumen, oder er bietet einen neutralen religionskundlichen Unterricht an, auf den die Religionsgemeinschaften keinen Einfluss haben. Fast alle Bundesländer haben sich für den ersten Weg entschieden - aus einer Überlegung heraus, die schon bei der Formulierung des Grundgesetzes eine Rolle spielte. Claus Dieter Classen:
"Man ging jedenfalls 1949 davon aus, dass die Masse der Schüler religiös geprägt ist und dass, wenn der Staat durch die Schulpflicht sie in einem erheblichen Umfang zeitlich in Beschlag nimmt, dass dann eben auch die religiöse Dimension des Lebens da irgendwie vorkommen sollte. Damit ist also gewährleistet, dass der Staat hier sozusagen nicht - ich sag' mal salopp - seine eigene Religion irgendwie unterrichtet, oder selber definiert, was Christentum oder Judentum oder was auch immer ist."
Wer soll die Lehrinhalte festlegen und das Lehrpersonal aussuchen?
In Brandenburg und Berlin wurde über die Frage eines neutralen Religionskunde-Unterrichts heftig gestritten. Beide Bundesländer kennen bekenntnisgebundenen Religionsunterricht nur als freiwilliges Wahlfach. Verpflichtend ist dagegen Ethik beziehungsweise das religionskundliche Fach "LER": Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde. In Brandenburg können sich die Schüler allerdings davon befreien lassen, wenn sie einen Religionsunterricht besuchen. Das Problem aber ist dort wie in vielen anderen Ländern auch: Muslimische Schüler haben diese Wahl nicht. Es gibt keinen islamischen Religionsunterricht als Regelfach. Andere Länder haben diesen inzwischen eingeführt. Am meisten Erfahrung hat hier das Land Nordrhein-Westfalen. Lamya Kaddor ist die wohl bekannteste deutsche Lehrerin für islamischen Religionsunterricht. Als Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes meldet sich die Islamwissenschaftlerin regelmäßig in der Öffentlichkeit zu Wort. Sie ist überzeugt: Zumindest in den Klassenstufen 1 bis 8 ist ein bekenntnisgebundener Religionsunterricht besser:
"Das funktioniert erst dann ganz gut, wenn sie selbst in ihrer eigenen Haltung oder Position bestätigt worden sind oder da den Halt finden. Je weniger Selbstverortung sie in ihrer eigenen Religion haben, desto schwieriger wird es, den anderen überhaupt in seiner Andersartigkeit zu erkennen. Wenn sie selbst gar nicht wissen, was sie als Muslime ausmacht, wird es sehr schwer und auch sehr unplausibel, denen zu erklären, was denn Christen als Christen eigentlich auszeichnet."
Wer aber soll die Lehrinhalte festlegen und das Lehrpersonal aussuchen? Eine einzelne islamische Institution, die für alle Muslime in Deutschland sprechen könnte, gibt es nicht. Was es gibt, ist der Koordinationsrat der Muslime (KRM). In ihm haben sich die vier größten deutschen islamischen Verbände zusammengeschlossen - mit dem ursprünglichen Ziel, daraus eine anerkannte Religionsgemeinschaft zu bilden. Das aber ist bisher nicht gelungen. Hinzu kommt, dass alle vier Mitgliedsverbände des KRM einen konservativen Islam vertreten und somit nur einen Teil der muslimischen Glaubenspraxis abdecken. Eine Untersuchung im Auftrag der Deutschen Islam-Konferenz hat ergeben, dass sich allenfalls ein Viertel der deutschen Muslime von diesen vier Verbänden vertreten fühlen. Das ist auch kein Wunder, meint der islamische Theologe Mouhanad Khorchide. Im Islam sei die christliche Tradition unbekannt, Mitglied einer bestimmten, institutionell fest gefügten Religionsgemeinschaft zu sein. Hinzu komme, dass den islamischen Verbänden in Deutschland die theologische Expertise fehle:
"Die islamischen Verbände sind als politische Verbände in den 70er-, 80er-Jahren entstanden und entsprechend haben sie sich auch so etabliert. Die sind nicht in einem theologischen Diskurs entstanden, wo es um theologische Themen gegangen ist: Der eine Verband hat die Argumente und der andere die Gegenargumente entwickelt, sodass die Verbände innerhalb eines theologischen Diskurses sich etabliert hätten."
Beirat als Ansprechpartner?
Das Grundgesetz aber verlangt, dass nur staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften Religionsunterricht an öffentlichen Schulen erteilen dürfen. Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben eine verfassungsrechtlich umstrittene Übergangslösung geschaffen: einen sogenannten Beirat für den Islamischen Religionsunterricht. Er legt in Ermangelung einer Religionsgemeinschaft die Lehrinhalte fest und muss den Lehrerinnen und Lehrern die Lehrerlaubnis erteilen. Der Staatsrechtler Claus Dieter Classen hält dieses Modell zumindest als Übergangslösung für eine gute Wahl:
"Weil es nämlich dazu führt, dass die verschiedenen islamischen Religionsgemeinschaften gemeinsam einen islamischen Religionsunterricht konzipieren. Damit hat man die ganzen Diskussionen um die Frage, welche islamische Gruppe ist für wen repräsentativ oder nicht, vermieden. Also, mit diesem Beirat, in dem eben jedenfalls alle großen islamischen Gemeinschaften vertreten sind, hat man an sich ein Gremium, das dann auch als Ansprechpartner für den Staat zur Verfügung stehen kann."
In Nordrhein-Westfalen werden die acht Mitglieder je zur Hälfte von den vier großen Islamverbänden und von der Landesregierung ernannt. Jedoch müssen alle Mitglieder die Zustimmung der Verbände erhalten. Folglich ist der konservative Islam überrepräsentiert. Die Religionslehrerin Lamya Kaddor hält das für äußerst problematisch:
"Der konservative Islam hat natürlich seine Berechtigung. Gar keine Frage. Aber ich denke, es wäre zu wenig zu sagen, dass man den Islam nur noch auf diesen Teil des Glaubensspektrums reduziert und sagt, also wir sprechen jetzt vor allen Dingen nur noch mit konservativen Muslimen darüber, was ihren Glauben eigentlich auszeichnet, oder sie selber dürfen definieren, was diesen Glauben überhaupt ausmacht."
Forderung nach Offenheit für Modell aus islamischen Ländern
Das hat zur Folge, dass Muslime, deren Glaubensauffassungen nicht in dieses Weltbild passen, es sehr schwer haben, vom Beirat die Lehrerlaubnis zu erhalten. Lamya Kaddor hat das selbst erlebt. Der Theologe Mouhanad Khorchide - selbst Mitglied im Beirat für den islamischen Religionsunterricht - hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Dabei ging es um seine Professur in Münster. Die islamischen Verbände verlangten seine Abberufung, weil seine historisch-kritische Methode zur Interpretation des Korans nicht mit einer bekenntnisgebundenen islamischen Theologie zu vereinbaren sei. Mit anderen Worten: Sein Islamverständnis ist ihnen zu liberal, weil er den Koran als ein historisches Dokument des siebten Jahrhunderts versteht, dessen Lehren nicht eins zu eins in die heutige Zeit übertragen werden könnten. Mouhanad Khorchide übt daran grundsätzliche theologische Kritik:
"Das ist eine starke Beeinträchtigung der islamischen Lehre an sich. Also, so etwas kennt der Islam nicht, dass ein Muslim über einen anderen Muslim entscheidet, bist du ein frommer Mensch oder weniger fromm. Im Diskurs entstehen durch Argumente und Gegenargumente die Meinungen, Positionen und Schulen. Und genau das würde ich mir für Deutschland für die islamische Theologie und für den islamischen Religionsunterricht in Deutschland wünschen."
Das Beiratsmodell hält Khorchide deshalb für keine gute Lösung - ebenso wenig wie die Beauftragung einzelner islamischer Religionsgemeinschaften mit der Durchführung des Religionsunterrichts. Stattdessen wünscht er sich, dass sich das deutsche Religionsrecht für ein Modell aus islamischen Ländern öffnet:
"Da hat man keine Gemeinde, die für die Muslime spricht, sondern da hat man Expertenkommissionen, die die Bandbreite kennen an islamischer Tradition. In diesen Kommissionen sollten alle vertreten sein, Sunniten wie Schiiten, Liberale wie Konservative. Es sollten vor allem Theologen drinnen sein, die keine politischen Interessen haben. Das wäre eine schöne Alternative, über die man auch reden könnte und sollte."