Bei der Berichterstattung über die Vorfälle in der Kölner Silvesternacht gehe es fast ausschließlich um die Frage der Herkunft der Täter, ihrer Religionszugehörigkeit und inwieweit der Islam solche Frauenbilder fördere. Das Polizeiversagen sowie Fragen, wie unsere Gesellschaft künftig mit Einwanderung umgehen solle, sei meist nicht Thema, kritisierte Lamya Kaddor.
Dass die meisten der Täter offenbar nordafrikanischer Herkunft sind, dürfe und solle selbstverständlich erwähnt werden. "Die Frage ist nur: Was mache ich aus dieser Information? Fange ich an zu diskutieren, ob männliche Muslime per se jetzt so ein Problem haben?"
Das Verbannen männlicher Flüchtlinge aus Schwimmädern oder das Absagen von Karnevalszügen als Reaktion seien "Entwicklungen, die nicht sein dürfen", sagte Kaddor, die zudem erste Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes ist.
Vermutlich genau aus solchen Gründen habe die Kölner Polizei anfangs nicht mitgeteilt, woher die Täter stammen.
Der Koran könne die Rolle der Frau auch aufwerten
Kaddor warf die Frage auf, ob das Verhalten jener Männer allein durch das Heranziehen religiöser Vorschriften und kulturell bedingter Normen erklärt werden könne, oder aber auch mit der politischen Lage in den Herkunftsländern.
"Diese Menschen stammen aus Regionen, die vor allen Dingen durch Diktaturen geprägt sind, wo es darum geht, ganze Gesellschaften klein zu halten, eng zu halten, sämtliche Bedürfnisse und Bürgerrechte zu beschneiden und zu unterdrücken (...). Wenn Sie in solchen Gesellschaften groß werden, wo quasi alles reglementiert wird, wo alles unterdrückt werden muss, alles, was das Individuum ausmacht, und auch das Recht auf Selbstbestimmung beschnitten wird (...) und sie plötzlich - im Alter von vielleicht 20, 30 Jahren - in ein Land auswandern, was so völlig anders ist (...), dann mag das für den einen oder anderen ganz sicher überfordernd wirken."
Kaddor betonte, dies sei nur ein Erklärungsansatz und keine Rechtfertigung der nicht tolerierbaren Taten von Köln.
In der westlichen Welt dürfe nicht der Fehler begangen werden, stets von der einen arabischen Gesellschaft zu sprechen. Der arabische Kulturraum sei äußerst vielfältig und keinesfalls gleich, so Kaddor.
Natürlich bestehe die Gefahr, dass Religion für frauenfeindliche Vorstellungen herangezogen werde und jene Ansichten damit göttlich legitimiert würden. " Aber dazu gehört auch viel böse Absicht (...) - meist von Männern, um ihren eigenen Machterhalt zu sichern."
Kaddor weiter:
"Mir ist schon klar, dass der Koran in einer Gesellschaft aufgekommen ist, die nunmal sehr patriarchalisch strukturiert war, wo die Frau quasi gar nichts wert war, vererbt und geerbt werden durfte, als Sklavin gehalten worden ist. Doch der Koran sollte versuchen, eben genau das anzugreifen, vielleicht sogar abzuschaffen."
Das vollständige Interview mit Lamya Kaddor können Sie sechs Monate lang nach Ausstrahlung in unserem Audio-Player nachhören.