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"Isolation ist ein Risikofaktor für Depression"

Bei vier von fünf Krankenhaustherapien geht es um psychische Erkrankungen. Zu schnell, zu laut, zu viel: Wie muss die Gesellschaft reagieren? Sie muss sich bewegen - wie die Patienten auch, sagt Frank Vitinius.

30.07.2010
    Jürgen Liminski: Das war Professor Friedrich Wilhelm Schwartz vom Institut für Sozialmedizin in Hannover, ein Bereich, der von sich reden macht, zum Beispiel im Krankenhausreport, den die Barmer Ersatzkasse diese Woche vorgelegt hat. Aus ihm geht ein rasanter Anstieg psychisch bedingter Einweisungen hervor. Seit 1990 ist die Krankenhausverweildauer zwar in den großen Diagnosegruppen Kreislauf, Krebs und Muskel- und Skeletterkrankungen deutlich rückläufig, die große Ausnahme aber sind psychische Erkrankungen. Vier der fünf häufigsten Krankenhaustherapien gehören mittlerweile zur Gruppe der psychischen Erkrankungen. Woran liegt das? Was kann man tun? Zu einem Gespräch dazu begrüße ich hier im Studio Frank Vitinius, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universitätskliniken Köln – guten Morgen!

    Frank Vitinius: Guten Morgen, Herr Liminiski!

    Liminski: Herr Vitinius, was sind denn die häufigsten Erkrankungen in diesem Bereich?

    Vitinius: Die häufigsten Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung sind depressive Erkrankungen, verschiedene Formen von Angsterkrankungen, sogenannte somatoforme Störungen – das möchte ich kurz erklären: Das sind körperliche Beschwerden, die nicht ausreichend körperlich begründet sind und zu erheblicher Wiederholungsdiagnostik, zu großem Leid in der Bevölkerung führen, bei den Betroffenen.

    Liminski: Psychische Erkrankungen, Krankenhaus oder Klinik, ab wann ist denn ein Patient psychisch so krank, dass er unter ständiger Beobachtung stehen muss?

    Vitinius: Da gibt es verschiedene Gründe, sogenannte Indikationen für stationäre Behandlung. Nahezu ständiger Beobachtung bedürfen Patienten mit Selbsttötungsabsichten, die akut sind, aber es gibt viele weitere Gründe, stationär zu behandeln. Einige Patienten mit Angsterkrankungen beispielsweise können angstbedingt das Haus nicht mehr verlassen, sodass sie eine ambulante Therapie nicht aufsuchen können. Wiederum andere benötigen eine höhere Therapiedosis und einen anderen Zugang zu ihren Erkrankungen in der Form, dass man beispielsweise kreative Verfahren einbindet wie Musiktherapie, Kunsttherapie, damit diese Patienten überhaupt ein Gefühl bekommen, woran liegt das, dass ich erkrankt bin. Das ist dann die sogenannte stationäre Hochdosis-Psychosomatik.

    Liminski: Seit fast einem Jahr ist ein Buch über psychische Erkrankungen auf den Bestsellerlisten, das Interesse an der Thematik ist enorm – offenbar handelt es sich bei dieser Thematik um ein Massenphänomen. Sind wir medizinisch auf solch ein Wachstum, auf solch eine Welle doch relativ neuartiger oder moderner Krankheiten vorbereitet?

    Vitinius: Also wir denken, dass es sehr bekannte Erkrankungen sind, die wahrscheinlich in höherer Häufigkeit aufgetreten sind, wir wissen aber nicht genau, ob sie wirklich häufiger auftreten. Es gibt unterschiedliche Meinungen in den Fachgesellschaften. Natürlich können wir uns aber fragen, ob es einerseits jetzt gesellschaftliche Hintergründe gibt, die Herr Schwartz ja auch bereits angesprochen hat, andererseits sind sicherlich auch Faktoren von Bedeutung wie Enttabuisierung der seelischen Erkrankung, etwas, was wir uns auch wünschen. Und wir sollten uns natürlich auch fragen, ob diese Statistiken nur unerwünschte Folgen abbilden. Zum Beispiel: Mehr Behandlungstage in dem Bereich kann ja auch bedeuten, dass die Versorgung sich gebessert hat, denn wir müssen uns klarmachen, eine Lungenentzündung kann man in 8,5 Tagen – das ist ja der Durchschnitt der Behandlung mittlerweile auch – bis zehn Tagen auch oft stationär behandeln oder anbehandeln, aber psychische Erkrankungen, die benötigen einfach längere Zeit. Seelische Prozesse entwickeln sich nicht innerhalb von sechs bis acht Tagen, und da gibt es ja auch durchschnittliche Behandlungsdauern in Deutschland, in der Psychosomatik zum Beispiel liegen bei sechs bis acht Wochen, das ist Standard. Und von daher müssen wir genau die Zahlen betrachten. Da ist der Report vielleicht auch nicht ganz so differenziert, wie wir uns das wünschen.

    Liminski: Gibt es auch eine Art Dunkelziffer all dieser Krankheiten, ich kann mir vorstellen, dass man viele überhaupt nicht so auf den ersten Blick erkennt?

    Vitinius: Sicherlich. Großes Problem auch die Frage, wie erkenne ich diese Erkrankungen, und da ist natürlich dann die Basisversorgung gefordert, nämlich durch die Hausärzte. Die Hausärzte klagen zu Recht darüber, dass sie zu wenig Zeit für Gespräche haben beziehungsweise die Gespräche nicht ausreichend vergütet werden. Da wäre sicherlich unbedingt anzusetzen, ganz, ganz wichtig. Und viele Erkrankungen werden auch nicht gleich erkannt, wie zum Beispiel soziale Phobien, dritthäufigste seelische Erkrankung, völlig unterdiagnostiziert. Und wenn Sie sich nicht genügend Zeit nehmen für ein Gespräch, unter fünf Minuten zum Beispiel bleiben, werden Sie diese Erkrankung nicht ausreichend erkennen.

    Liminski: Zu den Ursachen, Herr Dr. Vitinus: Sie sprechen vermutlich viel mit Patienten – sind es Brüche im Leben oder Veranlagung oder das Umfeld, das diese Menschen so krank macht?

    Vitinius: Ich denke, all das kommt in unterschiedlicher Ausprägung zusammen. Es ist immer auch im Einzelfall zu betrachten, was liegt vor, und wir wenden uns dem Individuum zu und verbringen in der Tat sehr viel Zeit mit den Betroffenen, und wir versuchen, die Hintergründe zu verstehen. Dazu ist es notwendig, die Lebensgeschichte erst mal auch aufzunehmen, auch zu sehen, wie der Patient wirkt, was für Gefühle er zum Ausdruck bringt, welche Gefühle völlig fehlen beispielsweise, welche Beziehungsmuster schwierig sind, die sogenannte neurotische Dimension. Es gibt natürlich auch Menschen, die ja eher so aus einem vernachlässigten Kontext kommen, teilweise auch dramatisierende Erfahrungen haben. Und es gibt teilweise auch genetische Faktoren, aber kein Depressionsgen in dem Sinne.

    Liminski: Macht denn Arbeitslosigkeit oder Beschäftigungslosigkeit krank? Nach dem Krankenkassenreport kommen Arbeitslose auf überdurchschnittlich viele Krankenhaustage.

    Vitinius: Ja, eindeutig, zumindest gilt das für Arbeitslose, die länger arbeitslos sind, also sagen wir mal ein halbes Jahr etwa. Diejenigen, die gerade arbeitslos geworden sind, scheinen noch nicht so sehr betroffen zu sein.

    Liminski: Der Mensch ist ein Beziehungswesen, fehlt den Kranken die Anerkennung als Person, werden sie krank, weil man sie nur als Funktionsträger sieht oder weil sie reich sind oder sonst nur irgendeinen Vorteil versprechen?

    Vitinius: Das ist immer im Einzelfall zu sehen. Solche Hintergründe können eine Rolle spielen, es können natürlich auch diese genannten Bindungserfahrungen von Bedeutung sein, und es gibt einmal sehr, sehr schwierige Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite haben wir ja auch eine Bindungsstörung in der Gesellschaft gewissermaßen. Wir hatten das ja auch gerade schon mal kurz im Vorgespräch angesprochen, dass es gesellschaftliche Entwicklungen gibt, die zur zunehmenden Isolation führen. Und zunehmende Isolation ist ein Risikofaktor für Depression beispielsweise.

    Liminski: Einsamkeit würde man sagen.

    Vitinius: Einsamkeit, ja.

    Liminski: Die Familie ist der Beziehungsrahmen oder Bindungsrahmen schlechthin, dort ist die selbstlose Anerkennung, früher sagte man ja auch Liebe, zu Hause. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den steigenden Krankenzahlen und den steigenden Zahlen an Zerwürfnissen in Ehen und Familien?

    Vitinius: Ich denke, dass auf jeden Fall ein Zusammenhang besteht, auch wenn es um den Suchtmittelkonsum beispielsweise geht. Da ist sicherlich viel zu tun, und die Politik ist da auch gefordert, wir alle auch. Und ich denke, es ist auch wichtig, sich da entsprechend zu engagieren.

    Liminski: Liegen die Ursachen vieler psychischer Krankheiten nicht nur in der Gesellschaft, sondern vielleicht auch in einer lieblosen Kindheit, die in späteren Jahren dann ebenso aufbricht?

    Vitinius: Das ist durchaus denkbar, wobei wir immer wieder versuchen, mit den Patienten zu sehen, was ist so der eigene Anteil an den Beschwerden und was ist sozusagen "fremd verschuldet", in Anführungsstrichen, also dass wir nicht nur bloße Schuldzuweisungen haben, sondern eher sehen, was kann ich selber beeinflussen, wie kann ich Einfluss auf mein Befinden ausüben, Stichwort Selbstwirksamkeit. Und diese Selbstwirksamkeit geht oft in der Gesellschaft ja verloren, ist eher so ein globales Ohnmachtsgefühl, was so im Laufe der Jahre – meiner Meinung nach – immer mehr aufgetreten ist.

    Liminski: Sie haben eben bei den Ursachen die Arbeitslosigkeit genannt, auch die Zerwürfnisse in Familien, sind ja beides Bereiche, die sinnstiftend sind für das einzelne Leben. Sind es grundsätzlich Sinnfragen, auf die die Menschen keine Antwort finden, was sie dann eben krank macht?

    Vitinius: Das spielt sicherlich eine bedeutsame Rolle, und deshalb arbeiten wir ja auch mit den Patienten daran. Wir versuchen die Symptomatik zu verstehen, die Hintergründe zu verstehen, dass die auch einen Sinn macht. Und Patienten, die das verstanden haben, gerade depressive Patienten, die haben ein geringeres Rückfallrisiko.

    Liminski: Wie bewerten Sie die Bedeutung des Alkohols für diesen Bereich der Krankheit?

    Vitinius: Wir selber in der Psychosomatik haben relativ wenig mit Patienten zu tun, die Alkohol in größeren Mengen trinken, ansonsten vielleicht Alkohol zur Eigenmedikation nutzen. Ich glaube aber, dass in einzelnen Gruppen in der Gesellschaft Alkoholkonsum eine große Rolle spielt, aber das ist auch wieder sehr differenziert zu betrachten. Sie können da auch einen kulturellen Vergleich führen. Also wenn Sie auf der WHO-Internetseite sind, sehen Sie auch, dass gerade in Deutschland relativ viel getrunken wird im Vergleich zu anderen Ländern.

    Liminski: Ist das nur ein Auswuchs der Krankheit oder ist das auch eine Ursache der Krankheit?

    Vitinius: Sowohl, als auch.

    Liminski: Was würden Sie denn als Präventionsstrategie empfehlen?

    Vitinius: Was empfehlen wir? Also, ich denke, wir alle bewegen uns zu wenig. Das klingt zwar ein bisschen banal jetzt, aber es sind vielleicht ein bis zwei Kilometer, die wir am Tag noch uns bewegen. Wir wissen, dass Bewegung antidepressiv wirksam ist und auch das Selbstwirksamkeitserleben stärkt. Wichtig ist natürlich auch, Kontakte zu pflegen und sich sozial zu engagieren, Pausen einzulegen im Alltag – das ist dieser Moment des stressigen Alltags, den Sie ja auch angesprochen hatten. Entspannungsübungen können auch gelernt werden, es gibt Stressreduktionsprogramme. Und solche Persönlichkeitseigenschaften, die man auch mehr entwickeln kann, wie Humor und Selbstironie, sind gesundheitserhaltend.

    Liminski: Aber ist das nicht Kurieren nur an Symptomen?

    Vitinius: Letztendlich nicht, denn wir brauchen ja auch alle Bewältigungsstrategien.

    Liminski: Also Sie empfehlen ganz simpel gesagt laufen, sich bewegen, auch sozial bewegen?

    Vitinius: Auf jeden Fall, das halte ich für ganz wichtig, dass man diesem Ohnmachtsgefühl, was bei vielen Menschen aufgetreten ist – ich kann mein Leben nicht mehr beeinflussen und es wird was mit mir gemacht – entgegentritt.

    Liminski: Psychische Erkrankungen haben viele Ursachen, und das sind gleichzeitig auch viele Gründe für die Politik, darüber nachzudenken, wenn sie die Zahl der Krankenhaustage in diesem Bereich senken will. Das war hier im Deutschlandfunk Frank Vitinius, Oberarzt an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universitätskliniken Köln. Besten Dank, dass Sie zu uns ins Studio gekommen sind!

    Vitinius: Danke für die Einladung!