Irit Cohen ist am vergangenen Wochenende wieder mit einem Transparent losgezogen. Zusammen mit dreißigtausend Israelis demonstrierte die 68-Jährige für einen politischen Wechsel: "Ich will Veränderung. Ich will, dass wir einen anderen Staat bekommen, in dem es leicht ist, zu leben. In den letzten sechs Jahren unter der Herrschaft von Netanjahu ist nichts passiert – weder sicherheitstechnisch noch gesellschaftspolitisch noch in der Wirtschaft. Deshalb rufen wir nach einem Regimewechsel."
Die sozialen Forderungen der Demonstranten sind unverändert: Bezahlbare Wohnungen. Geld für Infrastruktur und Schulen. Und ein Einkommen, das bis zum Monatsende reicht.
Anhänger der Regierung Netanjahu, wie der frühere Außenminister Moshe Ahrens, verweisen dagegen auf die großen Zahlen: Regierung und Zentralbank heben gerade ihre Prognose für die Wirtschaft an - auf 3,5 Prozent Wachstum.
"Schau, in der israelischen Wirtschaft bleibt genug zu tun. Wenn die Wirtschaft gut läuft, entsteht bei vielen der Wunsch, dass es ihnen besser gehen soll. Es soll ihnen so gut gehen wie den Nachbarn. Wir haben Vollbeschäftigung in Israel. Die Wirtschaft wächst, auch während der Krise. Wir mussten nicht gerettet werden wie die Griechen."
"Wir sind auf der Titanic"
Geht es den Demonstranten allein um mehr Wohlstand? Kann die Politik die Klagen weitgehend ignorieren? Der Wirtschaftswissenschaftler Dan Ben-David wirkt im Vergleich zur Politik drastisch. Er sagt, die wirklichen Probleme Israels liegen in der Zukunft.
"Vor uns liegen schwierige Zeiten. Eine Art Eisberg. Wir sind auf dieser Titanic. Und wir sprechen über die Landschaft, das Wetter und stellen Stühle um - das ist alles, was bei den Wahlen passiert. Wir sehen vielleicht die Spitze des Eisbergs. Wir sprechen also über Wohnungen und Preise. Aber das ist nur die Spitze, der Eisberg aber kann das Schiff versenken."
Ben David spricht beinahe eine Stunde lang über strukturelle Probleme. 90 Prozent der Steuereinnahmen stammen schon heute von 20 Prozent der Bevölkerung, beklagt der Wirtschaftswissenschaftler. Was passiert, wenn es nicht gelingt, die arabische Bevölkerung und religiöse Israelis zu integrieren?
PISA-Ergebnisse unter dem Durchschnitt
Überhaupt Bildung: Im zurückliegenden PISA-Test hatten jüdische, nicht-religiöse Kinder Ergebnisse unter dem Durchschnitt der wichtigsten OECD-Länder, beklagt der Wissenschaftler. Schüler aus religiösen Familien tauchen in dem Test erst gar nicht auf. Das staatliche Bildungsangebot für arabische Kindern liege teilweise unter dem Standard von Ländern wie Jordanien oder Tunesien.
"Das ist nicht nachhaltig. Wenn man überlegt, wessen Einkommen in Zukunft hoch genug sein wird, um Steuern zu zahlen, um das Land zu fördern. Ein Bildungssystem oder Infrastruktur wie in der Dritten Welt reichen nicht aus, um eine Wirtschaft der ersten Welt zu unterstützen. Ohne Spitzenwirtschaft können wir keine Spitzenarmee haben. Ohne eine gute Armee gibt es kein Israel."
Kein Politiker greift dieses Thema im gegenwärtigen Wahlkampf als Problem der nationalen Sicherheit auf. Viele loben stattdessen die Wirtschaft. Obwohl ein Teil der Bevölkerung in Israel seit nunmehr dreieinhalb Jahren verlangt, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme anzugehen.