Dirk Müller: Vertrauen aufbauen, Partnerschaften aufbauen, das war wohl vordringlich bei den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen. Das ganze Berliner Kabinett war dazu eigens nach Tel Aviv geflogen. Viele Gemeinsamkeiten wurden angesprochen, aber es gab auch offene Kritik der Kanzlerin an der umstrittenen Siedlungspolitik von Benjamin Netanjahu. – Mein Kollege Jasper Barenberg hat darüber mit der Grünen-Politikerin Kerstin Müller gesprochen. Sie ist Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah.
Jasper Barenberg: Die Gemeinsamkeiten sehr betonen, die politischen Differenzen eher klein halten, Hauptsache die deutsch-israelische Freundschaft leidet nicht – wäre das ein gutes Motto für den Besuch der Kanzlerin und ihrer Minister in Israel?
Kerstin Müller: Na ja, ich würde es etwas anders formulieren. Es war natürlich ein Arbeitsbesuch, ein Routinebesuch. Andererseits könnte man sagen, wir hatten auch andere Zeiten, in denen so was undenkbar gewesen wäre. Das heißt, das hat schon eine neue Qualität erreicht, diese deutsch-israelischen Beziehungen. Auf der anderen Seite gibt es in Kernfragen große Differenzen, etwa wie das jetzt vorangehen soll bei den durch die USA vermittelten Verhandlungen und ob Israel hier zu Kompromissen bereit ist. Aber auch das ist ja eigentlich normal in einem Verhältnis, was sich zunehmend normalisiert.
Barenberg: Normal auch insofern, als die Bundeskanzlerin inzwischen gelernt hat, dass es gar keinen Sinn macht, überhaupt den Versuch zu starten, Netanjahu durch deutsche Interventionen da zu einer anderen Vorgehensweise zu überreden?
Müller: Ja, man ist hier ziemlich stur. Vor allen Dingen hat Netanjahu ja eine Regierungskonstellation, in der die Mehrheit seines eigenen Kabinetts gegen die Zwei-Staaten-Lösung ist und gegen einen Kompromiss. Das ist sein Problem. Und auch seine eigene Partei, der Likud, ist vermutlich zu 80 Prozent gegen eine Zwei-Staaten-Lösung. Der rechte Flügel hat sich da durchgesetzt und es ist zwar schwer aus deutscher Sicht, aber Netanjahu ist innerhalb seiner Partei quasi eher in der Mitte oder auf der linken.
Barenberg: Er ist also gar nicht der Hardliner, für den man ihn hierzulande oft hält?
Enorm starke Siedlungsbewegung
Müller: Ja. Er ist aus unserer Sicht ein Hardliner, aber in seinem Kabinett und in seiner eigenen Partei sind die Hardliner natürlich noch viel stärker. Die Siedlungsbewegung ist einfach enorm stark. Sie hat eine eigene Vertretung mit Bennett, eine eigene Partei, sie ist in allen gesellschaftlichen Bereichen vertreten und sie hat eine massive Kampagne gegen die Zwei-Staaten-Lösung losgetreten, was aber auch bedeutet, dass man Furcht hat, dass es zu einer Vereinbarung kommt. Auf der anderen Seite stehen immer noch Umfragen in der israelischen Gesellschaft, die sagen, wenn morgen ein Agreement, eine Vereinbarung auf dem Tisch liegt, wir sind mehrheitlich dafür, ganz klar für ein Friedensabkommen mit den Palästinensern. Das heißt, die gesellschaftliche Mehrheit und vor allen Dingen die Wirtschaft, die hier eine Kampagne in dem Sinne „Netanjahu, Du musst zustimmen“ losgetreten hat, beispiellos bisher – ich lebe seit 20 Jahren in der Region, ich habe das in dem Ausmaß noch nie gesehen. Da gibt es Druck aus der Gesellschaft durchaus, zuzustimmen, und auf der anderen Seite die Konflikte in der eigenen Koalition. Hier kann Deutschland eine starke Rolle spielen, weil die Bundeskanzlerin insbesondere ein sehr hohes Ansehen in der Gesellschaft genießt.
Barenberg: Ist Deutschland, ist auch die Kanzlerin persönlich sozusagen die wichtigste Fürsprecherin für Israel in Europa?
"Bereit, die israelischen Interessen zu vertreten"
Müller: Deutschland gilt aus der hiesigen Sicht generell als das Land, oder als eines der Länder – es gibt noch zwei, drei andere, aber Deutschland ist da an vorderster Front -, das sozusagen eher bereit ist, die israelischen Interessen zu vertreten. Aber – und da muss ich selbst als ehemalige Grüne, Vertreterin der Böll-Stiftung sagen – sie hat auch die Grenzen aufgezeigt. Die Kanzlerin hat ja jetzt bei diesem Besuch, aber auch in der Vergangenheit sehr deutlich gemacht, dass sie erwartet, dass es einen Siedlungsstopp gibt und dass die Siedlungen rückgebaut werden, dass es einen Rückzug aus den Siedlungen gibt, damit es auch einen eigenständigen palästinensischen Staat in der Zukunft geben wird, der auch existenzfähig ist. Da hat sie ganz klare Worte gesprochen, auch der Außenminister, und ist insofern auch klar auf der Seite bei der Mehrheit der Europäer.
Barenberg: Auch dieses Mal, Frau Müller, denn wenn ich mich richtig erinnere, hat sie bei ihrem letzten Besuch dort deutliche Worte gefunden und die Kritik gerade an dem Ausbau der jüdischen Siedlungen doch dieses Mal, sagen wir, nur mit dem Begriff „Sorge“ eher angedeutet.
Müller: Hier ist das etwas anders rübergekommen, wird auch in allen Medien, eigentlich auch den hebräischen Medien sehr deutlich gesagt. Es gibt den Dissens in der Siedlungsfrage und die Kanzlerin habe das noch mal deutlich gemacht. Gut, man kann sich immer noch deutlichere Worte erlauben und auch vorstellen, aber ich glaube, das ist hier völlig klar, dass in der Siedlungsfrage es einen Dissens gibt. Und es ist auch klar: Was passiert denn – wir sind wirklich in entscheidenden Zeiten -, wenn jetzt Mitte März die Amerikaner ein Rahmenabkommen auf den Tisch legen, weil die Verhandlungsparteien selber nicht weiterkommen? Dann ist die Frage, was machen die Konfliktparteien. In Israel stellt sich wirklich die Frage, wird Netanjahu zustimmen diesem Rahmenabkommen, und das wird bedeuten, Kompromisse zu machen, sich zurückzuziehen aus vielen Siedlungen, nicht aus allen, aber aus vielen, dafür aber endlich zu wissen, wo die Grenzen des israelischen Staates verlaufen. Auf der anderen Seite wird es natürlich auch eine Kompromissbereitschaft oder die Notwendigkeit der Kompromissbereitschaft auf der palästinensischen Seite geben, etwa in der Flüchtlingsfrage, und das wird hart. Ich glaube, dass das ziemlich hart wird, aber ein sehr entscheidender Moment, denn wenn das jetzt nicht funktioniert, dann, glaube ich, war es das auch mit der Zwei-Staaten-Lösung.
Ohne Kompromisse keine Zwei-Staaten-Lösung
Barenberg: Es ist ja in der Vergangenheit schon viel davon die Rede gewesen, dass schon jetzt die jüdischen Siedlungen, so wie sie jetzt schon sich darstellen, so wie sie jetzt ausgebaut sind, einen funktionsfähigen zusammenhängenden Palästinenser-Staat eigentlich unmöglich machen. Sind wir schon über diese Schwelle, oder besteht die Chance noch, dass es tatsächlich einen funktionsfähigen Staat geben kann?
Müller: Das ist wirklich eine schwierige Frage. Wenn man das ja sehr zersplitterte Land sich anschaut, dann kann man Zweifel bekommen, weil die Fakten on the ground, wie man hier sagt, die sind wirklich dramatisch. Bis zu 500.000 Siedler und Siedlungen alleine in der Westbank, noch mal 300 bis 400.000 in Ostjerusalem alleine, zum Teil mit Häuserkampf verbunden. Hebron ist ein furchtbares Beispiel, Ostjerusalem furchtbare Beispiele, die ich auch mit eigenen Augen gesehen habe. Also man kann Zweifel bekommen, ob das wirklich noch rückgängig zu machen ist. Aber hier wird einem immer wieder gesagt, ja, das ist möglich. Große Siedlungen, Teile sollen ja bestehen bleiben, da soll es dann einen Gebietsaustausch geben, und andere wird der israelische Staat dann eben zeigen müssen, dass er zum Beispiel nicht mehr zum Schutz dieser Siedlungen in der Westbank oder in Ostjerusalem bereit ist, und das alleine würde dazu führen, dass doch ein großer Teil zurückkehren wird.
Müller: Mein Kollege Jasper Barenberg im Gespräch mit der Grünen-Politikerin Kerstin Müller, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung im Westjordanland, in Ramallah.
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Kerstin Müller, langjährige Bundestagsabgeordnete und außenpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, leitet seit Ende 2013 das Israel-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung.