In Israel wird pausenlos diskutiert. Rar sind die Räume der Ruhe und des Innehaltens. Als ich mich mit den beiden Dichterinnen Sharon Hass und Anat Zecharia zum Interview verabrede, schlägt Sharon Hass ihr Arbeitszimmer als Treffpunkt vor. Zwei Minuten vom zentralen Rabin-Platz entfernt, weht bei offenen Fenstern der frühe Abendwind herein.
Sharon Hass ist gerade 50 geworden. Ihr feiner Geist spiegelt sich in ihren Zügen. Wenn sie spricht oder zuhört, gestikulieren ihre Augen hinter den Brillengläsern. Die Dichterin, die 2011 mit dem renommierten Bialik-Preis und 2003 mit dem Preis des israelischen Ministerpräsidenten ausgezeichnet wurde, gehört zu den erlesensten Stimmen ihres Landes.
"Hier in Israel wird fortwährend von uns verlangt, sich grundsätzlich zu positionieren. Du musst immer irgendeinem Lager angehören. Ich verstehe das einerseits, aber zugleich gibt es etwas in mir, das sich diesem Druck verweigert. Ich verspüre das tiefe Verlangen, den inneren Raum zu vergrößern - in dem ich auch das Leid eines Anderen mitempfinden kann. Sogar dieser Raum schrumpft hier. Es geht schon so weit, dass man des Verrats, der Unmoral bezichtigt wird, wenn man sich das Leid des Anderen nur vorstellt."
Keine Stimme der Polemik
In ihrem Gedichtzyklus "Am Tag des Blutes" zum Gedenken an Chilmi Shoosha, einen elfjährigen palästinensischen Jungen, der 1997 von einem israelischen Siedler getötet wurde, schreibt Sharon Hass: "Nicht mit meinem Auge sehe ich, mit dem vierten Auge, dem fünften, dem lidlosen, das in meinem Rücken steckt, dem, das die sieht, die im Flur stehen und die Schwelle nicht übertreten." Ihre Stimme ist nicht die der Polemik. Sie beschreibt innere Prozesse, die in der öffentlichen Debatte kaum Platz finden:
"Ich bin keine Dichterin, die täglich auf die Angelegenheiten der Polis reagieren könnte. Ich habe das noch nie öffentlich gesagt, aber als ich das Bild des Gesichts von Chilmi Shoosha sah, hat er drei Tage lang mit mir hier zu Hause gelebt. Ich habe das Haus nicht verlassen, mich nicht gewaschen. Das war ein sehr intensives Erlebnis. Ich habe getrauert. Es war das erste Mal, dass ein Siedler ein Kind getötet hat. Ich hatte das Gefühl, dass der Tod dieses Kindes meine Existenz hier bedroht. Ich musste schreiben, um mich nicht trennen zu müssen von ihm."
Anat Zecharias dichterische Antwort auf die Entwicklungen in ihrem Land ist anderer Art: Die 42-jährige Dichterin verlangt sich ab, ihre Gegenwart schreibend zu gestalten.
"Ich bin der ganzen Klage ein bisschen müde. Ich frage mich ständig, was ich tun kann als ein Mensch, der schreibt. Als Dichterin, die am Fenster steht und hinausschaut und manchmal auch auf einer Demonstration ist, an einem Checkpoint steht, an einer Bushaltestelle oder einer Supermarktkasse."
In ihrem neuen Gedichtband, der diesen Sommer auf Hebräisch erscheinen wird, blickt Anat Zecharia mit dem Auge des "Anderen" auf ihre Gegenwart: "Palestinian Eye", wird er heißen und den Bedeutungsraum zwischen dem "Palästinensischen Auge" und "Palästinensischen Ich" erkunden:
"Ich bin nicht sicher, dass ich daran glaube, dass Schreiben die Wirklichkeit verändern kann. Aber ich finde, wir sollten so tun, als wäre es so. Ich kann nicht anders. Was sonst wäre der Sinn des Schreibens? Noch ein Gedicht…?"