Archiv

Israel
"Die Gemengelage ist gefährlich"

Nach der gezielten Tötung eines Kommandeurs des "Islamischen Dschihad" durch die israelische Armee befürchtet Tsafrir Cohen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung weitere Vergeltungsmaßnahmen der Extremistengruppe. Einen neuen Gaza-Krieg hält er allerdings für unwahrscheinlich.

Tsafrir Cohen im Gespräch mit Mario Dobovisek |
Israelische Soldaten tragen einen Teil einer Rakete die vom Gazastreifen auf Israel geschossen wurde.
Israelische Soldaten tragen einen Teil einer Rakete die vom Gazastreifen auf Israel geschossen wurde. (dpa/ picture alliance/ Ilia Yefimovich)
Mario Dobovisek: Israel greift in einer gezielten Militäroperation ein führendes Mitglied einer militanten Palästinenser-Organisation in Gaza an. Als Reaktion darauf fliegen Raketen auf Israel. Auch in Tel Aviv wird Alarm geschlagen. Menschen suchen Deckung, Explosionen sind zu hören.
Am Telefon begrüße ich Tsafrir Cohen. Er leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das ist die politische Stiftung der Linkspartei. Guten Tag, Herr Cohen!
Tsafrir Cohen: Guten Tag nach Köln!
"Die gesamte Politik ist blockiert"
Dobovisek: Wie haben Sie die Angriffe auf Tel Aviv heute Morgen erlebt?
Cohen: Es war ja nicht besonders schlimm. Eigentlich war das so, dass wir morgens Sirenen gehört haben. Die dauerten etwas länger. Und danach gab es dann Entwarnung. Es war eigentlich in Tel Aviv nichts. In dieser Blase des Wohllebens haben wir jetzt eine Minute lang mitbekommen, wie das Leben in und um Gaza herum eigentlich regelmäßig ist.
Dobovisek: Für wie gefährlich halten Sie diese jüngste Eskalation?
Cohen: Wir wissen es nicht und wir wissen zweierlei nicht. Wir können nur vermuten, warum diese Aktion gerade jetzt stattgefunden hat. Es können neue Geheimdienst-Informationen sein; es können aber auch interne israelische Politikfragen sein. Es gibt ein Problem mit der Bildung einer Koalition. Die gesamte Politik ist blockiert und es mag sein, dass das auch eine Rolle gespielt hat. In dem Sinne wissen wir nicht, inwieweit die israelische Regierung die Lage eskalieren möchte. Wir wissen zudem nicht, wie der islamische Dschihad darauf reagieren wird, dass einer seiner Führer jetzt umgebracht worden ist, zusammen mit seiner Frau.
Tsafrir Cohen (privat)
Tsafrir Cohen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Tel Aviv (Tsafrir Cohen (privat))
Weitere Vergeltungsmaßnahmen des islamischen Dschihads möglich
Dobovisek: Da haben wir gerade auch die Stimmen, die unser Korrespondent in Tel Aviv zusammengetragen hat, gehört, nach denen sich beide Seiten – ich drücke es mal vorsichtig aus – eher zurückhalten im Moment. Sehen Sie das auch so?
Cohen: Erst einmal müssen wir abwarten, bis das Begräbnis des getöteten islamischen Dschihad-Kämpfers zu Ende geht. Danach könnte es natürlich zu weiteren Vergeltungsmaßnahmen seitens des islamischen Dschihads kommen.
Wir wissen nicht, wie die Hamas, die ja den Gaza-Streifen mehr oder weniger beherrscht, darauf reagieren wird. Sie kann wahrscheinlich den islamischen Dschihad nicht komplett kontrollieren. Sie möchte ihn auch nicht komplett kontrollieren, weil ansonsten sieht die Hamas aus wie Kollaborateure der israelischen Armee. Sie möchte aber gleichzeitig offensichtlich keine Eskalation.
Dobovisek: Dann sind wir schon mitten drin in einer wichtigen Debatte, die wir hier auch in Deutschland versuchen wollen zu verstehen. In der Vergangenheit sprachen wir bei den Palästinenser-Organisationen nämlich immer über die Fatah im Westjordanland und die Hamas im Gaza-Streifen. Wie bedeutend ist nun die Gruppe des islamischen Dschihad, über die wir gerade sprechen?
Cohen: Wir wissen es nicht so genau. Sie geben eigentlich in der Regel keine Interviews. Es geht wahrscheinlich um mehrere hundert bis ein paar tausend Leute, die um den islamischen Dschihad agieren. Sie haben eine gewisse Infrastruktur und sind nicht ganz kontrollierbar durch die Hamas. Ideologisch sind sie nicht weit weg von der Hamas, indem sie tatsächlich eine islamistische Bewegung sind und gleichzeitig Israel bekämpfen als imperiales Wesen innerhalb des Nahen Ostens.
"Hamas ist im Moment nicht an einer Eskalation interessiert"
Dobovisek: Aus Sicht Israels sind das Terroristen.
Cohen: Ja! Terrorismus ist ja immer die Frage, von wessen Augen die Betrachtung herkommt, ob man jetzt Freiheitskämpfer sagt oder Terroristen.
Dobovisek: Jetzt herrschte ja in den vergangenen Monaten eine, ich sage mal, relative Ruhe zwischen Israel und Gaza – auch, weil die Hamas offenbar kein großes Interesse an einer Eskalation hatte. Wie ist das Verhältnis zwischen der Hamas und dem islamischen Dschihad?
Cohen: Es ist ein gespanntes Verhältnis, weil es tatsächlich um Macht geht. Der islamische Dschihad steht immer da, wenn die Hamas kompromissbereit ist. Dann kommt der islamische Dschihad, der keine Regierungsverantwortung hat, und versucht zu provozieren und natürlich seine Macht dort zu stärken.
Dobovisek: Lässt sich die Hamas davon treiben?
Cohen: Die Hamas versucht, sich nicht treiben zu lassen, hat aber nicht die gesamte Kontrolle darüber. Zum Beispiel heute: Israel entscheidet, die israelische Armee entscheidet, jemand auszuschalten, wie sie das nennen. Das passiert und dann sind die folgenden Aktionen nicht klar. Deshalb ist die Hamas im Moment, glaub ich, nicht an einer Eskalation interessiert. Es kann aber sein, dass sie natürlich in diesen Strudel involviert wird.
Dobovisek: Und wenn wir dann noch die dritte Partei mit ins Boot holen, nämlich die Fatah im Westjordanland, die ja ohnehin schon relativ wenig Einfluss auf die Hamas im Gaza-Streifen hatte, wie kompliziert ist es dann, wenn wir insgesamt auf die Palästinenser gucken?
Cohen: Das ist alles natürlich kompliziert und eigentlich auch unlösbar, weil da müssen wir gucken auf die Gesamtsituation. Womit wir es hier zu tun haben: Die Palästinenser-Gebiete sind ja sehr klein. Wir sprechen hier vom Gaza-Streifen mit 350 Quadratkilometern und getrennt von ihnen durch israelisches Stammland ist die Westbank mit etwa 6000 Quadratkilometern, also viel größer. Zwei Millionen Menschen im Gaza-Streifen, zweieinhalb Millionen Menschen in der Westbank, und dieser geographischen Trennung folgte ja auch die politische. In dem Sinne herrscht die Hamas im Gaza-Streifen und die palästinensische Autonomiebehörde, sprich die Fatah, in der Westbank. Das ist die Gemengelage, die wir haben, und die macht natürlich eine langfristige Lösung noch komplizierter, als sie es ohnehin ist.
"Gaza ist so nicht lebensfähig"
Dobovisek: Und im Endeffekt nutzt genau diese komplizierte Gemengelage Premier Benjamin Netanjahu?
Cohen: Ja, natürlich. Es gibt keine Lösung für den Gaza-Streifen. Wir sprechen hier von zwei Millionen Menschen, die abgeriegelt in einem kleinen Streifen von 350 Quadratkilometern leben, und es gibt keine Lösung für diese Leute, ohne dass die Abriegelung aufgehoben wird, aber auch, ohne dass es irgendwann mal zu einer größeren Lösung kommt, wo Gaza auch Teil eines größeren Ganzen ist. Gaza ist so nicht lebensfähig. Das sehen wir an allen Zahlen: 50 Prozent Arbeitslosigkeit, mit die höchste weltweit, darunter 70 Prozent Frauen, junge Menschen, riesigen Wassermangel, in den Schulen gibt es Zwei-Schicht-Unterricht und über die Hälfte der Bevölkerung sind von Almosen abhängig. Die Armut ist enorm. 50 Prozent der Menschen leben bei unter fünf Dollar am Tag. Das alles kann nur gelöst werden, wenn die Abriegelung des Gaza-Streifens aufgehoben wird und Gaza-Streifen zusammen mit der Westbank eine Entität darstellen, sprich einen künftigen Staat Palästina.
Dobovisek: Stattdessen sehen wir jetzt gerade eine ja offenbar gezielte Tötung durch die israelische Armee – ein Schritt, auf den Israel in der Vergangenheit eigentlich verzichtet hat und verzichten wollte. Ist das ein Politikwechsel?
Cohen: Ich glaube nicht, dass es ein Politikwechsel ist. Ich glaube, dass der Zeitpunkt sehr stark damit zusammenhängt, dass wir es mit einer Blockade, mit einer politischen Blockade in der Knesset zu tun haben und dass es in Israel keine Regierung gibt und dass es durch die Opposition, die bisherige Opposition, geführt durch Blau-Weiß – so heißt die größte Oppositionspartei – auf der einen Seite und Likud von Benjamin Netanjahu auf der anderen Seite zu keiner Regierungsbildung kommt. Ich glaube, dass wir den Zeitpunkt in diesem Zusammenhang verstehen können.
Netanjahu und Hamas haben kein Interesse an Eskalation
Dobovisek: Glauben Sie, dass das bis hin zu einem neuen Gaza-Krieg führen könnte?
Cohen: Der Punkt ist, dass ich nicht glaube, dass Benjamin Netanjahu oder aber die Hamas eigentlich einen großen Krieg möchten. Im Krieg passieren Sachen oder bei Kämpfen passieren Sachen, die dann zu anderen Sachen führen. Die Menschen verlieren die Kontrolle über das, was geschieht, und deshalb ist die Gemengelage momentan gefährlich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.