"Matzpen" wollte nicht weniger als Israel neu zu erfinden. Der Gruppe schwebte ein Israel ohne Zionismus vor. Es sollte ein säkularer Staat sein, wie die Zionisten ihn 1948 gegründet hatten – allerdings kein jüdischer Staat. Vielmehr strebten sie nach einer Zukunftsperspektive für die ganze Region, für das ganze Land, für Araber und Juden. Sie träumten von einer "sozialistischen Union des Nahen Ostens". Das Ziel war, mit dem kommunistischen Internationalismus ernst zu machen. Das Modell des Nationalstaats war aus der Sicht der "Matzpen"-Utopisten nicht tauglich, um den Nahostkonflikt zu befrieden.
"Ich würde sagen, die historische Leistung von Matzpen ist, sehr sehr früh die israelische Gesellschaft mit ihrem eigenen Gründungskonflikt konfrontiert zu haben. Das heißt allem voran, dass es hier einen Konflikt gibt zwischen einer jüdischen Staatsgründung in einer mehrheitlich arabischen Umwelt und gleichzeitig einer vorgefundenen Bevölkerung palästinensischer Araber."
Lutz Fiedler hat in Israel über "Matzpen" geforscht – in Archiven und im Gespräch mit Zeitzeugen. Seine Dissertation hat er 2015 an der Universität Leipzig verteidigt – angeleitet von seinem Doktorvater, dem deutsch-israelischen Historiker Dan Diner. Heute befasst sich Fiedler an der Hebräischen Universität Jerusalem mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs.
Anspruch der Palästinenser auf Land
Lutz Fiedler dreht den historischen Film des Nahostkonflikts rückwärts und fokussiert dabei den linken Rand des politischen Spektrums. Dabei zeigt er – jenseits des Utopischen – in der Rückschau: Was im heutigen politischen Diskurs selbstverständlich erscheint, der Anspruch der Palästinenser auf einen Teil des Landes zwischen Mittelmeer und Jordan, wurde von einer jüdisch-israelischen Minderheit schon früh gesehen und propagiert. Und umgekehrt:
"Lange bevor an die politischen Perspektiven einer israelischen Anerkennung von Seiten der Palästinenser und der arabischen Welt zu denken war, bereiteten ihr die Neuen Linken von Matzpen [so] den Weg."
Die Aktivisten von "Matzpen" machten schon zu Beginn der 1960er Jahre darauf aufmerksam, dass die palästinensische Bevölkerung legitimerweise eigene Ansprüche auf das Land anmeldete.
"Vor 1967, vor dem Sechstagekrieg, würde das auf alle Fälle bedeutet haben, den Charakter von Israel als jüdischem Staat abzuschaffen, das heißt, alle Gesetze, vorrangig das Recht auf Rückkehr, das Juden weltweit das Recht auf Erwerb der israelischen Staatsbürgerschaft garantiert, dieses Recht abzuschaffen, um auf juristischer Ebene eine absolute Gleichheit aller Staatsbürger herzustellen."
Unterdrückung führt zu Terror
Die Geschichte der israelischen Gruppierung dauerte nur gut zwanzig Jahre, von 1962 bis 1983. Ihre aktive Zeit ist vorüber. "Matzpen" war eine Abspaltung der kommunistischen Partei Israels. Akiva Orr, Moshe Machover, Oded Pilawski und ihre Freunde gehörten zur "Neuen Linken", kämpften gegen einen damals starren Stalinismus, gegen die Sowjet-Hörigkeit ihrer Partei. Nach dem Parteiausschluss gründeten die Dissidenten der KP Israels keine eigene Partei, sondern "Matzpen", eine politische Gruppierung, die eine Zeitschrift mit demselben Namen, auf Deutsch "Kompass", herausgab.
Das wichtigste Datum in der Geschichte von "Matzpen" war der Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967, bei dem Israel die Sinai-Halbinsel, die Golanhöhen, das Westjordanland und den Gaza-Streifen erobert hatte. Wenige Wochen später, am 22. September 1967, veröffentlichten Matzpen-Angehörige eine ganzseitige Anzeige in der Zeitung "Haaretz":
"Besatzung führt zur Fremdherrschaft. Fremdherrschaft führt zu Widerstand. Widerstand führt zu Unterdrückung. Unterdrückung führt zu Terror und Gegenterror."
Dem Jubel über die Eroberungen des Krieges hielten die "Matzpen"-Utopisten entgegen, dass eine langfristige Existenz Israels – Zitat - "kaum auf einer palästinensischen Katastrophe aufzubauen" war. "Matzpen"-Mitglied Haim Hanegbi, formulierte diesen empathischen Ansatz seiner Gruppe im Interview für einen Dokumentarfilm:
"Die Ursache des Konflikts sind die Siedlungen. Nicht nur die Siedlungen von heute, sondern die Siedlungen von vor 50 Jahren, vor 70 Jahren. Die Siedlungen: Man kommt zu einem Menschen, dessen Familie seit Generationen auf ihrem Stück Erde wohnt. Erst baut man daneben, dann bemächtigt man sich auch seines Hauses und schiebt ihn bisschen weg."
Begegnungen mit der PLO
Die Aktivisten von "Matzpen" waren die ersten, die das palästinensische Gegenüber Israels ernst nahmen, würdigten und die Begegnung suchten, als das in Israel noch ein Tabu war. Moshe Machover traf schon 1975 einen Repräsentanten der PLO in London. – Woher hatten Machover und seine Freunde diesen Mut und diese Unbefangenheit?
"Die Generation derjenigen, die später Matzpen gegründet haben, die mehrheitlich in Palästina geboren waren und in der israelischen Kultur der 40er/50er Jahre aufgewachsen sind, für die hat der Holocaust im Bewusstsein keine große Rolle gespielt. Das heißt, das war etwas, von dem man natürlich wusste, aber das gewissermaßen für das eigene Selbstverständnis nicht relevant und nicht derart präsent war. Deswegen ist die Schärfe der Kritik auch am eigenen Staat nur vor diesem Hintergrund zu verstehen."
Die "Matzpen"-Gründer waren fern der Verfolgung und des Mordes an Juden in Europa aufgewachsen. Sie entstammten einer vom Hebräischen geprägten Kultur, in der sie als Juden zur Mehrheit gehörten. So konnten sie ungebrochen an die kommunistischen Denktraditionen der jüdischen Arbeiterbewegung Ostmitteleuropas anknüpfen.
"Matzpen" stand von vornherein gegen die Gewalten der historischen Entwicklung. Aber die Aktivisten von "Matzpen" hatten früh den Mut, Wahrheiten zu sagen, die bis heute provozieren. Lutz Fiedler hat ein Stück Zeitgeschichte ans Licht gebracht, das drohte, in Vergessenheit zu geraten. Das Buch ist allgemeinverständlich geschrieben, setzt aber ein solides historisches Grundwissen über die Region voraus. Es ist geeignet für alle, die sich im Detail mit der Geschichte Israels und des Nahen Ostens befassen: für Historiker, Politologen und Publizisten.
Lutz Fiedler: Matzpen: Eine andere israelische Geschichte.
Vandenhoeck & Ruprecht, 408 Seiten, 70 Euro.
Vandenhoeck & Ruprecht, 408 Seiten, 70 Euro.