Vorsicht: Dieses Buch ist antisemitisch! Zu diesem Schluss zumindest müsste man kommen, wenn man den Beschluss des Bundestages vom vergangenen Mai ernst nimmt. Denn dort wird als antisemitisch bezeichnet, wer das Existenzrecht des jüdischen und demokratischen Staates Israel in Frage stellt. Und genau das tut Omri Boehm, indem er auf einen Widerspruch zwischen "jüdisch" und "demokratisch" hinweist – mit Blick auf die Verfasstheit des Staates. Denn ein jüdischer Staat sei ein Staat des jüdischen Volkes, ein demokratischer der aller Bürger. Daher sei die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk etwas Anderes als die zum deutschen Volk: jüdischer oder muslimischer Deutscher zu sein, ist sehr wohl möglich, christlicher oder muslimischer Jude dagegen kaum.
Aber sollten wir Deutsche uns angesichts der Geschichte mit Kritik an Israel nicht lieber zurückhalten? Nein, betont Boehm im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Buches:
"Äußert eure Kritik, sagt, was ihr denkt, kritisiert und lasst euch kritisieren. Lasst das Licht der öffentlichen Debatte dazu beitragen, ein rationales Urteil über den jüdischen Staat zu fällen. Es nicht zu tun, macht den Juden zum gefährlichen Anderen; die Angst, kritisiert zu werden, ist bereits mit dem Mythos von der jüdischen Macht behaftet."
Selbstbestimmung statt Souveränität, lautet die zentrale Unterscheidung des Autors. Die Juden hätten, wie jedes andere Volk, ein Recht auf Selbstbestimmung, aber keines auf eine Souveränität, die Minderheiten oder andere Völker unterdrückt. Boehm kritisiert die Siedlungspolitik und die Annexionspläne der israelischen Regierung mit scharfen Worten.
Für eine binationale Föderation von Juden und Arabern
Doch der Sündenfall ist für ihn nicht die Besetzung des Westjordanlandes 1967, sondern die Nakba: die Vertreibung von gut 700.000 Arabern während des israelischen Unabhängigkeitskrieges. Dies zu verschweigen sei das große Versagen der linken und liberalen jüdischen Intellektuellen in Israel und den USA.
"Über die Tatsache zu schreiben, dass der Aufbau eines jüdischen Staates politisch und historisch unauflöslich mit der Herstellung einer ethnischen Mehrheit und dementsprechend mit der Beseitigung der überwältigenden palästinensischen Bevölkerungsmehrheit in Palästina verbunden war, widersprach ihrer bequemen Version der Geschichte, also ließen sie es bleiben."
Dabei war ein souveräner jüdischer Staat anfangs gar nicht das Ziel der Zionisten. Omri Boehm zitiert den israelischen Staatsgründer David Ben Gurion, aber auch den als anti-arabischen Hardliner bekannten Wladimir Jabotinsky. Beiden schwebte ursprünglich eine binationale Föderation von Juden und Arabern in Palästina vor. Erst die Teilungspläne der Briten und der Holocaust hätten zu einem Umdenken zugunsten eines souveränen Nationalstaates geführt. Zu diesen Wurzeln müsse man zurück, fordert der Autor.
"Das binationale Versprechen des Zionismus lässt sich dadurch erneuern, dass wir eine Kunst des Vergessens entwickeln, eine Politik, die daran erinnert, den Holocaust und die Nakba zu vergessen, um sie nicht länger als Säulen unserer Politik zu verewigen, sondern abzutragen."
Das Erinnern und seine Implikationen
Meint er das wirklich ernst: die Nakba vergessen? Schließlich trägt ein ganzes Kapitel die Überschrift "die Nakba erinnern". Und auch die Vernichtung der europäischen Juden kann und will er nicht einfach vergessen. Aber, und das gehört zu den klügsten Gedanken des ganzen Buches, der Autor weist auf die Gefahr eines ständigen Erinnerns hin. Boehm zitiert den Holocaustüberlebenden Yehuda Elkana, der vor gut 30 Jahren in der Zeitung Haaretz schrieb, dass der Besuch israelischer Kinder in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem keineswegs nur eine heilsame Wirkung habe.
"Wir deklamierten, instinktlos und harsch und ohne Erklärung: Erinnere dich! Zachor! Zu welchem Zweck? Was soll das Kind mit diesen Erinnerungen anfangen? Viele der Bilder dieser Gräuel können als ein Aufruf zum Hass verstanden werden."
Boehm geht noch einen Schritt weiter. Die Erinnerung könne nicht nur Gefühle der Abgrenzung und des Hasses hervorbringen, sie solle es sogar. Und diese Gefühle richteten sich gegen den "Feind" im eigenen Land: die Palästinenser.
"Als die Israelis lernten, den Holocaust zur Grundlage ihres Nationalbewusstseins zu machen, bot es sich an, die Palästinenser in eine Reihe mit den Tätern zu stellen. Angeblich bekämpfen sie den Zionismus nicht aus politischen Gründen [...], sondern aus dem metaphysischen, antisemitischen Wunsch heraus, die Juden zu vernichten."
Die besondere Perspektive
Ein drastisches Beispiel dafür liefert der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu. In seiner Rede vor der Zionistischen Weltorganisation erklärt er den Großmufti von Jerusalem, al-Husseini, der mit den Nazis kollaborierte, zum Initiator der Endlösung. Hitler dagegen habe die Juden nur vertreiben wollen.
"Israel – eine Utopie" bietet eine Fülle erhellender wie schonungsloser Einblicke in die grundsätzlichen Webfehler des jüdischen Staates. Dass Omri Boehm die arabische Seite dabei nur als Opfer und nicht als beteiligte Mittäter der Geschichte sieht, kann man zu Recht kritisieren. Aber er schreibt als jüdischer Israeli, getreu dem von Platon übernommenen Motto: "Unrecht tun ist schlimmer als Unrecht leiden."
Fragwürdiger dagegen sind seine Schlussfolgerungen. Der Zwei-Staaten-Lösung erteilt er angesichts der jüdischen Siedlungen und der geplanten Teil-Annexion des Westjordanlandes eine definitive Absage. Liberale Israelis sollten zu den Ursprüngen des Zionismus zurückkehren:
"Sie sollten das holocaustbasierte Nationalstaatsaxiom aufgeben, das heute zu einer weiteren Nakba führt, und damit beginnen, eine kompromisslose gemeinsame jüdisch-palästinensische Föderation aufzubauen."
Doch so schön und ethisch wünschenswert es klingt, einer solchen Vision fehlt die Basis. Denn die Mehrheiten auf beiden Seiten sind zu sehr in ihre nationalen Ansprüche und Wunden verstrickt, als dass sie die Offenheit für eine solche Utopie hätten.
Omri Boehm: "Israel - Eine Utopie", Propyläen Verlag,
Übersetzung: Michael Adrian, 256 Seiten, 20 Euro.
Übersetzung: Michael Adrian, 256 Seiten, 20 Euro.