Tel Aviv, gestern um etwa 15:30 Uhr. Ein Motorradfahrer rast über eine Kreuzung, um noch bei Grün über die Ampel zu kommen.
Tel Aviv. Drei Stunden später. Alle Autos und Motorräder stehen nun am Straßenrand. Die Stadt kommt zur Ruhe. Die Sonne ist untergegangen. Damit beginnt der höchste jüdische Feiertag: Jom Kippur. Er beginnt am Dienstagabend und endet 25 Stunden später. Die Straßen haben jetzt Kinder übernommen.
Sie fahren mit ihren Fahrrädern durch die Stadt. Durch ein Land, in dem das öffentliche Leben zum Stillstand kommt. Die Flughäfen: Geschlossen. Ebenso wie alle Grenzübergänge. Auch alle Geschäfte, Tankstellen und Restaurants – mit Ausnahme arabischer Orte - haben zu. Die Fernseh- und Hörfunkkanäle senden: nichts.
"It’s a very special day. I love it!"
Für Esther Piekarski ist Jom Kippur ein sehr spezieller Tag. Piekarski ist ultra-orthodoxe Jüdin, die Frau eines Rabbiners und selbst eine Expertin der Thora.
"Als ich früher noch zusammen mit meinen Kindern in die Synagoge gegangen bin, am Morgen des Jom Kippur, da hielten wir an einem sehr großen Baum an. Wir standen dort. Es fuhren keine Autos. Und ich sagte meinen Kindern: Schließt Eure Augen. So klingt die Welt in Wirklichkeit."
Sich loslösen vom Alltag - und von Körperlichkeit
Jom Kippur ist ein Tag der Sühne und der Versöhnung. Im 3. Buch Mose steht, dass die Gläubigen von ihren Sünden gereinigt werden vor dem Herrn. Jom Kippur ist ein Fastentag. Und das bedeutet: 25 Stunden lang darf weder gegessen noch getrunken werden.
"Es ist komisch zu sagen, dass ich Jom Kippur mag", sagt Esther Piekarski. "Denn ich mag es, zu essen. Aber ich mag auch diesen Tag, an dem ich faste. Es ist ein Tag, an dem wir uns von jeder Form von Körperlichkeit loslösen und vom Alltag. Es ist ein Tag, der uns mit Gott verbindet und mit uns selbst."
In einer kleinen Synagoge im Norden von Tel Aviv ist es brechend voll. Viele der Gläubigen tragen weiße Kleidung. Manche von ihnen verbringen fast den gesamten Jom Kippur – also 25 Stunden - in den Synagogen und gehen nur zum Schlafen nach Hause.
Nicht religiöse Juden können sich dem Tag nicht vollständig verschließen. Und die meisten von ihnen haben damit auch gar kein Problem. Die Israelin Dana Sperandeo, etwa 40 Jahre alt, fährt an diesem Abend mit ihrer Familie Fahrrad.
"Ich mag Jom Kippur sehr. Es ist der einzige Tag an dem man sich wirklich ausruhen und nichts tun kann. Man hat die Möglichkeit in Gedanken zu versinken und Dinge zu machen, die nicht zur Routine gehören."
Danas Ehemann Ido sieht das anders. Er mag Jom Kippur nicht:
"Der Tag ist deprimierend. Er ist ohnehin traurig. Und dann liest man in den Zeitungen auch noch immer wieder Geschichten über den Jom Kippur-Krieg. Das macht es nicht einfach und ich bin froh, wenn der Tag vorüber ist."
Armee in Alarmbereitschaft
Jom Kippur im Jahr 1973. Eine Koalition arabischer Länder startete einen Überraschungsangriff. An jenem Tag also, an dem Israel besonders verwundbar war, weil das öffentliche Leben weitgehend stillstand. Der Krieg dauerte knapp drei Wochen und forderte viele Opfer auf beiden Seiten. Für viele Israelis ist der Jom Kippur-Krieg bis heute ein Trauma.
Heute befindet sich die israelische Armee am wichtigsten jüdischen Feiertag in erhöhter Alarmbereitschaft. Auf den Straßen von Tel Aviv ist davon aber nicht viel zu spüren.
"Ich glaube es ist der einzige Ort auf der Welt", erzählt die Israelin Dana, "an dem es so etwas wie einen Tag ohne Autos gibt. Die Straßen sind so ruhig. Und die Nacht ist es auch."
Und so bietet der Feiertag auch für Nicht-Juden neue Perspektiven. Wer wissen will, wie sich ein Leben ohne Autos anfühlt, sollte Jom Kippur in Israel verbringen.