Menschenrechtsanwalt Kenneth Roth
„Ich fürchte, dass die deutsche Regierung die falschen Schlüsse aus dem Holocaust zieht“

Der ehemalige Direktor von Human Rights Watch, Kenneth Roth, wirft der Bundesregierung Inkonsequenz in ihrer Nahostpolitik vor. Wenn Palästinenser von Menschenrechten ausgenommen würden, gebe es für niemanden Menschenrechte, sagt Roth im Deutschlandfunk.

Kenneth Roth im Gespräch mit Stephan Detjen | 27.07.2024
Kenneth Roth, ehemaliger Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
„Selbst die Juden in Israel werden nicht geschützt, wenn die Menschenrechte als unerheblich abgetan werden", sagt Kenneth Roth, ehemaliger Direktor von Human Rights Watch. (picture alliance / TT News Agency / Pontus Lundahl)
Der Menschenrechtsanwalt und ehemalige Direktor von Human Rights Watch, Kenneth Roth, hat das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zur israelischen Besatzung im Westjordland, dem Gazastreifen und in Ostjerusalem begrüßt.
Das oberste UN-Gerichts wirft Israel in seiner Stellungnahme vom 19. Juli eine militärische Landnahme und schwere Verstöße gegen völkerrechtlich garantierte Menschenrechte vor. Die Richter in den Haag fordern Israel deshalb zu einem Rückzug aus alles besetzten Gebieten auf.
„Es hätte auch sagen können, dass es sich um Kriegsverbrechen handelt“, so Roth. „Das war quasi eine Einladung an den Internationalen Strafgerichtshof, die Verantwortlichen für den Siedlungsbau wegen Kriegsverbrechen anzuklagen.“ Das Gutachten des Gerichtshofs ist rechtlich nicht bindend. Aber es wird erwartet, dass es den internationalen politischen Druck auf Israel weiter erhöhen wird.

Der Begriff der Apartheid

In seinem Gutachten stellt der Internationale Gerichtshof zudem einen Verstoß gegen das Internationale Übereinkommen gegen Diskriminierung fest, dass auch Apartheid definiert. Roth, der Israel ebenso wie mehrere Menschenrechtsorganisationen deswegen schon früher kritisiert hat, sieht sich durch die Rechtsauffassung des UN-Gerichts in seiner Einschätzung bestätigt: „Ich denke, dass die einzige wirklich angemessene Beschreibung der rechtlichen und faktischen Schlussfolgerungen des Gerichts darin besteht, dass es eine Bestätigung von Apartheid ist“, so Roth.

Deutschland und Waffenlieferungen

Mit Blick auf Boykottforderungen gegen Israel spricht sich Roth für eine Differenzierung aus: „Ich persönlich bin nicht für einen Boykott von Israelis oder Juden“, betont der Jurist. „Aber es gibt eine bedeutende Bewegung in diese Richtung, und in der Tat hat der Internationale Gerichtshof gesagt, dass gesetzestreue Nationen der Welt verpflichtet sind, keine militärischen Aktionen zu unterstützen, die zu Menschenrechtsverletzungen führen. Und darüber müssen wir sicherlich in Bezug auf die Kriegsverbrechen in Gaza reden“, so Roth. Es sei wichtig, zu sagen, „dass es falsch ist, wenn Deutschland oder andere Regierungen Angriffswaffen liefern, die zur Durchsetzung systematischer Unterdrückung eingesetzt werden“.
Gleichzeitig verweist Roth darauf, dass es vonseiten Deutschland „nach Beginn des Krieges in Gaza einen massiven Rückgang der Waffenlieferungen an Israel“ gegeben habe. Soweit bekannt, hat Deutschland seit November letzten Jahres keine Waffen mehr an Israel geliefert.
Roth verweist zugleich darauf, dass die Lieferung von Waffen, die für Menschenrechtsverbrechen oder der Förderung verwendet werden, Sanktionen nach dem Völkerstrafrecht nach sich ziehen könnten. „Das sollte man im Auge behalten, wenn die deutsche Regierung ihre Politik erklärt“, sagt Roth.

Die deutsche Staatsräson

Kenneth Roth, der selbst jüdischer Abstammung ist, zeigt Verständnis für die sogenannte Staatsräson der deutschen Regierung. Er verstehe „sehr gut, wie wichtig es ist, die Schrecken des Holocausts anzuerkennen und zu versuchen, Wiedergutmachung zu leisten“, sagt er.
„Meine Befürchtung ist jedoch, dass die deutsche Regierung die falschen Schlüsse aus dem Holocaust zieht“, meint Roth. Es gehe nicht nur darum, ein starkes Israel aufzubauen, wie es Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu beschlossen habe. „Man brauchte auch starke Menschenrechtsstandards.“
Roth appelliert deswegen an die deutsche Bundesregierung, „wenn sie Israel unterstützt, auch die Bedeutung der Unterstützung von Menschenrechtsstandards“ zu erkennen. Tatsächlich tue Deutschland das in den meisten anderen Teilen der Welt, handele aber „sehr inkonsequent“ in Bezug auf Israel. „Wenn Palästinenser von Menschenrechten ausgenommen sind, dann gibt es für niemanden Menschenrechte.“ Damit tue man auch den Juden keinen Gefallen. „Selbst die Juden in Israel werden nicht geschützt, wenn die Menschenrechte als unerheblich abgetan werden.“
Der US-Amerikaner Kenneth Roth ist einer der prominentesten Menschenrechtsanwälte. Von 1993 bis 2022 war er Direktor von Human Rights Watch. Heute lehrt Kenneth Roth an der Princeton University.
vg, lkn

Das Interview im Wortlaut

Stephan Detjen: Vor einer Woche hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag ein Gutachten über die Rechts- und Menschenrechtslage in den von Israel besetzten Gebieten im Westjordanland, im Gazastreifen und in Ostjerusalem veröffentlicht. Das Gericht hat nicht nur den Bau von Siedlungen, sondern die Besatzung insgesamt als illegal verurteilt, einen vollständigen Rückzug Israels gefordert und festgestellt, dass es eine eklatante Diskriminierung der Palästinenser gibt, die ebenfalls gegen das Völkerrecht verstößt.
Das ist ziemlich genau das, was Sie und Human Rights Watch Israel seit vielen Jahren vorwerfen - und sind Sie dafür scharf kritisiert worden. Das Urteil des Gerichts muss also eine Genugtuung für Sie sein. Aber Sie müssen zugleich zugestehen, dass es sich nur um ein unverbindliches Gutachten handelt. Was kann eine solche nicht bindende Erklärung des Gerichts überhaupt bewirken?
Kenneth Roth: Nun, Sie haben recht, Stephan. Es war die Antwort auf das Ersuchen der UN-Generalversammlung um eine beratende Stellungnahme. In diesem Sinne ist es nicht rechtsverbindlich. Aber gleichzeitig ist es eine Rechtsauslegung des höchsten Gerichts der Welt.
Ich habe eine Reihe von wichtigen Erkenntnissen daraus gewonnen: Zunächst einmal hat die israelische Regierung jahrelang bestritten, dass es sich im Westjordanland, in Ostjerusalem und im Gazastreifen überhaupt um eine Besatzung handelt. Sie sagte, diese Gebiete seien lediglich umstritten. Wir werden das durch Verhandlungen klären. Und das Gericht hat dieses Argument entschieden zurückgewiesen.
Es sagte, dass Israel zwar behauptet, dass es 1967 noch keinen palästinensischen Staat gab, aber was besetzt Israel dann? Das Gericht sagt, Israel habe es mit militärischer Gewalt übernommen. Das macht es zu einer Besatzung. Das ist von Bedeutung, weil nach der Vierten Genfer Konvention von 1949, die Israel und alle anderen Staaten, einschließlich Deutschland, ratifiziert haben, eine Besatzungsmacht ihre Bevölkerung nicht in das besetzte Gebiet umsiedeln darf, was Israel aber durch den Bau der Siedlungen immer wieder getan hat.
Im Wesentlichen hat das Gericht gesagt, dass diese Siedlungen illegal sind. Es hätte auch sagen können, dass es sich um Kriegsverbrechen handelt. Das war quasi eine Einladung an den Internationalen Strafgerichtshof, die Verantwortlichen für den Siedlungsbau wegen Kriegsverbrechen anzuklagen. Das war also ein sehr wichtiger Teil dieser Entscheidung.

Umstrittener Begriff der Apartheid

Detjen: Human Rights Watch wie auch andere Menschenrechtsorganisationen haben Israel seit Langem Apartheid vorgeworfen. Nun stellt der Internationale Gerichtshof einen Verstoß gegen das Internationale Übereinkommen gegen Diskriminierung fest, in dem auch Apartheid definiert wird. Aber die Richter in Den Haag haben nicht ausdrücklich von Apartheid gesprochen.
War gerade das klug? Denn dieser Begriff ist ja so umstritten, so politisch aufgeladen. Haben die Kritiker des Begriffs „Apartheid“ recht, wenn sie sagen, dass solche Begriffe nur den radikalsten und antisemitischen Feinden Israels in die Hände spielen?
Roth: Nun, erstens glaube ich, dass es wichtig ist, das zu benennen, wenn Israel die Menschenrechte verletzt, das auszusprechen und nicht eine Tatsache zu verschweigen, nur weil ein Antisemit sie verwenden könnte. Wir halten auch unsere Kritik an China nicht zurück, weil antiasiatische Rassisten sie verwenden könnten. Wir sagen einfach, was ist.
Im Fall des Apartheid-Vorwurfs hat sich das Gericht in seiner juristischen Sprache etwas gewunden ausgedrückt. Aber wenn man die Entscheidung richtig liest, stellt man fest, dass es tatsächlich Apartheid gibt …
Detjen: … Aber sie haben es nicht gesagt. Sie nannten es nicht Apartheid.
Roth: Nun, sie haben gesagt, es gebe einen Verstoß gegen die Konvention gegen rassistische Diskriminierung, die Apartheid verbietet. Das haben sie juristisch umschrieben. Es gab zum Beispiel ein Sondervotum des deutschen Richters Georg Nolte, der gegen die Feststellung von Apartheid argumentierte. Aber seine Begründung dafür war ziemlich schwach.
Er sagte, dass man nur dann von Apartheid sprechen solle, wenn das die einzig mögliche Erklärung für die vom Gericht festgestellte systematische rassistische Diskriminierung ist. Er hat also nicht bestritten, dass es rassistische Diskriminierung gibt, aber er sagt, dass vielleicht etwas anderes dahintersteckt. Und die beiden Argumente, die er anführt, ergeben keinen Sinn.
Das eine ist das Sicherheitsargument. Israel hat zwar Sicherheitsprobleme. Aber wenn man sich ansieht, was das Gericht dazu sagt, dann tragen die Siedlungen nichts zur Sicherheit bei. Sie machen die Israelis sogar unsicherer. Die Zerstörung von palästinensischen Häusern hat nichts mit Sicherheit zu tun. Die verschiedenen demografischen Maßnahmen haben nichts mit Sicherheit zu tun. Die Nutzung der Ressourcen des Westjordanlandes für Israelis hat nichts mit Sicherheit zu tun.
Bei all dem geht es mehr um die Ausbeutung und Beherrschung der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland und in Ostjerusalem als um Sicherheit. Das andere Argument von Nolte ist, dass es Israel vielleicht nur darum gehe, sich das Land anzueignen. Vielleicht geht es wirklich nicht darum, die Menschen zu beherrschen. Vielleicht will Israel wirklich nur das Land. Aber ergibt das wirklich Sinn? Denn wie kann man das Land ohne das Volk einnehmen?
Nun gibt es einige rechtsextreme Minister in Netanjahus Regierung, vor allem [Itamar] Ben-Gvir und [Bezalel] Smotrich, die offen über eine Massenvertreibung sprechen. Aber das wäre ein riesiges Kriegsverbrechen, ein massives Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und wenn Nolte sagt, dass es sich nicht um Apartheid handelt, weil es vielleicht stattdessen dieses massive Kriegsverbrechen gäbe, ergibt das auch keinen Sinn.
Ich denke also, dass die einzige wirklich angemessene Beschreibung der rechtlichen und faktischen Schlussfolgerungen des Gerichts darin besteht, dass es eine Bestätigung von Apartheid ist. Und das hat ja auch jede einzelne ernsthafte Menschenrechtsorganisation, die sich mit dem Problem befasst hat, ebenso festgestellt.
Detjen: Aber der Begriff der Apartheid ist ja auch deshalb so heikel und umstritten, weil er meist nicht im Sinne einer rechtlichen Definition verstanden wird, sondern als politischer und historischer Vergleich mit Südafrika. Und da wurde er verwendet, um eine Boykottbewegung gegen das damalige südafrikanische Regime zu legitimieren.
Nun kann der Begriff auch heute verwendet werden, um Boykottaufrufe gegen Israel zu legitimieren, die wiederum gerade in Deutschland Erinnerungen an die Boykottaufrufe gegen Juden im Nazi-Regime wecken. Der Bundeskanzler, Olaf Scholz, sagte in dieser Woche in seiner Pressekonferenz, dass die Idee eines anti-israelischen Boykotts ekelhaft sei. Das macht ja deutlich, wie emotional diese Debatte ist, besonders in Deutschland.
Roth: Nun, zunächst einmal halte ich es für wichtig, dass wir, wenn man sich zum Beispiel den Bericht von Human Rights Watch „Finding Apartheid“ ansieht, ganz ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir keine historische Analogie zu Südafrika herstellen.
Vielmehr haben wir zwei internationale Verträge angewandt und eine juristische Analyse vorgenommen: das Übereinkommen gegen Apartheid und das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Beide definieren den Begriff Apartheid. Wir haben diesen rechtlichen Standard auf die Fakten angewandt, und das war eigentlich ziemlich einfach.
Als wir unseren mehr als 200 Seiten langen Bericht vorlegten, hatte die israelische Regierung nichts dazu zu sagen. Sie konnten weder rechtlich noch faktisch etwas Falsches darin finden. Also griffen sie auf Beschimpfungen zurück, aber sie gaben stillschweigend zu, dass das eine faire Analyse war.

Gegen einen Boykott Israels

Nun zu Ihrem Punkt mit dem Boykott: Ich denke, es ist wichtig, diesen Begriff etwas zu differenzieren, denn ich persönlich bin nicht für einen Boykott von Israelis oder Juden. Aber es gibt eine bedeutende Bewegung in diese Richtung, und in der Tat hat der Internationale Gerichtshof gesagt, dass gesetzestreue Nationen der Welt verpflichtet sind, keine militärischen Aktionen zu unterstützen, die zu Menschenrechtsverletzungen führen.
Und darüber müssen wir sicherlich in Bezug auf die Kriegsverbrechen in Gaza reden, aber auch in Bezug auf die Apartheid. Und ich meine, es ist wichtig, zu sagen, dass es falsch ist, wenn Deutschland oder andere Regierungen Angriffswaffen liefern, die zur Durchsetzung systematischer Unterdrückung eingesetzt werden. Das hat eben auch der Internationale Gerichtshof so gesagt.
Lassen wir also die Nazi-Analogie des Boykotts beiseite und schauen wir uns an, ob Deutschland oder andere Nationen Kriegsverbrechen oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen unterstützen, indem sie die Mittel, die Waffen bereitstellen, die für diese Rechtsbrüche verwendet werden.

Deutschland und Waffenlieferungen

Detjen: Soweit wir das wissen, hat Deutschland seit November letzten Jahres keine Waffen mehr an Israel geliefert. Ich hatte in dieser Woche die Gelegenheit, den Bundeskanzler in seiner Pressekonferenz zu fragen, ob die Entscheidung über Waffenlieferungen durch das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in einem neuen Licht steht. Und er sagte, na ja, wir haben nicht über Waffenlieferungen entschieden. Und dann fügte er hinzu: Wir haben geliefert und wir werden liefern. Wie verstehen Sie das vor dem Hintergrund des Gutachtens aus Den Haag?
Roth: Niemand kann Deutschland vorwerfen, so zu handeln wie die Vereinigten Staaten, wo die US-Regierung Waffen im Wert von Milliarden und Abermilliarden Dollar an Israel geliefert hat, das in Gaza Kriegsverbrechen begeht. Die einzige Ausnahme ist, dass Joe Biden die Lieferung dieser riesigen 2000-Pfund-Bomben gestoppt hat, die Israel mehr als 200 Mal zur Zerstörung von Wohnvierteln in Gaza eingesetzt hat. Abgesehen davon hat die US-Regierung weiterhin Waffen geliefert.
Und das hat Deutschland nicht getan. Es gab nach Beginn des Krieges in Gaza einen massiven Rückgang der Waffenlieferungen an Israel. Und die deutsche Regierung hat sich nicht eindeutig dazu geäußert, dass sie wieder aufgenommen werden könnten.
Interessant ist, dass die britische Regierung, die auch Waffen geliefert hat, das ebenfalls überdenkt, nachdem die neue Labour-Regierung dort das Ruder übernommen hat. Ich hatte gehofft, dass Deutschland klarstellen könnte, dass es keinerlei Kriegsverbrechen in Gaza unterstützt und fördert.
Eine interessante Analogie ist der Fall von Charles Taylor, dem ehemaligen Präsidenten von Liberia, der zurzeit eine 50-jährige Haftstrafe in einem britischen Gefängnis verbüßt, weil er Kriegsverbrechen unterstützt hat, indem er Waffen an eine Rebellengruppe im benachbarten Sierra Leone lieferte, die Gräueltaten beging.
Es gibt also einen historischen Präzedenzfall, der die strafrechtliche Verfolgung von Personen ermöglicht, die Waffen liefern, um Kriegsverbrechen zu unterstützen und zu fördern. Ich gehe nicht davon aus, dass das für die US-Regierung oder die deutsche Regierung so schnell geschehen wird, aber theoretisch ist es möglich, und das sollte man im Auge behalten, wenn die deutsche Regierung ihre Politik erklärt.

Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu

Detjen: Wir haben bisher vor allem über das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs gesprochen, aber wenn wir jetzt über Strafverfahren sprechen, dann gibt es auch den anderen Fall vor dem Internationalen Strafgerichtshof gegen Benjamin Netanjahu. Das Gericht berät derzeit über den Antrag des Internationalen Chefanklägers, Karim Khan, einen Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu zu erlassen.
Und auch in diesem Fall spielt Deutschland eine aktive Rolle: Die deutsche Regierung hat diese Woche eine Stellungnahme an das Gericht geschickt, in der sie argumentiert, dass es jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, um dieses Strafverfahren weiterzuführen. Was halten Sie von diesem Argument?
Roth: Ich muss sagen, dass ich verstehe, dass die deutsche Regierung, der israelischen Regierung gegenüber sehr respektvoll sein will. Aber, dass sie so weit ging und versuchte, die Ausstellung von Haftbefehlen für Netanjahu und den israelischen Verteidigungsminister Joaw Galant zu verzögern, hat mich überrascht.
Denn die Argumente, die die deutsche Regierung vorbringt, sind so schwach, dass man glauben könnte, es gehe nicht um eine ernsthafte Auseinandersetzung. Es ist eher eine politische Geste in Richtung Israels.
So wie ich es verstehe, argumentiert Deutschland, dass der Internationale Strafgerichtshof sich an dem sogenannten Komplementaritätsprinzip orientiert. Das bedeutet, dass er nationalen Strafverfolgungsbehörden den Vortritt lassen soll. Der Internationale Strafgerichtshof soll nur dann zuständig sein, wenn es keine effektive nationale Strafverfolgung gibt.
Und Deutschland sagt, es sei unfair, dass diese Haftbefehle jetzt ausgestellt werden, weil ein Krieg im Gange ist. Und wie kann Israel im Laufe eines Krieges gegen sich selbst ermitteln? Nun, Deutschland hat dieses Argument nicht vorgebracht, als gegen Wladimir Putin Haftbefehle erlassen wurden, obwohl der Krieg in der Ukraine noch immer andauert. Niemand würde in diesem Fall so argumentieren.
Regierungen sind verpflichtet, Untersuchungen einzuleiten, auch während der Krieg stattfindet, insbesondere ein lang anhaltender Krieg, wie jetzt in Gaza. Erschwerend kommt hinzu, dass die israelische Regierung niemals eine strafrechtliche Verfolgung hochrangiger Beamter wegen Kriegsverbrechen zugelassen hat. Deutschland sollte das wissen. Sie haben das nie getan.
Und in der Tat haben wir erst vor Kurzem durch eine Enthüllung des „Guardian“ in London und des israelischen Online-Magazins „+972“ erfahren, dass der israelische Geheimdienst Mossad tatsächlich versucht hat, die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs Fatou Bensouda, die Vorgängerin von Karim Khan, durch Drohungen einzuschüchtern, mit einer Operation gegen ihren Ehemann und indem sie ihre Kommunikation abhörten. Das waren unglaublich schmutzige Tricks.
Das zeigt, dass die israelische Regierung nicht Willens ist, eine unabhängige Untersuchung zuzulassen. Sie versucht stattdessen, die Strafverfolgung mit schmutzigen Tricks zu behindern. Und um die Sache noch schlimmer zu machen: Karim Khan ist zweimal in die Region gereist und hat zweimal angekündigt, dass es seine oberste Priorität sei, die Aushungerungsstrategie Israels gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza zu stoppen.
Und obwohl er das klar gesagt hat, hat Israel die Aushungerungsstrategie fortgesetzt und nie eine Untersuchung dazu eingeleitet. Das ist der Grund, warum der Internationale Strafgerichtshof jetzt Haftbefehle beantragt hat. Es gibt also nichts, was die Behauptung der deutschen Regierung rechtfertigen würde, dass Israel irgendwie gewissenhaft vorgeht. All das ist eine Verzögerungstaktik, um zu verhindern, dass die eindeutig begründeten Haftbefehle ausgestellt werden.

Die deutsche Staatsräson

Detjen: Inwieweit können Sie verstehen, dass sich Deutschland an die Seite Israels stellt? Sie sind jüdischer Abstammung. Ihr Vater war ein deutscher Jude aus Frankfurt, der in den späten 30er-Jahren in die Vereinigten Staaten floh. Daher haben Sie die deutsche Staatsbürgerschaft.
Können Sie verstehen, dass die deutsche Regierung und große Teile der deutschen Gesellschaft das Gefühl haben, dass es diese besonderen historischen Gründe gibt, zurückhaltender zu sein als andere, wenn es darum geht, Israel zu kritisieren, selbst wenn es um mögliche Kriegsverbrechen geht?
Roth: Ich meine, ich verstehe die sogenannte Staatsräson der deutschen Regierung sehr gut, wie wichtig es ist, die Schrecken des Holocausts anzuerkennen und zu versuchen, Wiedergutmachung zu leisten. Meine Befürchtung ist jedoch, dass die deutsche Regierung die falschen Schlüsse aus dem Holocaust zieht.
Um es ganz allgemein zu sagen: Es gibt zwei verschiedene Schlussfolgerungen, die aus dem Holocaust gezogen werden. Die eine ist die Schlussfolgerung von Benjamin Netanjahu. Sie lautet, dass die Juden im Holocaust verfolgt wurden, weil sie schwach waren. Und so ist Netanjahu entschlossen, ein starkes Israel aufzubauen. Und das ist bis zu einem gewissen Grad auch richtig. Ich meine, man braucht ein starkes Israel, um es zu schützen.
Aber er geht noch einen Schritt weiter. Er hat im Grunde genommen beschlossen, dass er jeden, der Israel angreift, mit einem Schlag niederstrecken wird – und zwar mit zehnfacher Härte. Er wird das Leben der Feinde zur Hölle machen. Er wird die Genfer Konventionen zerreißen und einfach angreifen. Aber das ist die falsche Lektion, denn die andere Lektion, die, so glaube ich, die Mehrheit der Juden gezogen hat, ist, dass es nicht ausreicht, stark zu sein. Man brauchte auch starke Menschenrechtsstandards.
Wenn Palästinenser von Menschenrechten ausgenommen sind, dann gibt es für niemanden Menschenrechte. Und so ist meine Schlussfolgerung: Ich wünschte, die deutsche Regierung würde, wenn sie Israel unterstützt, auch die Bedeutung der Unterstützung von Menschenrechtsstandards erkennen, selbst wenn Israel der Akteur ist.
Tatsächlich tut Deutschland das ja in den meisten anderen Teilen der Welt, aber es handelt sehr inkonsequent in Bezug auf Israel. Und damit tut man den Juden keinen Gefallen, denn erstens lebt die Hälfte der Juden weltweit außerhalb Israels. Sie sind auf Menschenrechtsstandards angewiesen, die sie schützen. Und selbst die Juden in Israel werden nicht geschützt, wenn die Menschenrechte als unerheblich abgetan werden.
Detjen: Als Angela Merkel den Begriff von der Existenz und Sicherheit des Staates Israel als Teil der deutschen Staatsräson prägte, sprach sie ausdrücklich von einem Teil der deutschen Staatsräson, anders als die jetzige Bundesregierung, die in ihrem Koalitionsvertrag sagt, die Sicherheit Israels „ist deutsche Staatsräson“.
Glauben Sie, dass es möglich wäre, und wie könnte es möglich sein, in Anerkenntnis der Geschichte und der besonderen Verantwortung Deutschlands für Israel, das Schicksal des palästinensischen Volkes als einen anderen Teil in diese deutsche Staatsräson einzubeziehen?
Roth: Nun, ich würde sagen, dass die Staatsräson darin bestehen sollte, natürlich zu versuchen, Israel zu schützen, aber auch die Menschenrechtsstandards zu achten, die Juden schützen. Anders gesagt sollte die eigentliche Staatsräson darin bestehen, Juden zu schützen. Es wäre ein trauriges Verständnis von Staatsräson, wenn sie es Netanjahu erlauben würde, den Palästinensern keine Menschenrechte zuzubilligen, was bedeutet, dass es für niemanden Menschenrechte gibt. Das wäre eine schlechte Interpretation dessen, was Staatsräson sein sollte.
Und wissen Sie, man muss nicht einmal innerhalb Israels sehr weit schauen, um einen breiten Wunsch nach einem umfassenderen Verständnis dessen zu erkennen, was Unterstützung Israels bedeutet. Ich denke, es wäre die Pflicht der deutschen Regierung, über Netanjahu hinauszublicken und sich mit breiteren Teilen der jüdischen Öffentlichkeit zu befassen, sei es mit anderen Teilen des offiziellen Israels oder mit Juden in aller Welt.
Und ich kann sehr gut für die Juden in Amerika sprechen, dass es zwar einen konservativen Teil gibt, der eine ähnliche Einstellung hat – egal worum es geht: immer für Israel. Aber die große Mehrheit der amerikanischen Juden ist entsetzt über das, was Netanjahu tut, und sucht verzweifelt nach Unterstützung, um ihn in die Schranken zu weisen.
Detjen: Und dennoch sehen wir, wie die Beziehung zu Israel, der Fall Israel, in der amerikanischen Politik dieser Tage wie kaum etwas anderes polarisiert. Wir haben das gesehen, als Benjamin Netanjahu vor dem US-Kongress sprach. Und wir haben gesehen, wie er von den meisten republikanischen Mitgliedern des Kongresses bejubelt wurde. Wie sehen Sie den Stand der Debatte in den Vereinigten Staaten?
Roth: Nun, ich denke, die Republikanische Partei in den USA hat beschlossen, zu versuchen, mehr amerikanisch-jüdische Stimmen zu gewinnen, indem sie Israel trotz der Kriegsverbrechen, die es in Gaza begeht, umarmt. Aber ich glaube nicht, dass das erfolgreich sein wird. Historisch gesehen wählen etwa 85 Prozent der amerikanischen Juden die Demokraten. Ich sehe nicht, dass sich das wesentlich ändert, weil so viele amerikanische Juden mit dem, was Israel heute in Gaza tut, sehr unzufrieden sind.
Sie sehen die Verwüstungen, die in einer Stadt nach der anderen angerichtet wurden. Sie sehen die vielen Tausend getöteten Zivilisten, darunter viele Kinder. Sie sehen die Strategie des Aushungerns. Sie sehen die Zerstörung des Krankenhauswesens. Das ist nicht das, was sie von ihrem Israel erwarten.
Ja, die Republikaner betreiben dieses Spiel. Aber die Tatsache, dass so viele Demokraten Netanjahus Rede vor dem Kongress boykottiert haben, und die Tatsache, dass die meisten amerikanischen Juden die Demokraten wählen, zeigt meiner Meinung nach, dass dies vielleicht ein umstrittenes Thema sein mag; aber ich glaube nicht, dass es einen Sinneswandel bei der amerikanischen Bevölkerung und den amerikanischen Juden geben wird, die eine Politik Israels wollen, die das Recht achtet.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.