Israel hat seit dem Terrorangriff vom 7. Oktober, neben der Wiederherstellung der Sicherheit, erklärtermaßen zwei Ziele im Gazakrieg: die Zerschlagung der Hamas und die Befreiung der verschleppten Geiseln. Von beiden Zielen ist Israel, mehr als hundert Tage seit Kriegsbeginn, immer noch weit entfernt.
Noch immer sind mehr als hundert Geiseln im Gazastreifen verschleppt. Sie und ihre Angehörigen gehen seit dem 7. Oktober durch die Hölle. Und die Hamas? Leistet weiter Widerstand gegen die israelischen Truppen, verschanzt sich weiter hinter der Bevölkerung und schießt weiter Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel – übrigens auch wieder aus dem Norden, von dem es schon hieß, die Hamas habe dort die Kontrolle verloren.
Dass es keine guten Nachrichten in der Frage der Geiseln gibt, hat mehrere Gründe: Die Hamas und weitere Terrororganisationen haben die Geiseln gut versteckt, wahrscheinlich auch in der Nähe der Führungspersonen. Da ist eine Befreiung militärisch schwierig. Und: Die Geiseln sind durch die heftigen Kämpfe und flächendeckenden Bombardements in großer Gefahr. Ein trauriger Höhepunkt war es, als israelische Soldaten Geiseln erschossen haben, die mit erhobenen Händen, nacktem Oberkörper und einer weißen Fahne aus einem Gebäude kamen.
Angehörige der Geiseln hegen Zweifel
Und natürlich ist auch ein Verhandlungserfolg über eine Freilassung weiterer Geiseln eher unwahrscheinlich, wenn gerade ein Vernichtungskrieg geführt wird, bei dem möglichst viele Hamas-Kämpfer getötet werden sollen. Viele Angehörige haben deshalb Zweifel an der Erzählung der militärischen Führung Israels, dass nur großer Druck Freiheit für die Geiseln bringt. Und: Sie haben inzwischen Zweifel, ob eine Befreiung der Geiseln überhaupt noch oberste Priorität hat.
Das Problem mit der Zerschlagung der Hamas hängt auch mit der Zukunft des Gazastreifens zusammen. Denn wer soll den Gazastreifen verwalten, wenn der Krieg vorbei ist? Weil diese Frage nicht geklärt ist, entsteht da, wo Israels Truppen ein Gebiet räumen, ein Vakuum – und die Gefahr ist groß, dass es von den alten Hamas-Strukturen gefüllt wird. Das könnte auch die Raketenangriffe aus dem Norden Gazas erklären, wo israelische Truppen in manchen Gebieten abgezogen sind.
Netanjahu denkt an sein politisches Überleben
Doch Benjamin Netanjahu, Israels Premierminister, verweigert sich hartnäckig Gesprächen, die mit der Zukunft des Gazastreifens zu tun haben. Denn er weiß: Es drohen dabei unangenehme Fragen, die sein Bündnis mit Rechtsextremen und ultrareligiösen Parteien in Gefahr bringen. Denn da wird es um Perspektiven gehen für die 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen - und möglicherweise auch um Perspektiven auf einen palästinensischen Staat.
Benjamin Netanjahu hat daran schon allein deshalb kein Interesse, weil jedes Zugeständnis an die Palästinenser sein politisches Überleben gefährden würde. Und deshalb verläuft dieser Krieg zwar mit großen Zielen – aber ohne Plan. Am Ende gefährdet das die Kriegsziele Israels, es verlängert den Kampf und vergrößert die Zahl derOpfer und die Zerstörung. Und auch das Leid auf beiden Seiten.