Jasper Barenberg: Seit den 90er-Jahren haben US-Präsidenten angekündigt, die Botschaft der USA nach Jerusalem zu verlegen, getan aber haben sie es nicht, weil es zu heikel war, weil es erst einen Friedensvertrag Israels mit den Palästinensern geben sollte. Anders Donald Trump – vor einem halben Jahr hat er den Umzug der Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem angekündigt, heute wird das Schild am bisherigen Konsulat ausgetauscht, und das an einem besonderen Tag, dem Tag der Staatsgründung Israels vor 70 Jahren. Während die Palästinenser an diesem Tag an die Nakba erinnern, an die Katastrophe, also die Flucht und die Vertreibung von Hunderttausenden ihrer Landsleute.
Inzwischen melden die Nachrichtenagenturen, dass bei Konfrontationen der Palästinenser mit Sicherheitskräften Israels zwei Palästinenser getötet und weit mehr als 100 verletzt worden sind. Am Telefon ist der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn. Viele Jahre hat er an der Universität der Bundeswehr in München Neuere Geschichte gelehrt. Ein Schwerpunkt seiner Forschung war und bleiben die internationalen Beziehungen, vor allem aber auch die Geschichte Israels und die deutsch-jüdische Zeitgeschichte. Guten Tag, Herr Wolffsohn!
Michael Wolffsohn: Guten Tag, Herr Barenberg und den Hörern des Deutschlandfunks!
"Die internationale Gemeinschaft steckt den Kopf in den Sand"
Barenberg: Herr Wolffsohn, Unruhen und getötete Palästinenser, gehört das unvermeidlich zu einem Tag wie heute in Israel?
Wolffsohn: Ja, offensichtlich. Und diese Demonstrationen bringen die Palästinenser in keiner Weise weiter. Ich fühle mich an den ermordeten palästinensischen Funktionär Issam Sartawi erinnert, der Anfang der 80er-Jahre den Palästinensern zugerufen hat, wenn sie mit ihrer unrealistischen Politik weitermachten, dann könnten sie Palästina auf den Fidschi-Inseln eröffnen. Das ist eine Tragödie des palästinensischen Volkes, viele Gelegenheiten nicht genutzt zu haben, abgesehen von israelischen Fehlern.
Barenberg: Also die Proteste von Palästinensern und die Toten, die dabei zu beklagen sind, dafür sind ausschließlich die Palästinenser selbst verantwortlich.
Wolffsohn: Nun ja, wir wissen, wie die Demonstrationen organisiert worden sind. Wir kennen das Drehbuch. Jugendliche und Kinder werden dafür gebracht. Aber unabhängig jetzt mal von der Inszenierung – was ist der Kern dieser Großdemonstrationen am Grenzzaun zwischen dem Gazastreifen und Israel? Sehen Sie, im Jahr 2005 hat sich Israel vollständig aus dem Gazastreifen zurückgezogen und damit eigentlich die internationale Forderung zumindest teilweise realisiert, Land für Frieden, und vor allem Trennung der palästinensischen Bevölkerung von der jüdisch-israelischen. Und wir sehen nun seit 2005, dass auch diese Formel, Land für Frieden, hierauf bezogen, und darüber hinaus die Trennung der beiden Völker nichts gebracht hat. Also was nun? Und deswegen muss man neue Wege beschreiten. Seit Jahrzehnten steckt die internationale Gemeinschaft den Kopf in den Sand.
West-Jerusalem "faktisch und unbestritten Israels Hauptstadt"
Barenberg: Wenn Sie sagen, man muss neue Wege beschreiten, dann liegt ja die Frage auf der Hand, ist die Verlegung der US-amerikanischen Botschaft nach Jerusalem eine richtige Entscheidung?
Wolffsohn: Das wird sich in einigen Jahren herausstellen, aber es war mit Sicherheit auch nicht richtig, die Botschaft nicht nur der USA, sondern der anderen nicht an die wirkliche Hauptstadt Israels zu verlegen, zumindest in den Westen Jerusalems, der nun faktisch und unbestritten Israels Hauptstadt ist. Also kurzum, bislang ist man in der Sackgasse gewesen, und ich verstehe nicht, dass man nach 70 Jahren Aufenthalt in der Sackgasse nicht einen neuen Weg probiert. Wie gesagt, ob Trumps Weg richtig ist, wird sich zeigen. Aber wiederum im Kern, Trump macht heute nichts anderes als Willy Brandt und Walter Scheel in den Jahren 1969 folgende mit ihrer Ostpolitik. Die beiden deutschen Politiker haben damals die Wirklichkeit anerkannt und haben damit viel erreicht.
Barenberg: Das Ziel der Ostpolitik war allerdings Entspannung, während man hier doch sagen muss, dass die Entscheidung die Gräben eindeutig vertieft hat. Das haben wir gerade in unserem Bericht ja auch noch gehört. Haben Sie daran einen Zweifel, dass die Spannungen jetzt eher zunehmen, dass die Gräben tiefer werden?
Wolffsohn: Die Gräben sind tief, und sie müssen nicht tiefer werden, und sie werden mit Sicherheit nicht tiefer durch die Verlegung der Botschaft. Es gibt jetzt einen neuen Krisenpunkt, und in Krisen sind immer die Akteure gefordert, über neue Wege nachzudenken. Zurück zur Entspannungspolitik - ich widerspreche Ihnen sehr heftig. Ich habe diese als Zeitzeuge und als Historiker nachträglich intensiv studiert. Denken Sie an die enorme Polarisierung der westdeutschen Gesellschaft. Ich will nicht sagen, dass da Bürgerkrieg bevorstand, aber die Polarisierung war enorm, und bei Auseinandersetzungen, bei Konflikten gibt es in einer offenen Gesellschaft Polarisierungen. Und dass die Situation der Palästinenser katastrophal ist, dürfte niemand ernsthaft bestreiten.
Zweistaatenlösung "völlig unrealistisch"
Barenberg: Gleichzeitig haben sich die USA natürlich mit diesem Schritt auch jede Möglichkeit genommen, weiterhin das, was man einen ehrlichen Makler nennt, in diesem Konflikt zu sein.
Wolffsohn: Das wird immer wieder behauptet und mehrfach wiederholt, und die mehrfache Wiederholung macht es nicht richtiger. Wenn Sie sich die Vermittlungsaktionen im Laufe der Geschichte, auch der jüngsten Geschichte ansehen, geht es nicht um ehrliche Makler – das ist das schöne Wort von Bismarck aus dem Berliner Kongress 1978 (Anm. d. Red.: gemeint ist das Jahr 1878) –, sondern in solchen Konfliktsituationen prallen Interessen aufeinander, und dann muss man sehen, wie die Interessen, wenn überhaupt, harmonisierbar sind. Und da ist letztlich auch eine Frage der Macht: Wer kann die bestimmten Zielvorgaben verwirklichen und durchsetzen? Die Bundesrepublik Deutschland mit Sicherheit nicht.
Barenberg: Und da, Herr Wolffsohn, ist jetzt klar, mit diesem symbolischen Schritt der Botschaft in Jerusalem, Israel ist Herr im Hause, und die Palästinenser haben sich zu fügen.
Wolffsohn: Nein, darum geht es gar nicht. Sondern es geht darum, dass West-Jerusalem seit Jahrzehnten die Hauptstadt Israels ist, und selbst die Zweistaatenlösung, die völlig unrealistisch ist – aber jede Lösung oder keine Lösung wird durch die Tatsache verhindert, dass Israels Hauptstadt eindeutig in West-Jerusalem liegt. Der Streitpunkt ist Ost-Jerusalem, und auch da gab es ganz konkrete Vorschläge im Jahr 2007 durch die Regierung Olmert, im Jahr 2001 durch die Regierung Barak. Vorschlag war, Jerusalem nicht geografisch zu teilen, sondern administrativ, verwaltungsmäßig. Ost-Jerusalem als Teil einer palästinensischen Staatlichkeit. Das ist verworfen worden. Also kurzum: Etwas mehr Realismus und weniger ideologische Verbohrtheit für alle Beteiligten wäre angebracht.
Barenberg: Also Jerusalem ist auch die Hauptstadt eines unabhängigen Palästinenserstaates?
Wolffsohn: Ich spreche von Ost-Jerusalem und West-Jerusalem, das muss man immer wieder unterscheiden. Und das wird, ich weiß nicht, warum, nicht unterschieden. Entweder aus mangelnden Kenntnissen oder weil man die Wirklichkeit verzerren möchte, um dann den Standpunkt der jeweiligen Parteilichkeit durchzusetzen. Schauen wir uns die Wirklichkeit an. Ohne das Anerkennen der Wirklichkeiten – ich komme noch mal auf Willy Brandt zurück – kann man nie und nimmer Fortschritt erreichen.
"Auch Israel wird Verzichte leisten müssen"
Barenberg: Gehört zu der Wirklichkeit denn, dass, wenn Sie sagen Ost-Jerusalem, dass Ost-Jerusalem die Hauptstadt eines palästinensischen Staates sein wird?
Wolffsohn: Warum nicht? Da gibt es verschiedene Modelle. Ich will jetzt nicht auf meine Bücher verweisen, aber da habe ich das sehr deutlich gemacht. Das ist kein Problem. Natürlich muss auch die israelische Seite hier und da Konzessionen machen, genauso wie die Palästinenser. Aber wenn man nur immer sagt, ich habe recht und die anderen haben unrecht, kann man keinen Konflikt lösen. Es kommt darauf an, einen funktional und emotional für beide Seiten akzeptablen Weg zu gehen. Das ist möglich, wenn Jerusalem-Ost und -West die jeweilige Hauptstadt ist. Ob das eine Zweistaatenlösung ist, die ich wie gesagt für unrealistisch halte, oder eine Bundesrepublik, also ein Bundesstaat oder Staatenbund, das ist offen. Aber es ist überhaupt nichts vorweggenommen oder verhindert worden durch die Verlegung der amerikanischen Botschaft wohlgemerkt in den Westen Jerusalems.
Barenberg: Ich möchte noch mal zurückkommen auf Ihr Bild von den neuen Wegen, die beschritten werden müssen. Nun hat Donald Trump ja unter anderem auch angekündigt, dass es einen ultimativen Deal geben wird, einen umfassenden Friedensplan. Sehen Sie schon irgendwelche Anzeichen für einen solchen Plan? Viele sehen ja noch gar nichts.
Wolffsohn: Ich kann ihn auch nicht sehen, weil ich ihn nicht kenne. Und wenn ich recht informiert bin, hat sich US-Präsident mit mir noch nicht in Verbindung gesetzt, und das wird wohl auch nicht geschehen. Also kurzum …
Barenberg: Mit anderen Worten, es ist nichts zu erkennen für interessierte Beobachter wie Sie?
Wolffsohn: Nein. Aber ich lese immer wieder, und das sagen alle Beteiligten, dass sie von diesem Plan noch nichts gehört haben. Es gibt aber Andeutungen von Präsident Trump, und zwar im Zusammenhang mit der Ankündigung, die amerikanische Botschaft nach West-Jerusalem zu verlegen, dass auch Israel bei seinem bald vorzulegenden Plan Verzichte wird leisten müssen. Welche, das wissen wir nicht. Das wird sich zeigen. Aber mir geht es in Bezug auf Trump und Nahost ähnlich wie bezüglich Trump und Korea. Vor einigen Wochen glaubten alle schon an den dritten Weltkrieg, ausgelöst durch Trump. Jetzt reden alle vom Tauwetter. Ich bin für nüchterne, rationale Analyse, und, wie gesagt, eine amerikanische Botschaft in West-Jerusalem nimmt keine der diskutierten Friedenslösungen vorweg.
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