Etwas mehr als ein Jahr - so lange saß Israels Langzeit-Premierminister Benjamin Netanjahu nicht auf dem Spitzenposten der israelischen Politik. Nun kommt er zurück an die Macht und das gestärkter als zuvor. Nach Auszählung aller Stimmen konnte sich sein rechts-religiöses Lager eine Mehrheit von 64 der 120 Sitze in der Knesset, dem israelischen Parlament, sichern. Mit mehr als 71 Prozent war die Wahlbeteiligung so hoch wie seit 2015 nicht mehr.
Wer hat aktuell welche Chancen?
Schon in den ersten Prognosen nach Schließung der Wahllokale kamen die national-konservative Likud-Partei von Premierminister Benjamin "Bibi" Netanjahu und ihre politischen Verbündeten auf eine Parlamentsmehrheit. Je nachdem wie die Wahl für einige der Kleinstparteien ausgeht, könnte diese Mehrheit nun knapper oder deutlicher ausfallen. Noch in der Wahlnacht erklärte Netanjahu, man stehe vor einem "sehr großen Wahlsieg". Er wolle den Israelis den Nationalstolz zurückgeben, der ihnen genommen worden sei. Gemeint ist natürlich die Zeit der Vorgänger-Regierung, in der er in der Opposition saß.
Für Netanjahu wäre es das zweite Comeback auf den Posten des Regierungschefs und ein fast schon historisches Ereignis, denn in Israels Geschichte war niemand länger im Amt als er. Der rechtskonservative Politiker war von 1996 bis 1999 Ministerpräsident, danach wieder durchgängig von 2009 bis 2021.
Aktueller Stand der Sitzverteilungen
"Religiöse Zionisten" als drittstärkste Kraft
Zweitstärkste Kraft und doch ein Verlierer ist die Partei des amtierenden Premiers Jair Lapid. Jesh Atid, die Zukunftspartei, konnte zwar stark zulegen, dafür verlor Lapids Wahlbündnis insgesamt. Er kündigte an, den eingeschlagenen Weg der Versöhnung der israelischen Gesellschaft fortzusetzen, der sich, so Lapid, nicht mehr aufhalten lasse.
Als drittstärkste Kraft geht das Parteienbündnis "Religiöse Zionisten" aus der Wahl hervor. Zum ersten Mal in der Geschichte Israels schafft es damit ein rechtsextremes Bündnis auf so viele Sitze zu kommen. Zu verdanken haben die Bündnispartner das vor allem Itamar Ben-Gvir, dem Chef der Partei Otzma Jehudit. Er strebt ein Regierungsbündnis unter Benjamin Netanjahu an, schielt sogar auf einen Kabinettsposten.
Schas und Jahadut HaTora
Wie auch schon bei vorangegangen Wahlen setzte Netanjahu auch dieses Mal auf die streng-religiöse Partei Schas und deren Vorsitzenden Aryeh Deri und das ebenfalls religiöse Parteienbündnis Jahadut HaTora, zu Deutsch: Das Vereinigte Thora-Judentum.
Schas vertritt dabei die Interessen ultra-orthodoxer Juden orientalischer Abstammung. Das Bündnis Jahadut HaTora besteht aus den Parteien Agudat Israel und Degel HaTora. Agudat Israel (Deutsch: Union Israels) hat ihre Wurzeln weit vor der israelischen Staatsgründung in Osteuropa und repräsentiert die chassidisch ausgerichteten Charedim. Die Partei Degel HaTora (Deutsch: Fahne Israels) vertritt nicht-chassidische Ultra-Orthodoxe. Aktuell kommen die streng-religiösen Parteien auf 19 Sitze.
Sollte es Likud-Chef Netanjahu gelingen, aus diesen ultra-rechten und -religiösen Parteien eine Regierung zu bilden, dürfte er neben den innerisraelischen Konflikten auch Probleme dabei haben, seine Regierung und deren Ansichten nach außen zu kommunizieren, ohne dabei ausländische Partner wie die USA oder Deutschland vor den Kopf zu stoßen - beispielsweise beim Thema "Siedlungsbau".
Itamar Ben-Gvir und das Parteienbündnis "Religiöse Zionisten"
Sein mögliches Comeback als Regierungschef verdankt Netanjahu dem ultra-nationalistischen Parteienbündnis der "Religiösen Zionisten" (HaZionut-HaDatit). Dazu gehören die Parteien Otzma Jehudit (Jüdische Kraft) unter Itamar Ben-Gvir, die Partei HaZionut-HaDatit (Religiöse Zionisten) unter Bezalel Smotrich und die konservativ-religiöse Noam-Partei unter Avi Maoz, die vor allem durch ihre Ablehnung der LGBTQI-Bewegung bekannt ist. Sie sind die Königsmacher und legten seit der letzten Wahl im März 2021 ordentlich zu von 6 auf aktuell 14 Sitze.
Im Mittelpunkt des Bündnisses steht dabei Itamar Ben-Gvir. Schon als Jugendlicher vertrat er Ansichten, die so extremistisch waren, dass er aus dem Militärdienst entlassen wurde. Der 46-Jährige galt lange als Bewunderer des radikalen Rabbiners Meir Kahane, der ein unverhohlener Gegner der Palästinenser und Befürworter von deren Massenvertreibung war. Ben-Gvir wurde schon dutzende Male wegen extremistischer Umtriebe angeklagt, acht Mal verurteilt, einmal sogar wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Ben-Gvir schaffte es vor allem, jene Wähler zur Wahl zu bewegen, die das bestehende politische System eigentlich ablehnen.
Folgen einer Regierung mit den "Religiösen Zionisten"
Sollten die "Religiösen Zionisten" Teil eines Regierungsbündnisses werden, erwarten Experten eine Schwächung des Rechtsstaates, einen weiteren Ausbau der Siedlungen und einen härteren Kurs im ohnehin schon festgefahrenen Friedensprozess.
Ben-Gvir selbst will Minister für innere Sicherheit werden, hat sich vor allem dem Kampf gegen die Kriminalität in Israel verschrieben, die nach seiner Wahrnehmung vor allem von den arabischen Israelis ausgeht. Er spricht sich für eine komplette Annexion des Westjordanlands aus und bekräftigte am Wahlabend (01.11.2022) seine Forderung nach einem harten Kurs gegenüber den Palästinensern. So müssten die israelischen Sicherheitskräfte härter gegen Palästinenser vorgehen.
Situation der Kleinsparteien
Bei der linksgerichteten Meretz-Partei und der arabischen Partei Balad war nach Angaben der Wahlkommission noch unklar, ob sie die 3,25-Prozent-Hürde überwinden. (Stand 02.11. 14 Uhr) Abhängig von ihrem Ergebnis könnte ein deutlich anderes Kräfteverhältnis in der Knesset herauskommen. Schaffen sie es nicht in die Knesset, erhöht dies Netanjahus Chancen auf eine Rückkehr an die Macht.
In der letzten Regierungszeit hatten die arabischen Parteien zehn Sitze in der Knesset und waren damit deutlich unterrepräsentiert. Aufgrund interner Streitigkeiten traten sie dieses Mal mit drei verschiedenen Wahllisten an statt als Bündnis.
Arabische Israelis machen 20 Prozent der Bevölkerung aus und waren bei vergangenen Wahlen oft das Zünglein an der Waage, wenn es darum ging, Netanjahu als erneuten Regierungschef zu verhindern.
Das letzte Regierungsbündnis - Hauptsache ohne "Bibi"
Die zuletzt gescheiterte Regierungskoalition aus acht höchst unterschiedlichen Parteien war ein Experiment, das immerhin mehr als ein Jahr lang halbwegs funktioniert hat. Vertreten waren Parteien vom rechten Rand, aus dem linken Lager und zum ersten Mal in der Geschichte Israels auch eine arabisch-islamische Partei (Ra'am). Sie alle einte zu Beginn vor allem der Wille, eine weitere Amtszeit von Benjamin Netanjahu als Premier zu verhindern.
Neben der gemeinsamen Front gegen Netanjahu waren die Schnittmengen zwischen der Koalitionspartnern jedoch recht gering – kritische Themen wurden meist umschifft. Den Posten des Premierministers hatten sich Naftali Bennet von der rechtsnationalen Partei Jamina und Jair Lapid von der Zentrumspartei Jesch Atid geteilt. Mit dem Austritt der Jamina-Abgeordneten Idit Silman büßte die Koalition ihre knappe Mehrheit ein. Seit der anschließenden Selbstauflösung des Parlaments Ende Juni wird das Land übergangsweise von einer Minderheitsregierung unter dem liberalen Lapid als Premierminister geführt.
Wie funktioniert das israelische Wahlsystem?
Die Knesset, Israels Parlament, ist mit ihren 120 Abgeordneten die Legislative des Staates. Für eine absolute Mehrheit sind 61 Mandate notwendig. Israels Wahlsystem basiert auf einer landesweiten reinen Verhältniswahl. Dabei stimmen die Wahlberechtigten nicht für Kandidaten, sondern für eine Partei ab. Diese erhält dann Abgeordnetensitze proportional zu ihrem Stimmanteil. Um den Sprung ins Parlament zu schaffen, benötigt eine Partei mindestens 3,25 Prozent der Stimmen.
Grundsätzlich finden die Parlamentswahlen alle vier Jahre statt. Allerdings besteht rechtlich die Möglichkeit, dass die Knesset sich per Mehrheitsentscheid selbst auflöst und damit den Weg für vorgezogene Neuwahlen freimacht, wie bereits bei den vier vorangegangenen Wahlen geschehen.
Nach der Abstimmung erteilt der Staatspräsident, aktuell Isaac Herzog, den Auftrag zur Regierungsbildung an den Spitzenkandidaten der Partei oder des Bündnisses mit den meisten Wählerstimmen und somit den besten Erfolgsaussichten. Gelingt es diesem nicht innerhalb von drei Monaten eine Regierungsmehrheit zu organisieren, kommt es wieder zu Neuwahlen. Bis dahin bleibt die Übergangsregierung kommissarisch im Amt.
Quellen: Julio Segador, Tim Aßmann, Nastassja Shtrauchler, AFPD, dpa, Ynet, Israelische Botschaft in Berlin