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Israel
Ultra-Orthodoxe leben unter Armutsgrenze

Bnei Brak ist eine Vorstadt von Tel Aviv. Sie gilt als die israelische Hauptstadt der Charedim, der Gottesfürchtigen, die auch als Ultra-Orthodoxe bezeichnet werden. Von den knapp 180.000 Einwohnern des Ortes sind nahezu 95 Prozent streng religiös und fast alle leben unter der Armutsgrenze.

Von Ruth Kinet |
    Ultra-Orthodoxe Juden auf dem Olivenberg in der südöstlichen Altstadt von Jerusalem
    Unter den ultra-orthodoxen Juden in Israel ist die Armut weit verbreitet. (picture alliance / dpa / Foto: epa Jim Hollander)
    "Ich komme hier jeden Tag her. Es ist angenehm, hier zu essen. Ich bekomme ein vollwertiges Mittagessen. Am Shabbat gibt es immer jemanden, der die Segenssprüche sagt. Ich schäme mich nicht, hierher zu kommen. Dieser Ort ist mein Zuhause."
    Früher hat Nissim als Bauarbeiter gearbeitet, bis er krank wurde, seine Arbeit verlor und seine Wohnung. Jetzt kommt er jeden Tag zum Mittagessen ins Beit Tavshil in Bnei Brak, eine öffentliche Suppenküche, finanziert von öffentlichen Geldern und privaten Spenden.
    Der Speisesaal ist eine Baustelle: der Boden ist übersät von Schutt, man stolpert über Kabelknäuel, Baumaschinen stehen herum, die Klimaanlage klingt auch so, als müsste sie dringend überholt werden. An der Stirnseite des Raumes hängt eine große Tafel, auf der die Namen der Spender des heutigen Essens verzeichnet sind. Drei Stellwände trennen die Baustelle in eine Abteilung für Frauen und eine für Männer. Am Eingang des Speisesaals sitzt Gedalya, ein streng Religiöser, ein Charedi, mit langem weißem Bart und Brille. Er kassiert das Geld für die Essensgutscheine: einen Shekel kostet das Mittagessen hier, das sind umgerechnet 20 Cent.
    "130 bis 140 Leute kommen hier jeden Tag zum Essen. Es sind jeden Tag die Gleichen, die zu uns kommen."
    Die Suppenküche hat jeden Tag viel zu tun
    Heute gibt es panierte Hühnerschnitzel mit Kartoffelbrei und Salat. Zum Nachtisch eine süße Wassermelone. Yossi steht hinter dem Tresen. Er begrüßt jeden Gast mit Namen, fragt wie es geht, verteilt das Essen.
    "Wir haben das ganze Jahr über gut zu tun. Wir bereiten vor allem Suppe und eine Hauptspeise mit Kohlehydraten vor. Bis vor kurzem haben wir hier auch Frühstück ausgegeben. Aber wir haben nicht mehr genügend Geld. Der Staat hat die Mittel gekürzt, es wird jetzt enger."
    "Ergebnis neo-liberaler Politik"
    Der Soziologe Shlomo Svirski vom Adva-Institut macht dafür die neo-liberale Wirtschaftspolitik der israelischen Regierungen seit 1985 verantwortlich:
    "Armutsbekämpfung hat für diese Regierung und ihre Vorgängerregierungen keine Priorität. Vielmehr ist es ihr Hauptziel, die großen Unternehmen und Kapitalgesellschaften zu fördern, damit sie die israelische Wirtschaft im internationalen Wettbewerb nach vorne bringen und Arbeitsplätze schaffen. Aber anstatt Wohlstand für alle zu bringen, wächst die Armut."
    Yehoshua Rauchberger lebt in Bnei Brak. Vor 17 Jahren hat er "Lev Chash" gegründet, eine Organisation, die Bedürftigen Lebensmittel, Kleider, Möbel und medizinische Versorgung zur Verfügung stellt. Rauchberger mag sich nicht mehr auf den Staat verlassen:
    "Die Frage der Armut wird hier immer heruntergespielt, indem man auf den Iran verweist und die Hamas. Aber meiner Meinung nach ist die Frage der Nahrungsmittelversorgung nicht unwichtiger als die der Sicherheit des Staates. Hier geht es um persönliche Sicherheit. Man sieht hier zwar keine Kinder mit aufgeblähten Hungerbäuchen, aber wenn ein Kind eine Brotscheibe zum Essen hat, dann ist das noch nicht essen."
    Drei Viertel der charedischen Kinder unterhalb der Armutsgrenze
    Bnei Brak gilt als eine der ärmsten Städte Israels. Drei Viertel der charedischen Kinder leben unterhalb der Armutsgrenze. Dennoch hat Bnei Brak zumindest auf den ersten Blick nichts von einem Slum. "Im Volk Israel ist einer für den anderen verantwortlich", steht auf einem Plakat, das an einen Pfahl auf der Haupt-Geschäftsstraße von Bnei Brak geheftet ist. Das Plakat zitiert ein rabbinisches Gebot. Die Straßen von Bnei Brak sind von Kästen gesäumt, in die man Geld- und Essensspenden werfen kann. "100% Zdaka" heißt es in großen gelben Lettern auf einem der Kästen: "Du kannst sicher sein: 100% Wohltätigkeit für bedürftige Familien". Die Zdaka, die Wohltätigkeit ist ein göttliches Gebot. Eidel Laufer ist eine, die das Gebot der Wohltätigkeit sehr ernst nimmt. Sie ist 58, hat selbst sieben Kinder und ein Schmuckgeschäft im Zentrum von Bnei Brak.
    Eidel Laufer ist die soziale Feuerwehr der Stadt. Wenn sie von einer Familie in Not hört, sammelt sie Spenden, organisiert Ärzte, Psychologen, Wohnungen, Essen, Möbel.
    "Bnei Brak ist gesegnet mit vielen Kindern. Es gibt Familien, in denen Mutter und Vater arbeiten und das Geld immer noch nicht reicht. Denn um sieben Kinder zu unterhalten und ihnen eine gute Ausbildung zu ermöglichen, braucht man viel Geld. Da unsere Schulen hier nur teilweise vom Staat unterstützt werden, müssen die Eltern Schulgeld bezahlen, mindestens 100 Euro pro Monat und Kind. Oft kommen auch noch Transportkosten dazu. Es gibt hungrige Kinder in Bnei Brak und es gibt viele Kinder mit Behinderungen, die einer besonderen Betreuung bedürfen. Das kostet sehr viel Geld."
    Entgegen der Vorurteile arbeiten viele Ultra-Orthodoxe
    Das weit verbreitete Vorurteil der säkularen Israelis, die Charedim würden alle nicht arbeiten und ausschließlich von der Unterstützung des Staates leben, trifft längst nicht mehr zu. Aktuelle Erhebungen des israelischen Amtes für Statistik belegen, dass 55 Prozent der charedischen Frauen arbeiten und auch 42 Prozent der Männer einer Erwerbsarbeit nachgehen. Längst wird nicht mehr von allen Charedim verlangt, dass sie nichts anderes täten als in der Jeshiwa zu sitzen und zu studieren, sagt der chassidische Gelehrte Maoz Kahana, der selbst in einer charedischen Gemeinschaft lebt:
    "Inzwischen raten auch die Rabbiner den Menschen, die sich nicht für das intensive geistliche Studium eignen, arbeiten zu gehen. Sie sagen: Wenn Du nicht sitzen und lernen kannst, geh' arbeiten. Sitze nicht in der Synagoge herum und koche Kaffee, denn Du schadest Dir damit selbst und auch der Gemeinschaft. Das ist ziemlich neu und das ist in gewissermaßen eine Rückkehr zu der Situation vor der Shoah. Nach der Shoah dachte man, dass wir, wenn wir jetzt keine Yeshiva gründen, viele Kinder bekommen und uns alle ausschließlich dem geistigen Studium widmen, wird unsere Welt untergehen. Und wir waren wirklich nicht weit davon entfernt. Jetzt kommen die Dinge langsam wieder mehr ins Gleichgewicht."
    Armut gilt nicht als Makel
    Zugleich aber gilt Armut in der charedischen Gemeinschaft nicht als Makel. Maoz Kahana:
    "In der jüdischen Kultur ist es keine Sünde, arm zu sein und reich zu sein ist kein göttliches Gebot. Die jüdische Kultur ist keine kapitalistische Kultur. Obwohl wir in einer kapitalistischen Umgebung leben, ist unsere Kultur nicht kapitalistisch. Sie betont die Bedeutung der Wohltätigkeit, der Zdaka, der Hinwendung zum anderen, ohne die wir nicht existieren können. In einer Gesellschaft, in der alle nur erfolgreiche Karrieristen sind, würden wir alle nicht leben wollen. Der Bettler erweist der Gesellschaft einen Dienst, denn er gibt ihr Gelegenheit zur Zuwendung. Der Geber ist nicht ehrenwerter als der Bettler."
    In Bnei Brak gibt es mehrere tausend G'machim, Werke der Barmherzigkeit. Jeder, der anderen etwas geben kann, eröffnet ein G'mach. Wer ein Hochzeitskleid braucht, geht zu einem G'mach und bekommt eins umsonst. Jeder Bedürftige hat irgendetwas, was er geben kann. Und seien es nur Schnuller oder Arbes, einen schlichten Kichererbsen-Snack, den man der Familie serviert, wenn ein Kind geboren wurde. Maoz Kahana: "Jeder Schnuller zählt genauso viel wie eine Spende von 10.000 Dollar."