Es sind dramatische Erlebnisse, über die Mohammed Hariri am Telefon berichtet. Vor zwei Wochen ist der Syrer aus der Region Daraa geflohen. Immer auf der Flucht vor den syrischen und russischen Kampfjets. Die hätten auf alles gefeuert, was sich bewegte, erzählt Mohammed. Am Ende sei er zu dem Schluss gekommen: Der sicherste Ort sei die syrisch-israelische Grenze.
Mohammed Hariri, 29 Jahre alt, ist nun seit wenigen Tagen zusammen mit seiner schwangeren Frau in einem Zeltlager in der kleinen syrischen Ortschaft Bariqua, buchstäblich nur einen Steinwurf von der israelischen Grenze entfernt. Überall an der Grenze zu den von Israel besetzten Golanhöhen haben sich solche Zeltlager gebildet. Die Verhältnisse dort seien erbärmlich, schildert Mohammed Hariri am Telefon.
"Wir sind in einer schwierigen Lage, speziell die Frauen und Kinder. Viele Frauen sind schwanger, und es gibt kaum Nahrung in der ganzen Region. Dazu kommt: Es gibt viel zu wenig Zelte für die Flüchtlinge, kaum Toiletten."
"Operation Guter Nachbar"
Der Wind bläst kräftig auf der israelischen Seite des Grenzzauns, mitten auf den Golanhöhen. Auf einem Hügel steht Oberstleutnant Tomer Koler von der israelischen Armee. Er deutet mit seinem Arm in Richtung des Dorfes Bariqua auf der syrischen Seite der Grenze.
Der Offizier zeigt auf die Zelte, die die syrischen Flüchtlinge notdürftig aufgebaut haben. Die Entfernung beträgt nur etwa 500 Meter. 10.000 - 15.000 Flüchtlinge seien in den letzten Wochen hierher zur israelisch-syrischen Grenze gekommen, erklärt Tomer Koler. Das israelische Militär leiste jede erdenkliche Hilfe, fast jede Nacht.
"Operation Good Neighbor - Operation Guter Nachbar" lautet der Name der Hilfsaktion, die Israel vor gut zwei Jahren gestartet hat. Die Armee bringt dabei regelmäßig Essen, Medizin, Energie und Treibstoff in die Dörfer auf der syrischen Seite des Grenzzauns. Seit zwei Wochen stellt Oberstleutnant Tomer Koler fest, dass sich die Lage weiter verschärft hat.
"In den vergangenen zwei Wochen hat die syrische Armee, nördlich von hier eine Offensive gestartet. Seither sehen wir noch viel mehr umherirrende Syrer, die von einem Dorf zum nächsten laufen. Wir sehen auch mehr Leute, die medizinische Hilfe benötigen."
Die Syrer sind überrascht von der Hilfsbereitschaft
Verletzte, die Israel nicht gleichgültig lassen, auch wenn es sich dabei um Syrer handelt, für die die Israelis Todfeinde sind. Dass die Israelis Todfeinde sind dachte auch Hani, der als Patient im Galilea Medical Center, einem großen Krankenhaus in Nordisrael liegt.
Der 28-jährige Syrer wollte vor zwei Jahren in Ghutta nahe Damaskus seine Frau und die beiden Kinder vor den näher rückenden Kampfhandlungen in Sicherheit bringen. Während der Fahrt traf ihn die Kugel eines Heckenschützen in den Kopf und verletzte ihn lebensgefährlich. Hani schildert, wie man ihn erst in ein provisorisches Feldlazarett brachte. Dort konnte man für ihn nichts tun. Danach begann die Reise zum Erzfeind.
"Vom Feldlazarett brachte mich ein Bekannter heimlich in die Nähe der israelischen Grenze. Er setzte mich auf ein Pferd, das mich in meinem Zustand drei Stunden zum Grenzzaun transportierte. Dort griff mich eine Patrouille auf und brachte mich hierher. Seit zwei Jahren bin ich nun hier, wurde 25 Mal operiert, eine OP steht noch aus. Danach kann ich wieder nach Hause zurückgehen."
Hani ist einer von rund 5000 syrischen Verwundeten, die in den letzten fünf Jahren aus dem Bürgerkriegsland nach Israel gebracht und dort behandelt wurden. In der Klinik in Nahariya hat Eyal Sela viele von ihnen behandelt, auch Hani ist einer seiner Patienten. Der Chirurg weiß, dass die syrischen Bürgerkriegsopfer mit vielem rechnen, nur nicht damit, in Israel behandelt zu werden.
"Man muss sich klar machen: Sie werden in Syrien verletzt und wachen in Israel auf. Das ist ein regelrechter Schock. Noch vor zwei, drei Jahren waren sie am Anfang zutiefst erschrocken, sprachen nicht mit uns. Sie wussten nicht, was sie erwartet. Schließlich sind aufgewachsen mit dem Bild: Wir sind der zionistische Feind."
"Ich habe viel Barmherzigkeit erfahren"
Es sei nur die Spitze des Eisbergs, sagt Eyal Sela. Inzwischen habe sich herumgesprochen, dass Israel auch Syrer medizinisch behandle. Sogar aus jordanischen und türkischen Flüchtlingslagern würden sie nun kommen. Der Arzt hofft, dass seine Arbeit und die seiner Kollegen Früchte trägt.
"Ich tue das für die Zukunft meiner Kinder. Wenn ich die Möglichkeit habe, die Haltung der Syrer zu ändern, dann mache ich das. Ich sehe sie nicht als meine Feinde. Sie sind meine Patienten, und ich hoffe, sie ändern ihre Haltung."
Bei seinem Patienten Hani, der seit gut 2 Jahren in der Klinik in Nahariya behandelt wird, scheint dies der Fall zu sein. Vom Erzfeind Israel ist bei dem 28-jährigen Syrer nichts mehr zu spüren.
"Nach zwei Jahren Behandlung bringe ich den Menschen in Israel vor allem Respekt entgegen. Ich habe viel Barmherzigkeit und eine ungemein professionelle Behandlung erfahren. Ich kann Israel nur in höchstem Maße bewundern."
Die Hilfe liegt "in unserem ureigenen Interesse"
Es sind Syrer wie Hani, die Marco Moreno darin bestärken, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Der pensionierte Armeeoffizier war früher Chef des Projektes "Operation Gute Nachbarschaft". Und er gibt zu, dass es bei dem israelischen Engagement nicht nur um Nächstenliebe geht. Dahinter stehen auch strategische Überlegungen.
"Es liegt in unserem ureigenen Interesse. Wir lösen dadurch ein Sicherheitsproblem. Wir könnten das auch mit Flugzeugen, Panzern und Gewehren machen. Und glauben sie mir, wir haben eine sehr starke Armee. Wir könnten das so lösen. Aber wir haben einen anderen Pfad gewählt. Und wir sagen: es war richtig."
Und doch macht Israel nicht den nächsten Schritt. Humanitäre Hilfe ja, ebenso die medizinische Betreuung verletzter syrischer Zivilisten, doch das Land zieht hier eine Grenze: Israel wird keine Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland aufnehmen. Und Ex-Soldat Marco Moreno steht hinter dieser Entscheidung der Regierung.
Israel sei ein kleines Land, betont er. Und er fragt: Wie viele sollten wir aufnehmen? Eine Million? Zwei Millionen, eine halbe Million? Es ist der Zwiespalt, in dem Israel sich befindet. Das Nachbarland Jordanien hat Zehntausende Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, Israel weigert sich diesen Schritt zu gehen.
Auch für viele Flüchtlinge an der vermeintlich sicheren Grenze zu Israel hat sich viel geändert. Der Todfeind hat seinen Schrecken verloren. Und Mohammed Hariri, der mit seiner Familie im Flüchtlingslager Bariqua ausharrt muss nicht lange überlegen: Er, so sagt Mohammed in dem Telefongespräch, wäre der erste, der nach Israel flieht.