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Israelischer Armutsbericht
Düsteres Bild eines geteilten Landes

IT-Erfolgsgeschichten und Start-Up-Boom auf der einen Seite, Kinder- und Altersarmut auf der anderen: Laut dem neuen israelischen Armutsbericht ist das Land geprägt durch soziale Ungleichheit. Jeder fünfte Israeli kann sich demnach das Nötigste kaum noch leisten.

Von Julio Segador |
Dreckige israelische Flaggen hängen über einem provisorischen Lager aus Zelten und Sofas in Tel Aviv, Israel
"Die Armut jener, die ohnehin schon als arm gelten, wird immer schlimmer", meint David Kochmeister von der Freiwilligen-Organisation Paamonim (dpa / picture alliance / AP Photo / Oded Balilty)
Es sind Benjamin Netanjahus bevorzugte Auftritte. Nur allzu gerne spricht er in der Öffentlichkeit über die "Start-Up-Nation Israel". Für den Ministerpräsidenten und viele Israelis eine einzigartige Erfolgsgeschichte.
"Wir haben eine enorm starke Wirtschaft, und wir haben sie gestärkt, indem wir in Israel die Prinzipien des freien Marktes umgesetzt haben. Es ist der Funke der Genialität unserer Menschen im Land, der Innovation und Unternehmertum entfacht. Es findet gerade eine Revolution statt."
In der Tat - gemessen an der Bevölkerungszahl gibt es in keinem anderen Land so viele Start-Up-Unternehmen wie in Israel. Immer wieder werden erfolgreiche Gründer-Unternehmen für viel Geld an größere Player verkauft.
Doch dieser schöne Schein aus der Wirtschaftswelt kann nicht verbergen, dass sich dahinter ein anderes Israel verbirgt. Eines, das geprägt ist von Armut und sozialer Ungleichheit.
Kinderarmutsquote von rund 30 Prozent
Erst diese Woche veröffentlichte das israelische Sozialversicherungsinstitut den jährlichen Armutsbericht – und der passt so gar nicht zu Netanjahus Erfolgsgeschichte. Demnach gibt es einen signifikanten Anstieg der Armut bei Kindern und älteren Menschen. So lebt jeder fünfte Israeli in Armut. Bei Kindern liegt die Armutsquote sogar bei fast 30 Prozent. Damit ist Israel eines der beiden Länder mit der höchsten Kinderarmut in der OECD.
David Kochmeister ist Direktor von Paamonim. Die Freiwilligen-Organisation kümmert sich um arme Menschen und berät Familien, die drohen, in die Armut abzurutschen. Für ihn hat sich die Armuts-Situation in Israel in den vergangenen Jahren stetig verschlechtert.
"Die Armut jener, die ohnehin schon als arm gelten, wird immer schlimmer. Armen Menschen fällt es im Vergleich zu früher zunehmend schwerer sich zurechtzufinden. Immer mehr Bürger kommen auf uns zu. Auch deshalb kommen wir zu dem Schluss, dass die Armut steigt."
Vergleichsweise hohen Lebenshaltungskosten
Und die Perspektive scheint nicht besonders positiv zu sein. Seit geraumer Zeit beobachtet David Kochmeister, dass immer mehr Israelis über ihren Verhältnissen leben.
"Betrachtet man das Kreditverhalten bei den Banken in Israel, dann überzieht mindestens jeder dritte Bürger des Landes während des Jahres sein Bankkonto. Das bedeutet, dass bei all diesen Menschen die Ausgaben höher sind als die Einnahmen."
Ein wesentlicher Grund dafür, dass immer mehr Menschen in Israel wirtschaftlich zu kämpfen haben, sind die hohen Lebenshaltungskosten. Sie liegen in Israel gut ein Viertel über dem Durchschnitt der OECD-Länder. In manchen Studien etwa findet sich Tel Aviv unter den zehn teuersten Städten der Welt.
Ein Land mit zwei Gesichtern
Schlomo Swirski ist der wissenschaftliche Leiter des Adva-Zentrums in Tel Aviv. Seine Organisation forscht über die soziale Ungleichheit in Israel. Er macht vor allem den IT-Boom im Land für die hohen Preise verantwortlich. Preise, die sich inzwischen auch die breite Mittelschicht immer weniger leisten kann.
"Der gesamte High-Tech-Zweig, mit seinen Dienstleistungen und der Industrie, steht nur für acht Prozent der israelischen Arbeitskraft. Diese acht Prozent verdienen mehr als die anderen Israelis. Und diejenigen, die sich hier besonders bereichern, das sind die Start-Ups."
Israel scheint zwei Gesichter zu haben. Die hohe Wirtschafts- und Innovationskraft beeindruckt weltweit, doch immer häufiger können sich viele Israelis das Nötigste kaum noch leisten. Der Staat als soziales Regulativ fällt da aus – auch das sagt der der jüngste Armutsbericht. Die Regierung unternehme zu wenig, um die Armut zu verringern, heißt es in der Untersuchung.
Im Vergleich zu dem was andere Staaten leisten, um Armut zu bekämpfen, sei die Situation in Israel weiter trostlos, wird ein Mitarbeiter des Berichts in den Medien zitiert.
Netanjahu lobt den Gas-Deal mit Griechenland und Zypern
Schmallippig gab sich bei der Kommentierung der Ergebnisse des Armutsberichts Ministerpräsident Netanjahu. Er werde weiter daran arbeiten, die Schwächen zu beheben, erklärte er - um dann umgehend den neuesten Gas-Deal seines Landes zu loben.
Noch so eine Erfolgsgeschichte, dieses Mal aus der Energiewirtschaft. Immerhin: Nach seinen Worten sollen davon künftig auch jene profitieren, die im Armutsbericht eine Hauptrolle spielen.
"Endlich ist es uns gelungen, das Gas aus dem Meer zu holen. Das bringt Hunderte von Milliarden Schekel, die den älteren Menschen, den Kindern, den Krankenhäusern, dem Gesundheitswesen, den Schulen – jedem Einzelnen Bürger zu Gute kommen werden."