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Ist das chilenische Modell am Ende?

Die Unabhängigkeitsbewegungen Lateinamerikas vor 200 Jahren schuf die Grundlage für heutige demokratische Staatssysteme. Über den wirtschaftlichen und politischen Zustand Chiles berichtet der Politologe und Schriftsteller Arturo Fontaine.

Arturo Fontaine im Gespräch mit Peter B. Schumann | 03.01.2010
    Peter B. Schumann: In unserem ersten Gespräch mit dem Historiker Alfredo Jocelyn-Holt haben wir nach den historischen Wurzeln der chilenischen Demokratie geforscht. In diesem zweiten Teil soll es um das politische und ökonomische Modell gehen, das Chile die Rückkehr zur Demokratie ermöglicht hat. Doch gerade das letzte Jahr der Präsidentschaftswahlen hat überdeutlich die Defizite dieses Modells vor Augen geführt, sodass wir uns fragen wollen: Ist das chilenische Modell am Ende?

    Mein Gesprächspartner ist Arturo Fontaine Talavera, ein bekannter Schriftsteller und politischer Vordenker des Centro de Estudios Públicos. Dieses Zentrum für öffentliche Studien, das er leitet, ist eine Forschungseinrichtung, die im vergangenen Wahljahr durch ihre präzisen Umfragen große Aufmerksamkeit gefunden hat. Zunächst möchte ich Sie fragen, Herr Fontaine: Worin besteht für Sie die Bedeutung dieses chilenischen Modells?

    Arturo Fontaine: In der Kontinuität und Stabilität, die einzigartig sind in der chilenischen Geschichte, liegt der besondere Erfolg. Und politisch gesehen, wurde Chile mit Hilfe der Concertación redemokratisiert.

    Schumann: Lassen Sie mich für unsere neuen Hörer kurz den Begriff Concertación erklären: Darunter versteht man das Regierungsbündnis aus Christ- und Sozialdemokraten, das bereits seit 20 Jahren existiert.

    Fontaine: Und ihr ist es gelungen, die demokratischen Prinzipien und Traditionen wieder stark in Chile zu verwurzeln. Deshalb ist für mich die Demokratisierung das Wichtigste. Die Verfassung wurde beispielsweise zum Teil reformiert und einiger Ballast der Diktatur beseitigt.

    Schumann: Was ist das für ein Ballast?

    Fontaine: Ein Teil des Parlaments wurde früher zum Beispiel nicht durch die Wähler bestimmt, sondern durch verschiedene Mechanismen berufen. So gab es einen Repräsentanten der Justiz, einen der Streitkräfte.

    Schumann: Sind das die berühmten designierten Senatoren?

    Fontaine: Genau diese. Die hat man abgeschafft. Aber auch die Vorschrift, dass die Oberkommandierenden der Armee nicht abberufen werden durften. Sie konnten nur bei schwerwiegenden Vergehen abgelöst werden und waren keine Vertrauensleute des Präsidenten. Heute können sie jederzeit vom Präsidenten in den Ruhestand versetzt werden. So wurde die militärische Befehlsgewalt wieder der zivilen untergeordnet. Das war eine sehr wichtige Reform. Aber es gab auch eine Demokratisierung der gesamten Gesellschaft.

    Schumann: Darauf kommen wir gleich zurück. Wie weit hat die Concertación das während der Diktatur eingeführte neoliberale Wirtschaftssystem verändert?

    Fontaine: Ich würde sagen, sie hat es sozialdemokratisiert, so ähnlich wie die brasilianische Linke, wie Cardoso und Lula, keinesfalls so wie Chávez. Und der wichtigste Erfolg besteht in der Verringerung der extremen Armut. Als die Regierung an die Macht kam, lebten 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Grenze extremer Armut. Heute sind es noch 13 Prozent, ist also nur etwa jeder Zehnte betroffen. Ein ungeheurer Fortschritt. Es gelang aber nicht, die extreme Ungleichheit der Einkommen zu reduzieren. Sie ist auf einem ganz ähnlichen Niveau geblieben. Allerdings sind die Einkünfte insgesamt gestiegen und die Armut ist insgesamt gefallen.

    Schumann: Können Sie das noch etwas weiter ausführen: die Sozialdemokratisierung des neoliberalen Wirtschaftssystems in Chile?

    Fontaine: Es gibt hier sehr wichtige Programme gegen die Armut. Sie sind sowohl eine Folge der wirtschaftlichen Entwicklung als auch Teil eines sozialen Netzes, einer ganzen Reihe von Beihilfen. So wurde eine Grundrente eingeführt und zwar unabhängig von den Einkünften. Sie kommt all jenen zugute, die sehr wenig verdienen. Außerdem wird die Beschäftigung von Handwerkern gefördert, und es werden die geringen Einkünfte von Jugendlichen aufgebessert. Wenn sie dann mehr verdienen, wird das wieder reduziert.

    Schumann: Sie sprachen auch von der Demokratisierung der Gesellschaft als einem besonderen Verdienst der Concertación. Was bedeutet sie konkret?

    Fontaine: Chile war ja zutiefst gespalten. Heute können wir wieder von einem Gemeinschaftsempfinden sprechen und vorwärts denken. Wesentlich dazu beigetragen hat der ganz allmähliche Fortschritt in der Menschenrechtspolitik. Drei der vier Chefs von Pinochets Geheimdiensten sind ebenso im Gefängnis wie eine größere Zahl Uniformierter. Gegen ungefähr 800 sind juristische Maßnahmen eingeleitet worden. Es gibt also Fortschritte.

    Schumann: Gut, es gibt Fortschritte. Die Angehörigen der Opfer halten sie allerdings für viel zu gering. Aber hat das Wirtschaftsmodell die Gesellschaft nicht auch sehr negativ beeinflusst?

    Fontaine: Das ist ein sehr hartes, Konkurrenz bestimmtes Wirtschaftssystem, das Privatinitiative erfordert und das andererseits zu einer extremen Konsumgesellschaft geführt hat. Eine Vielzahl von Chilenen lebt von Kreditkarten, völlig überschuldet. Und dieser Druck wird auch auf die Jugendlichen ausgeübt, in der Schule, in der Universität, durch die vielen höchst unterschiedlichen Privatuniversitäten. Es fällt schon schwer, eine gute Hochschule zu finden. Das ist hier ein hartes Leben geworden.

    Schumann: Privatisierung, das war das eine Zauberwort während der Diktatur. Und Dezentralisierung beziehungsweise Rückzug des Staates ein anderes. Wie hat sich das auf das Bildungssystem, auf das Schulwesen vor allem, ausgewirkt?

    Fontaine: Das Problem war die Kommunalisierung, und die war einfach schlecht. Die Schulen waren staatlich und gehörten bis Anfang der 80er-Jahre zum Erziehungsministerium. Dann gingen sie in die Verwaltung der Kommunen über. Aber die verfügten gar nicht über die nötige Kompetenz. Außerdem wurde ein neues Ordnungsprinzip geschaffen, bei dem keiner wirklich die Verantwortung besaß. Und die anderen Schulsysteme sind nicht viel besser. Unser Erziehungswesen ist insgesamt sehr schlecht und wird schlecht unterhalten.

    Schumann: Deshalb haben ja auch die Lehrer der kommunalen Schulen im vergangenen November fast drei Wochen lang gestreikt.

    Fontaine: Die Entlohnung der Lehrer wurde 1981 herabgestuft. Und als dann der wirtschaftliche Aufschwung begann, wurde sie nicht angepasst. Außerdem durften zahlreiche Privatuniversitäten gegründet werden, und die brauchten plötzlich viele Lehrkräfte. Die Fähigsten von ihnen sind an diese Universitäten abgewandert, und deshalb gibt es beispielsweise ein Defizit in Physik und Mathematik. Das intellektuelle Niveau der Pädagogikstudenten ist außerordentlich niedrig. Das ist ein Circulus vitiosus. Andererseits hat heute fast jeder die Möglichkeit einer zwölfjährigen Schulbildung. Und zwei Dritteln dieser Schüler gelingt es sogar, zu studieren. Das ist sehr positiv. Aber die Qualität ist niedrig. Und die Lehrer sind verärgert, weil sie zu wenig verdienen. Deshalb halte ich ihren Kampf für sehr legitim.

    Schumann: Das scheint aber nicht das einzige Versagen der Concertación zu sein. Viele Chilenen halten dieses Regierungsbündnis, diese 20-jährige Zwangsgemeinschaft aus Christ- und Sozialdemokraten für überholt.

    Fontaine: Ich glaube, dass die Concertación einerseits als ein rein instrumenteller Pakt zur Beseitigung der Diktatur und zum Aufbau einer soliden Demokratie betrachtet werden kann. Und diese Aufgabe hat sie erfüllt. Aber man kann sie auch als ein Bündnis sehen, das fest in dieser Geschichte verwurzelt ist, jedoch eine darüber hinaus reichende Vision besitzen sollte. Dazu bedarf es allerdings einer Erneuerung dieses Projekts und vor allem seiner Führungsschicht sowie innerparteilicher Demokratie, das heißt wirkliche, ehrliche Wahl ihrer Vorsitzenden. Bis jetzt sah es so aus, als ob die Führungsspitze immer nur sich selbst gewählt hat.

    Schumann: So ist es wohl auch bei der Auswahl des letzten Präsidentschaftskandidaten der Concertación, des 67-jährigen, ehemaligen Staatspräsidenten Eduardo Frei, gewesen.

    Fontaine: Die Concertación hat es fertiggebracht, ein wirkliches Auswahlverfahren zu verhindern, bei dem der viel jüngere Marco Enríquez mit Frei hätte konkurrieren können. Und sie hat stattdessen mit Frei einen Kandidaten bestimmt, der völlig aus dem Rahmen fällt und die Zukunftsfähigkeit des Bündnisses gefährdet.

    Schumann: Dieser 36-jährige Marco Enríquez-Ominami ist ein Dissident: Er ist im vergangenen Sommer aus der Sozialistischen Partei ausgetreten. Und andere sind ihm gefolgt. Gleiches gilt auch für die Christdemokratische Partei. Gibt es sehr viel Unzufriedenheit innerhalb der Concertación?

    Fontaine: Zweifellos. Die Concertación ist gespalten, beginnt sich aufzulösen. Es gibt Ärger, Rivalität, jede Form von Abspaltung, kein klares Projekt, keine Führungsfigur, die für Einheit sorgt. Dieses Bündnis hat sich in dieser Hinsicht erschöpft. Die einzige Hoffnung sehe ich in einer neuen Generation des Führungspersonals. Es kann doch nicht sein, dass die chilenische Politik ewig in Händen derselben Generation bleibt. Aber dazu gehört auch - was ich schon erwähnt habe - ein anderes Auswahlverfahren, bei dem am Schluss der gewinnt, der die Mehrheit in der Partei findet.

    Schumann: Ist die Concertación von heute eine Gefangene ihres eigenen Erfolgs?

    Fontaine: Ich würde sagen: ja, denn es gibt eine allgemeine Ernüchterung, wenn das Ziel erreicht ist. Sie war erfolgreich, aber sie hat es nicht geschafft, diesen Erfolg mit Zufriedenheit zu verbinden. Da auch ein zukunftsfähiges Projekt fehlt, herrschen Frustration, Zweifel, Ungewissheit.

    Schumann: Ein Buchautor hat die gegenwärtige Form der chilenischen Demokratie eine Cariñocracia genannt, also eine eher auf gegenseitige Zuneigung als auf Konflikte angelegte Demokratie. Ist das eine zutreffende Bezeichnung?

    Fontaine: Klar, und sie ist eine Art Gegenreaktion auf die Jahrzehnte lange, tiefe politische Spaltung, die es früher in Chile gab. Ein anderer Autor hat Chile schon mal als eine Nation von Feinden bezeichnet. Nach der Diktatur war die Bevölkerung des ewigen Hasses, der Gewalt, der niederen politischen Leidenschaften müde. Und sie wollte endlich eine vereinte, ruhige politische Führung haben, die Frieden verbreitete. Und das war die Concertación. Jetzt geht es darum, in der Demokratie eine aktivere Opposition zu schaffen, und die werden wir demnächst haben: eine viel konfliktreichere Demokratie.

    Schumann: Demokratie zeichnet sich aber auch durch eine Vielfalt unterschiedlicher Medien aus. In Chiles Printmedien existiert heute keine Pluralität der Meinungen. Sie werden von zwei Konzernen mit sehr ähnlichen Interessen beherrscht. Die linke Opposition besitzt kein einziges einflussreiches Blatt, die Regierung übrigens auch nicht. Das war in der Endphase der Diktatur völlig anders.

    Fontaine: Die Situation ist wirklich sehr seltsam. Die Linke besaß damals eine ganze Reihe von Zeitschriften und Zeitungen, die großen Erfolg hatten, die sehr effizient und sehr talentiert gestaltet waren. Als die Linke an die Macht kam, wurden viele dieser Journalisten Regierungsfunktionäre. Und die Freiheit, die der Journalismus benötigt, wurde ökonomischen Interessen geopfert. Die Mehrheit dieser Zeitungen und Zeitschriften verschwand allmählich, verlor an Lesern und an Bedeutung.

    Schumann: Und verlor auch die für sie lebenswichtigen Regierungsanzeigen. Sie bilden noch heute eine unverzichtbare Finanzbasis für den "Mercurio", das Sprachrohr der Rechten. Der linken Monatszeitschrift "Rocinante" dagegen wurden sie entzogen, weil sie Kritik am sozialistischen Präsidenten Lagos geübt hatte.

    Fontaine: Die einzige Ausnahme sind ein paar Rundfunksender, Radio Bio Bio beispielsweise. Ähnliches gilt auch für das Fernsehen. Die Linke ist allenfalls indirekt präsent, durch Persönlichkeiten, nicht durch Programme. Das Satireblatt "The Clinique" ist eine weitere erfolgreiche Ausnahme linker Präsenz.

    Schumann: Wir reden jetzt ständig von der Linken. Aber ich habe den Eindruck, die Linke ist in Chile weitgehend aus dem Erscheinungsbild verschwunden. Was verstehen Sie darunter?

    Fontaine: Es gibt eine alte Linke, die des Präsidentschaftskandidaten Arrate, die klassische Linke.

    Schumann: Die Kommunisten.

    Fontaine: Die alte chilenische Linke basiert auf Erfahrungen, die heute wenig Gültigkeit besitzen. Sie existiert, doch sie erreicht kaum vier Prozent der Wähler. Aber es gibt natürlich in anderen Bereichen so etwas wie eine Linke. Unter Professoren zum Beispiel, auch die Grünen haben ganz andere gesellschaftliche Vorstellungen. Sie sind viel radikaler, verlangen wirtschaftliche Veränderungen zum Schutz der Natur. Diese Gruppe unterstützt Marco Enríquez.

    Schumann: Wir müssen jetzt mal auf dieses bereits erwähnte Phänomen eingehen, denn dieser Dissident der Sozialistischen Partei hat durch sein Erscheinen den Wahlausgang entscheidend beeinflusst. Ist Marco Enríquez-Ominami die personifizierte Alternative zum herrschenden Parteiensystem?

    Fontaine: Ich glaube schon. Er ist Ausdruck des Protestes, des Überdrusses, der Erneuerung, des Bildwechsels, des Generationenwandels, eines neuen Stils, der dieses Phänomen ganz wesentlich ausmacht. Er ist ein Kandidat von erst 36 Jahren, sehr freundlich und natürlich, hat keine Posen, wirkt nicht belehrend, nicht technokratisch, sondern bescheiden, zugänglich. Sein Lachen ist aufrichtig und sympathisch. Das Phänomen Marco besteht in seiner Persönlichkeit, seiner außerordentlichen Herzlichkeit und Sympathie. Das unterscheidet ihn wesentlich von allen anderen politischen Figuren.

    Schumann: Dazu gehört aber auch seine völlig andere Familiengeschichte.

    Fontaine: Sein Vater starb im Kampf gegen Pinochets Geheimdienstleute mit der Waffe in der Hand. Er war der Anführer der extremen Linken, des MIR, sehr beeinflusst von Che Guevara und starb wie dieser. Von väterlicher Seite aus steht er in der Tradition des lateinamerikanischen Revolutionärs. Marco selbst ist im Exil aufgewachsen und stellt so etwas wie die Zukunft der Concertación dar.

    Schumann: Aber Marco Enríquez-Ominami ist alles andere als ein Revolutionär.

    Fontaine: Natürlich gehört er zu einer ganz anderen Generation und vertritt auch keineswegs die Ideen seines Vaters. Aber diese Verbindung, diese Verwandtschaft ist wichtig. Denn er verkörpert die Evolution, die die Chilenen wünschen, und Mut und Schneid. Er hat es als Einzelgänger gewagt, sich all diesen Kräften, diesen sehr viel älteren und mächtigeren Herren entgegenzustellen. Er hat ein Abenteuer mit einem sehr hohen persönlichen Risiko auf sich genommen.

    Schumann: Doch auch er kommt aus der Concertación. Ohne dieses Parteienbündnis scheint in der chilenischen Demokratie nichts zu laufen.

    Fontaine: Das ist ganz wichtig für ihn. Er war ein gewählter Abgeordneter der Concertación und kritisierte sie von innen. Er bat darum, am Auswahlverfahren des Präsidentschaftskandidaten teilnehmen zu können. Das haben sie abgelehnt. Daraufhin hat er die Partei verlassen und gesagt: Dann trete ich als Unabhängiger an. Er ist so etwas wie das Opfer der Sturheit der Concertación, keine wirklichen Wahlen zuzulassen. Sein Protest ist verständlich.

    Schumann: Was für Leute gehen heute zu Wahlen, zu diesen Präsidentschaftswahlen beispielsweise?

    Fontaine: Eines unserer Probleme in Chile, vielleicht sogar das größte politische Problem, besteht in der Überalterung des Wählerpotenzials. 80 Prozent der Wähler haben bereits am Plebiszit von 1988 teilgenommen. Auch hier gibt es wenig Erneuerung. Die Jugend schreibt sich nicht ins Wahlregister ein, denn sie hat kein Interesse an Politik.

    Schumann: Das ist ja auch verständlich, solange es keine Perspektive der Veränderung gibt. Aber ich denke, Marco Enríquez steht für Erneuerung, für Veränderung.

    Fontaine: Das ist jedoch eine Veränderung, die nicht sehr genau definiert ist. Ich glaube auch nicht, dass die Leute von ihm eine radikale Umkehr der Politik der Concertación erwarten. Veränderung schon, denn er ist unabhängig vom Einfluss der politischen Parteien, was alle anderen Kandidaten nicht sind.

    Schumann: Sprechen wir mal über die beiden anderen Kandidaten: zunächst über Eduardo Frei von der Concertación. 67 Jahre alt, war schon einmal Präsident zwischen 1994 und 2000 und zwar der am wenigsten erfolgreiche. Hat er wirklich Chancen?

    Fontaine: Seine Schwächen sind unübersehbar: Er ist nicht sehr unterhaltsam, nicht sehr eloquent, aber er strahlt Autorität und Zuverlässigkeit aus. Er ist ein Mann mit Erfahrung, kennt sich im politischen Geschäft aus und steht für Sicherheit. Im Moment der Entscheidung wird ein wichtiger Teil der Chilenen ihn, den konservativen Kandidaten, wählen, den Status quo.

    Schumann: Chile ist ja auch eine sehr konservative Gesellschaft.

    Fontaine: Ganz sicher. Es ist sehr gut möglich, dass sie sich gegen das Risiko entscheidet. Der Mann ist nicht faszinierend, aber mit ihm sind wir auf der sicheren Seite. Er vertritt das, was wir kennen. Vielleicht wird es noch mehr Korruption geben, aber nicht weil er korrupt ist, sondern weil er nicht die Kraft und die Fähigkeit, sie zu kontrollieren, besitzt. Wahrscheinlich werden wir mit ihm auch keine besonders hohe Wachstumsrate bekommen, aber wir werden zumindest Ruhe haben.

    Schumann: Er ist genau das Gegenteil von Sebastían Piñera, dem 60-jährigen Kandidaten der Rechten.

    Fontaine: Der ist ein Energiebündel, sehr intelligent, sehr fähig und will den Wandel. Er präsentiert neue Gesichter, ist autoritär, selbstsicher, fordernd, kann viel verändern, aber auch viele Konflikte schaffen. Er ist egoistisch, hart, ein Mann, der in vielen Leuten Ängste, Ungewissheit hervorrufen kann. Andererseits ist er ein ausgezeichneter Wirtschaftsfachmann, erprobt in Stresssituationen, ungemein erfolgreich, er hat ein riesiges Vermögen geschaffen.

    Schumann: Wird er einen radikalen Bruch mit einzelnen Wertvorstellungen der Concertación anstreben?

    Fontaine: Da bin ich mir nicht sicher. Er wird den politischen Stil und die Mannschaft völlig ändern und vieles anders gewichten. Aber wie weit er gehen wird und wie weit die Realität ihn dabei bremst, ist ungewiss. Er wird mit Sicherheit Probleme an vielen Fronten bekommen, aber es ist ein gewiefter Verhandlungsführer. Ich glaube nicht wie viele andere, dass er dogmatische, extreme Positionen einnehmen wird und Konflikte provoziert, die er nicht beherrschen kann, denn er ist im Grund pragmatisch. Er ist ein sehr fantasiereicher Mann und wird das Land ständig mit neuen Ideen konfrontieren. Das dürfte die wichtigste Veränderung werden, und das kann Angst hervorrufen, das Gefühl, einem Mann ausgeliefert zu sein, dem ständig etwas Neues einfällt.

    Schumann: Wird der erfolgreiche Unternehmer im Fall seiner Wahl der Berlusconi Chiles werden?

    Fontaine: Piñera verkörpert den Typ des sehr intelligenten Akademikers, des ungewöhnlich begabten Wissenschaftlers, dem es in kurzer Zeit gelungen ist, durch seine Geschäfte zu persönlichem Reichtum von mehreren Milliarden Dollar zu gelangen. Aber statt sich damit zufriedenzugeben, hat er sich für die Politik entschieden.

    Schumann: Wie Berlusconi.

    Fontaine: Manche halten ihn für Berlusconi. Aber beide sind Unternehmer, die Politik machen, und Piñera ist ganz und gar nicht frivol. Er hat in Harvard in Wirtschaftswissenschaft promoviert und mit Beiträgen in Fachzeitschriften seine akademische Laufbahn begonnen. Er ist von einem Mann der Studien zu einem Mann der Taten geworden, dem nichts ferner als Frivolität liegt. Auch hält ihn als Geschäftsmann niemand für korrupt.

    Schumann: Könnte es vielleicht sogar sein, dass eine konfliktreiche Politik Piñeras die geschwächte Linke, die nur selten sichtbare Zivilgesellschaft, die wenig kampfbereiten Gewerkschaften zu einer neuen Einheit zusammenschweißt?

    Fontaine: Das ist leicht möglich, und ich glaube sogar, dass ein guter Teil der Linken sich bereits darauf vorbereitet und sich wahrscheinlich auf jene Organisationen stützen wird, die in der Lage sind, die Gesellschaft zu mobilisieren: Studenten, Lehrer, Bergarbeiter, all jene, die Arbeitsniederlegungen, Streiks organisieren können. Auch die Mapuche in Araukanien.

    Schumann: Droht dann wieder die tiefe Spaltung der chilenischen Gesellschaft, von der Sie gesprochen haben?

    Fontaine: Das glaube ich nicht. Piñera dürfte die Konflikte bewältigen können. Aber sicher würde Chile mit einem Präsidenten Piñera konfliktreicher werden als bei seinen Vorgängern Lagos, Bachelet, Frei oder Aylwyn.

    Schumann: Und was geschieht, wenn Frei gewinnt?

    Fontaine: So wie er seine Kampagne gesteuert hat, dürfte er sehr viele Schwierigkeiten bekommen, um die Concertación zusammenzuhalten. Denn die zentrifugalen Kräfte werden zunehmen. Es dürfte ihm auch sehr schwer fallen, die Moral des Bündnisses aufrecht zu erhalten, denn die Concertación ist tief gespalten.

    Schumann: Was würde dann aus dem abtrünnigen Marco Enríquez werden?

    Fontaine: Marco Enríquez dürfte bei diesem Szenarium sehr geschwächt werden: Seine ehemaligen Parteifreunde werden alles tun, damit er von der politischen Landkarte verschwindet. Er hat keine Parteibasis, kann allenfalls ein paar Parlamentarier gewinnen. Es dürfte für ihn schwer werden, sich als führender Kopf zu behaupten.

    Schumann: Und wie wird sich die Rechte verhalten?

    Fontaine: Die Rechte wird gegen Frei sehr viel kämpferischer auftreten als beispielsweise gegen Bachelet. Es war sehr schwierig, sie zu attackieren: die erste Frau in diesem Amt mit einer mütterlichen und herzlichen Ausstrahlung sowie einer sehr bewegenden Lebensgeschichte. Frei ist dagegen sehr viel leichter zu attackieren. Die einzige Hoffnung für Frei dürfte darin bestehen, die Macht ordnungsgemäß an die nächste Präsidentin zu übergeben, die wieder Bachelet heißen dürfte. Das ist auch die einzige Chance für die Concertación, dass sie nach vier Jahren wieder als Kandidatin antritt, denn sie verfügt über eine immense Popularität.

    Schumann: Worauf beruht denn überhaupt diese Popularität: 78 Prozent, die höchste, die jemals ein chilenischer Präsident erreichte? Die Bilanz ihrer Regierungszeit fällt doch eher bescheiden aus - wie Sie selbst dargestellt haben, Arturo Fontaine.

    Fontaine: Als die globale Wirtschaftskrise ausbrach, herrschte in Chile große Angst. Aber dank der Sparpolitik von Finanzminister Velasco, der die Sparsamkeit seines Vorgängers in der Regierung Lagos fortgesetzt hat, war Chile gut vorbereitet. Er konnte seine aktive Politik der Protektion fortsetzen, die es erlaubte, die Krise zu bekämpfen. Der Minister wurde dafür von allen Seiten heftig attackiert und nur von Bachelet unterstützt. Aber deshalb ist Chile heute besser als jemals zuvor gegen globale Krisen gerüstet.

    Schumann: Es heißt, der Finanzminister sei der eigentliche Regierungschef.

    Fontaine: Das sagt man über alle starken Minister. Aber irgendjemand hat ihn doch ernannt und verteidigt und ihm die Macht gegeben. Und das war sie. Sie hatte rechtzeitig erkannt, dass er der richtige Mann zur richtigen Zeit war. Und er hat diese Rezession überwunden, was niemals möglich gewesen wäre, wenn wir nicht über derartig hohe Devisenreserven verfügt hätten, die so viele Leute gern ausgegeben hätten. Bei der Weltkrise 1929 war Chile das Land, das am tiefsten abstürzte. Jetzt lässt Chile diese Krise mit einem sehr moderaten Wachstumsrückgang hinter sich. Wahrscheinlich werden wir demnächst einen bemerkenswerten Anstieg zu verzeichnen haben.

    Schumann: Hat denn auch das persönliche Schicksal von Michelle Bachelet zu ihrer Popularität beigetragen?

    Fontaine: Sie verkörpert eine Geschichte, die die chilenische Gesellschaft hoch schätzt: ihre Geschichte. Sie stellt eine Art Metapher für unsere Geschichte dar: Ihr Vater war Anhänger Allendes und wurde von den Putschisten ermordet. Sie engagierte sich leidenschaftlich für einen ziemlich radikalen Sozialismus. Sie erlebte das Folterzentrum Villa Grimaldi. Dann ging sie nach Ostdeutschland ins Exil. Dort änderte sich ihre politische Haltung. Sie wurde von einem Freund verraten, der ein Spitzel Pinochets war und einen Teil der sozialistischen Führung im Untergrund denunziert hat. Sie hat furchtbar gelitten: an der Ermordung ihres Vaters durch die Folter, an ihrer eigenen Haft, am Exil. Aber es gelang ihr, diese Erfahrungen in eine positive Lebenshaltung, in Hoffnung zu verwandeln.

    Schumann: Mich hat immer wieder tief beeindruckt, wie Menschen aus Leid neue Kraft entwickeln können.

    Fontaine: Sie ist außerordentlich intelligent und sie hat ein Gespür dafür, was ein zutiefst gespaltenes, von Hass und gegenseitigem Misstrauen geprägtes Chile bedeutet. Ich glaube, diese innere Überwindung, die sie repräsentiert - das ist das Bild, in dem sich die chilenische Gesellschaft wiederfindet: die Fähigkeit, die schmerzliche Vergangenheit zu überwinden und nicht in ihr gefangen zu bleiben.