Hans-Dietrich Genscher. Geboren am 21.03.1927 in Reideburg/Saalkreis. War insgesamt 23 Jahre Bundesminister in neun Bundesregierungen der Kanzler Brandt, Schmidt und Kohl. Zunächst von 1969 bis 1974 Innen-, danach Außenminister mit einer kleinen Unterbrechung von wenigen Wochen im Herbst 1982. Hans-Dietrich Genscher ist verheiratet und hat eine Tochter.
Hans-Dietrich Genscher: "Das war eher doch eine politisch hoch motivierte Generation."
Hans-Dietrich Genscher: "Das war eher doch eine politisch hoch motivierte Generation."
Jugend in Halle und Kriegserlebnisse.
Rainer Burchardt: Herr Genscher, Ihr Leben ist voll von Irrungen, Wirrungen, positiven, negativen Erfahrungen und vor allem auch Ehrungen. Und anderem sind Sie geehrt worden als Schlitzohr des Jahres. Würden Sie jetzt rekapitulierend sagen, mein politisches Leben hat es einfach mit sich gebracht, dass man Schlitzohr sein musste?
Genscher: Bei Irrungen und Wirrungen würde ich einen Vorbehalt einlegen. Was nun die Ehrungen angeht und vor allen Dingen das "Goldene Schlitzohr": Ich habe einmal eine Unterhaltung gehabt mit Hermann Höcherl, der war damals Landwirtschaftsminister. Und wir waren in der Opposition, und wir saßen uns gegenüber, er auf der Regierungsbank, ich auf der Abgeordnetenbank, und dann gab er mir so ein Zeichen. Er wollte mit mir reden und sagte, ich habe gerade überlegt, wer von uns beiden das größere Schlitzohr ist. Da habe ich zu ihm gesagt, normalerweise würde ich spontan die Antwort nennen, aber in diesem Fall frage ich mich auch.
Burchardt: Sie sind Hallenser. Sie sind 1927 geboren. Wie haben Sie Ihre Jugend erlebt? Wie sind Sie politisch sozialisiert worden, auch vom Elternhaus her?
Genscher: Ich verlor meinen Vater, als ich neun Jahre alt war. Mein Vater starb damals an einer Blutvergiftung, sodass der Hauptteil eigentlich meiner Erziehung in der Hand meiner Mutter gelegen hat. Immerhin, was ich erinnerte, war, dass mein Vater immer wieder, mein Vater war ein konservativer Mann, er sagte, Hitler bedeutet Krieg. Das hatte ich mir gemerkt, weil das oft vorkam, wenn meine Eltern miteinander sprachen. Und als dann wenige Jahre nach seinem Tod, nämlich 1939, der Krieg begann, dachte ich, das ist ja enorm, dass dein Vater das vorausgesehen hat, dass der einen Krieg machen wird. Diese Skepsis, will ich einmal sagen, war in meinem Elternhaus vorhanden. Meine Mutter war eine sehr christliche Frau, und deshalb habe ich vom Elternhaus keine Impulse in Richtung Drittes Reich bekommen, eher im Gegenteil. Und das entsprach auch dem geistigen Klima in der Schule, in der ich gewesen bin. Die Lehrer waren außerordentlich zurückhaltend, wir sind nicht in irgendeiner Weise politisch indoktriniert worden, eher im Gegenteil. Ich erinnere mich noch genau, als wir mit 15 Jahren Luftwaffenhelfer wurden, das war am 15. Februar 1943, das fiel auf einen Montag.
Burchardt: Haben Sie da Angst gehabt?
Genscher: Natürlich, jedenfalls war es kein Hurra-Patriotismus, der uns da in die Flakstellung getrieben hat, sondern wir mussten und haben das auch getan. Aber, wie gesagt, es war ein Montag, und am Freitag sagten wir zu unserem Klassenlehrer: Wir müssen ja am Montag zur Flak, können wir nicht wenigstens am Samstag schulfrei kriegen? Damals fand ja noch Schulunterricht am Samstag statt. Und da sagte unserer Klassenlehrer, das war immerhin 1943, man muss aus einem Übel nicht zwei machen. Das heißt, er bezeichnete die Einberufung von 15-Jährigen als Übel, was unter damaligen Verhältnissen eine in hohem Maße gefährliche Äußerung war. Und wir haben das auch richtig verstanden und haben dann ihn dort nicht weiter penetriert. Und diese Skepsis ist eigentlich geblieben. Ich finde ganz interessant, ich habe jetzt an einem Buch mitgearbeitet, dass Neven DuMont initiiert hat, wo Leute aus den Jahrgängen 27 und 26 schreiben, und dort finde ich doch bei den meisten ähnliche Gefühle, vor allen Dingen bei der Flak war das ganz deutlich. Nun war man da deshalb auch oft noch, weil man sich ja kannte, man war ja klassenweise eingezogen. Es gab auch noch einen formalen Schulunterricht, aber der war höchst formal. Das war übrigens das Einzige, was eher angenehm empfunden haben. Das haben wir erst später als Mangel erkannt, aber man kann nicht sagen, dass da eine Begeisterung vorhanden war.
Burchardt: Dieser Jahrgang, Sie sprechen auf das Buch "DuMont" an, umfasst ja viele Autoren, die auch erklären, warum sie zum Beispiel auch Mitglied der SS gewesen sind oder der NSDAP. Ist das ein Exkulpationsbuch jetzt?
Genscher: Nein, ich glaube nicht. Ich glaube, dass dieses Buch einfach, und deshalb halte ich es für sehr wirkungsvoll, aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln das Erleben dieser Jahre zeigt. Das ist ja ein Jahrgang, der, als Hitler an die Macht kam, sechs Jahre alt war. Da würden wir gerade eingeschult. Und als der Krieg begann, waren wir zwölf, und als er zu Ende ging, waren wir 17, oder wie ich, gerade 18. Ich wurde im März 1945 18. Das war, man sagt, das sei eine skeptische Generation gewesen. Das war mehr. Das war mehr und eine ziemlich entschlossene. Ich hatte das Glück, sehr früh wieder zu Hause zu sein, nämlich Anfang Juli 1945. Und da gab es nur eines: Was war, darf sich nicht wiederholen. Das war auch der Grund für ein frühes politisches Engagement in der Liberal-Demokratischen Partei in meiner Heimatstadt Halle. Das war eher eine doch politisch hoch motivierte Generation. Im Grunde hat dieses Gefühl auch meinen Lebensweg bestimmt, das darf sich nicht wiederholen, was war. Und dann kam natürlich für den, der in Halle geboren und in Halle aufgewachsen war, das erste Vierteljahrhundert seines Lebens dort verbracht hat, das Motiv hinzu, alles zu tun, dass Deutschland wiedervereint ist, aber eben vereint ist als ein demokratisches Land, so wie die Bundesrepublik Deutschland. Das war entscheidend, und das erkenne ich eigentlich in all diesen Beiträgen.
Genscher: "Das war nicht mein Staat. Mein Nachkriegsstaat war die Bundesrepublik."
Im Westen angekommen.
Burchardt: Was war denn damals Ihr Motiv, nach Westdeutschland zu gehen? Sie sind ja dann in Hamburg und in Bremen zunächst einmal gewesen?
Genscher: Ja, ich bin nach Bremen gegangen. In Hamburg habe ich zwei juristische Staatsprüfungen abgelegt, weil Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein ein gemeinsames Prüfungsamt haben, aber ich habe nie in Hamburg gelebt. Da gab es einmal eine klare Perspektive, nämlich das kann nicht mein Leben sein, wo ich hier bin. Und dann gab es konkrete Anhaltspunkte, dass man sich für mich interessierte, und da war es besser, rechtzeitig zu gehen.
Burchardt: Hat das was mit dem politischen Status SBZ der damaligen DDR zu tun, also sowjetisch besetzte Zone? Waren das...
Genscher: Nein, das waren die politischen Verhältnisse, ja, natürlich. Man kam ja permanent in Widerspruch zum System, und das war nicht mein Staat. Für mich war, obwohl dort aufgewachsen, dort zu Hause, mein Nachkriegsstaat war die Bundesrepublik. Und man interessierte sich eigentlich, wir haben ja geistig mitgewählt. Wir haben untereinander diskutiert, was würdest du jetzt wählen, als 1949 hier die ersten Bundestagswahlen stattfanden, was würdest du wählen, das haben wir untereinander besprochen. 1946 gab es eine Kommunalwahl und eine Landtagswahl. Die waren nicht gänzlich frei, aber relativ frei, was auch dazu führte, dass die Liberale Partei meiner Heimatstadt Halle die stärkste Partei wurde, aber dann anschließend gab es ja nur noch die anderen zwei, das heißt, es war keine Wahl mehr. Aber was hier geschah, wer, wen unterstützt man, das spielte schon eine große Rolle. Das hat uns bewegt, das heißt, wir waren politisch, geistig schon in der Bundesrepublik angekommen, als wir noch in der dann schon existierenden DDR lebten.
Burchardt: Wenn man die ausgehenden 50er, Anfang der 60er Jahre nimmt, kann man ja sagen, dass die FDP damals, Stichwort Achenbach, war ja eine der Parteien, die eigentlich fast zuerst sich darum bemühte, den Dialog zu intensivieren zwischen den beiden deutschen Staaten. Wo haben Sie damals gestanden?
Genscher: Ich war der Meinung, dass man die Teilung friedlich überwinden muss, und deshalb habe ich diese Bemühungen unterstützt. Das waren Scheel, Döring, Mende, die auch Diskussionen suchten mit den Repräsentanten der LDP, nicht sehr wirkungsvoll, aber trotzdem notwendig, wie ich auch heute noch sage, weil doch dieses permanente Angebot natürlich das gesamtdeutsche Bewusstsein wachgehalten hat. Und die FDP war die Partei, die um einen Weg für die deutsche Einheit gerungen hat in den 50er und frühen 60er Jahren. Und dann haben wir immer wieder gefordert, dass unter der Verantwortung der vier Mächte die beiden deutschen Staaten miteinander über die Einheit verhandeln, wenn Sie so wollen, ein Modell für die Zwei-plus-vier-Verhandlungen.
Burchardt: Was aber Adenauer strikt abgelehnt hat?
Genscher: Ja, natürlich. Das war ein Gegensatz. Die Frage der Ostpolitik war immer der schwerwiegende außenpolitische Gegensatz zwischen der FDP und der CDU/CSU. Die FDP hat im Grunde in ihrer Parteiengeschichte im 20. Jahrhundert und vor allen Dingen nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland die Westintegration der Bundesrepublik mit der CDU/CSU zusammen durchgeführt, und das bedeutete heiß umstritten die Mitgliedschaft im westlichen Bündnis, etwas, was ich für unbedingt notwendig gehalten habe. Ich kann mich genau erinnern, wie wir nach der Stalinnote im März 1952 noch in Halle damals diskutierten, wie würden wir uns verhalten. Und da waren wir der Meinung, es ist richtig, das abzulehnen, weil das wichtig ist, dass die Bundesrepublik in das westliche Bündnis integriert wird. Aber wir waren gleichzeitig für den Dialog mit dem Osten, und deshalb hat die FDP ja die Entscheidung dafür gegeben, dass die Ostverträge geschlossen werden konnten. Das heißt, die beiden fundamentalen Entscheidungen der deutschen Nachkriegsaußenpolitik sind von der FDP bewirkt worden. Sie hat sie nicht nur unterstützt, sondern sie hat sie bewirkt.
Burchardt: Ist das denn für Sie damals auch oder für die FDP, um es mal so zu formulieren, der Impetus gewesen zu sagen, nach der Zustimmung zur Wahl von Gustav Heinemann, dem Sozialdemokraten, zum Bundespräsidenten 1969, und dann eben auch den Bruch mit der Union bzw. Koalition mit der SPD Willy Brandts, dann zu sagen, jetzt ist auch der Startpunkt für eine aktive Ostpolitik gesetzt?
Genscher: Das war nicht ein Bruch mit der Union. Wir waren ja gar nicht in der Regierung. In der Regierung waren die Christlichen Demokraten.
Burchardt: Die haben da erwartet, dass Sie mit ihr wieder koalieren?
Genscher: Gut, aber ich meine, die Christlichen Demokraten und die Sozialdemokraten haben eine schwarz-rote Koalition gebildet. Ich vermeide, wie Sie spüren, das Wort Große Koalition, weil groß in Deutschland ja auch eine qualitative Dimension hat, und Schwarz-Rot ist da deutlicher, um was geht. Nun war die Frage, wer bildet die neue Regierung. Es war offenkundig, dass es in der Außenpolitik schwerwiegende Defizite gab, auch in der Politik dieser schwarz-roten Regierung. Man konnte sich nicht entscheiden, die Hallstein-Doktrin aufzugeben, damit isolierte man immer mehr die westdeutsche Außenpolitik, und deshalb war hier ein grundlegender Wandel dringend geboten. Aber es war auch eine Frage der inneren Liberalität. Wir hatten einen Reformstau, und man darf nicht vergessen, es gab eine schwerwiegende wirtschafts- und finanzpolitische Debatte im Beginn des Jahres 1969, nämlich ob eine Aufwertung der D-Mark richtig oder falsch sei. Der sozialdemokratische Wirtschaftsminister Schiller war für eine Aufwertung, richtigerweise, und mit der Unterstützung aller Experten. Und die FDP vertrat diese Meinung auch. Und natürlich spielte eine Rolle, das will ich nicht an dieser Stelle unerwähnt lassen, dass die CDU/CSU, mit Ausnahme von Helmut Kohl übrigens damals, aber im Übrigen die CDU/CSU die FDP mit einem sogenannten Mehrheitswahlrecht, das ja bekanntlich ein Minderheitenmehrheitswahlrecht ist, die FDP aus dem politischen Leben ausscheiden wird. Das war etwas, was nicht akzeptabel war. Aber es gab fundamentale sachliche Gründe, aber es gab auch einen Grund der Substanz unserer demokratischen Struktur, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war.
Genscher: "Es sind in meiner Zeit als Innenminister keine Gesetze verschärft worden."
Die Sozial-Liberale Koalition.
Burchardt: In der ersten Regierung Brandt waren Sie Innenminister, noch nicht Außenminister, und die große Nagelprobe für Sie war das sogenannte Münchener Attentat während der Olympischen Spiele, wo Sie als Innenminister sich ja sogar angeboten hatten, als Geisel zur Verfügung zu stehen. Sind da alle Entscheidungen korrekt gelaufen? Es endete ja in einem Desaster mit sehr vielen Toten.
Genscher: Die Frage war ja, ob Israel dem Ultimatum nachgibt oder nicht, das konnten nicht wir entscheiden. Aber natürlich war es auch so, dass wir zum ersten Mal mit dem internationalen Terrorismus konfrontiert wurden. Es gab bei uns keine Erfahrung, und deshalb kann ich auch heute noch sagen, dass die bayerischen Polizeibehörden und vor allem die Münchener, die ja dort die Verantwortung angesichts der Polizeihoheit der Länder, und in München gab es auch eine Stadtpolizei, trugen, das in ihren Möglichkeiten Stehende getan haben. Das war wohl nicht abwendbar. Aber wir haben daraus die Konsequenzen gezogen, und das war die Aufstellung der GSG 9. Ich habe gesagt, mit dem internationalen Terrorismus, denn wir hatten mit dem deutschen Terrorismus natürlich zu tun. Wir haben am Anfang der 70er Jahre uns auseinanderzusetzen gehabt mit dem mörderischen Handeln der Baader-Meinhof-Gruppe, und ich kann mich sehr genau erinnern, dass man hier Diskussionspunkte, die heute wieder eine Rolle spielen, auch damals aufkamen. Ich habe damals die Polizeibehörden in keinem guten Zustand übernommen als Innenminister, ich meine die Polizeibehörden des Bundes. Das gilt sowohl für das Bundeskriminalamt wie für den Bundesgrenzschutz. Ich habe ein Sofortprogramm zur Verbrechensbekämpfung auf den Tisch gelegt, das akzeptiert wurde in der Koalition, das eine hohe Effizienz herstellte unserer Sicherheitsbehörden. Und das erklärt auch, warum alle Morde der ersten Generation aufgeklärt werden konnten, und es konnten auch Strafverfahren herbeigeführt werden. Für mich war das auch eine Frage der Bewährung des Rechtsstaates, nämlich dass die innere Liberalität des Staates ihn stark macht, und dass die innere Liberalität nicht beschädigt werden darf, was dazu führte, dass den Terroristen zunehmend die öffentliche Unterstützung entzogen wurde. Sie hatten es ja darauf angelegt, dass der Staat seine Liberalität aufgibt, um damit eine breite Unterstützung zu finden. Es sind in meiner Zeit als Innenminister keine Gesetze verschärft worden, wohl aber eine zahlenmäßige Aufstockung der Polizeibehörden, eine bessere Qualifizierung, eine bessere Ausrüstung. Das hat diese positive Wirkung erzielt.
Burchardt: In die damalige Zeit Ihres Amtes als Innenminister fällt dann ja auch der Rücktritt von Willy Brandt, vornehmlich wegen der Guillaume-Affäre. Es hieß danach immer, möglicherweise habe man früher schon Warnungen herausgeben müssen. Es wurde ja auch durchaus die Rolle von Herrn Nollau, zumindest damals der Verfassungsschützer, wurde ja durchaus problematisiert. Nachträglich betrachtet, war es richtig, Guillaume so lange hinzuhalten, bis dann Willy Brandt auch tatsächlich gezwungen war zurückzutreten?
Genscher: Ich glaube schon, denn wir hatten nichts in der Hand. Wenn der Betreffende nicht bei seiner Verhaftung gesagt hätte, beachten Sie, ich bin Offizier der Nationalen Volksarmee, wären wir in einer ziemlich schwierigen Beweislage gewesen. Natürlich muss man wissen, dass in jener Zeit ja auch andere Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben. Ich erinnere Sie daran, dass der damalige Fraktionsvorsitzende der SPD, Herbert Wehner, ausgerechnet in Moskau eine massive, auch persönliche Attacke gegen Willy Brandt gestartet hat. Ich habe damals Walter Scheel angerufen und habe gesagt, im Grunde muss Brandt jetzt die Machtfrage gegenüber Wehner stellen. Das ist inakzeptabel.
Burchardt: Auch mit der Lösung des Rücktritts?
Genscher: Nein, die Partei musste sich entscheiden zwischen beiden, und das war eigentlich auch unser gemeinsamer Eindruck, dass das so ist. Nein, Wehner war, glaube ich, zum Kampf angetreten gegen Willy Brandt. Das darf man bei der ganzen Entwicklung nicht außer Acht lassen.
Genscher: "Ich möchte heute noch behaupten, dass ein Mann wie Gorbatschow nicht Generalsekretär geworden wäre in einer Phase des heißesten Krieges."
Der Bundesaußenminister.
Burchardt: Für Sie war es dann eine Wende, eine persönliche Wende, Sie wurden dann Außenminister im ersten Kabinett Helmut Schmidt, und in diese Zeit fällt ja auch der Beginn der, wenn man dann so will, auch zumindest der europäischen Entspannungspolitik oder der Bemühungen durch die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975. War das sozusagen das erste, oder war das der erste Impetus für die Aufweichung der Blöcke und dann auch letztendlich ja das Ende des Sowjetimperiums?
Genscher: Ja, es ist so, die Ostverträge, die deutschen Ostverträge, der Moskauer Vertrag, der Warschauer Vertrag, der Vertrag mit der DDR und mit der damaligen Tschechoslowakei waren die unverzichtbaren Voraussetzungen für eine Entspannung. So gesehen hat die Politik der Regierung Brandt/Scheel in dieser Frage eine weit über Deutschland hinausgehende Wirkung erfüllt und entfaltet. Der nächste Schritt musste in der Tat eine multilaterale Entspannungspolitik sein, in der wir unsere westlichen Werte einführten. So gesehen war die KSZE die wirkungsvollste Menschenrechtsinitiative der Geschichte, und die Wirkungen sind ja offenkundig, sie gründete auf Zusammenarbeit.
Burchardt: Die Union hat damals mit Strauß eher doch sehr skeptisch gestanden gegenüber der KSZE und abgelehnt?
Genscher: Sie hat im Deutschen Bundestag uns aufgefordert, die Schlussakte nicht zu unterzeichnen, sie hatte die Ostverträge abgelehnt, und sie hatte die Schlussakte von Helsinki abgelehnt, obwohl in allen anderen westlichen Staaten diese Schlussakte unumstritten war. Ich will nicht verschweigen, dass es in einer Reihe von Staaten deshalb unumstritten war, weil man es für nicht sehr bedeutsam hielt. Aber in Wahrheit war es natürlich ein enormer Fortschritt, und für die Bürgerrechtsbewegungen im sowjetischen Machtbereich wurde eine Berufungsgrundlage geschaffen, aber es wurde durch diese Politik auch der Bewegungsraum für diejenigen in den kommunistischen Staaten erweitert, die dort in den Führungsetagen für eine Zusammenarbeit mit dem Westen eingetreten sind. Ich möchte heute noch behaupten, dass ein Mann wie Gorbatschow nicht Generalsekretär geworden wäre in einer Phase des heißesten Krieges, sondern er konnte nur Generalsekretär werden in einem Klima der Entspannung, wie es durch die Schlussakte von Helsinki möglich wurde.
Burchardt: Zu Gorbatschow werden wir noch kommen im Laufe des Gespräches, aber vielleicht noch mal jetzt zurück zu der damaligen Zeit, 70er Jahre, wo wir es ja auch mit einer starken Ökonomisierung der Politik sowohl in Deutschland als auch außerhalb zu tun hatten, durch die Ölkrise, und Helmut Schmidt eigentlich der große Macher war, die FDP allerdings durch sehr gute Wahlergebnisse ja eigentlich doch eine innere Stärkung bekommen hatte, die sie vielleicht auch hätte verleiten können, schon früher als 1982 den Absprung zu wagen. Was hat Sie damals noch an der SPD gehalten?
Genscher: Ja, ich möchte vorab sagen, dass man die Rolle des damaligen Bundeswirtschaftsministers Hans Friedrichs nicht hoch genug einschätzen kann, denn ich erinnere mich sehr genau, wie bei Beginn der Ölkrise plötzlich wieder nach dirigistischen Maßnahmen und Bewirtschaftungsideen gehandelt werden sollte, und er hat damals einen ganz klaren marktwirtschaftlichen Kurs gehalten, so wie Ludwig Erhard es getan hatte 1948, als die Korea-Krise neue Bedrohungsszenarien zeigte.
Burchardt: Sie hätten 1976 den Sprung wagen können. Helmut Kohl hatte damals 48,6 Prozent. Warum haben Sie das nicht gemacht?
Genscher: Ja, wir hatten 1976 keinen Anlass, die Regierung zu ändern, weil wir mit Helmut Schmidt einen Bundeskanzler hatten, mit dem wir die realistische Entspannungspolitik, die wir für richtig hielten, ohne Probleme durchführen konnten, und mit dem wir auch in den Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik ja übereinstimmten. Und aus diesem Grunde wäre es fast willkürlich gewesen, wenn wir von unserer Absicht, weiter zu regieren, abgegangen wären. Das änderte sich. Jeder wird sich erinnern, dass im Jahr 1982 beim Münchener Parteitag dramatische wirtschaftliche Entscheidungen der SPD gefällt wurden. Die waren so dramatisch, dass Helmut Schmidt sich entschloss, Hans-Jürgen Wischnewski vom Parteitag zu mir zu schicken um zu sagen, was dort beschlossen worden ist, ist natürlich die Meinung des Bundeskanzlers und schon gar nicht die Regierungspolitik, die wird in der Bundesregierung gemacht. Aber das zeigt, wie die Lage war, denn Hans-Jürgen Wischnewski fügte hinzu, auf diese Weise konnte verhindert werden, dass auch noch ein Beschluss zur Verweigerung gegenüber dem NATO-Doppelbeschluss gefasst wird. Und das war nun etwas, was für unsere Außen- und Sicherheitspolitik von zentraler Bedeutung war. Und es hat sich ja gezeigt, dass für diese Politik Helmut Schmidts keine Basis mehr da war. Ich erinnere an seinen dramatischen Auftritt am 30. Juni 1982 vor der SPD-Fraktion, wo er beschworen hat, was eine Fortsetzung des Münchener Kurses bedeuten würde, und ich erinnere daran, dass er auf dem nächsten Bundesparteitag der SPD ganze vier Prozent der Delegierten noch hinter sich versammeln konnte, als es um die Entscheidung über den NATO-Doppelbeschluss geht.
Burchardt: Wann hat denn die FDP gewittert, dass es Zeit wird, die Koalition zu wechseln? Es war ja so, dass im Sommer 1982 das sogenannte Lambsdorff-Papier erarbeitet wurde, was Helmut Schmidt irgendwo später als Scheidungspapier bezeichnet hat.
Genscher: Ja, das ist nicht im Sommer erarbeitet worden, sondern das ist kurzfristig im September zusammengestellt, da waren die Entscheidungen im Grunde schon deutlicher.
Burchardt: Und die FDP-Minister sind dann im September zurückgetreten?
Genscher: Wir sind in einer Bundestagssitzung, an deren Beginn ich zu Helmut Schmidt gegangen bin, aber lesen Sie mal die dramatischen Protokolle der Bundestagssitzungen davor, wo ich die Grundlagen einer Koalition definiert habe, das war ganz klar, bis hierher und nicht weiter. Es waren reine Sachgegensätze. Es war, das war das Interessante ja, dass der Bundeskanzler eine Politik machte, die wir weiter unterstützen konnten. Wer ihn nicht unterstützte, war seine eigene Partei, und das ist ja heute auch unbestritten, dass Helmut Schmidt nicht an der FDP gescheitert ist, sondern an seiner eigenen Partei.
Burchardt: Bei der SPD ist die Lesart natürlich etwas anders, und ich erinnere mich noch, dass Klaus Bölling, seinerzeit Regierungssprecher, Ihnen ja Verrat vorgeworfen hat in dieser Situation. Halten Sie das für gerechtfertigt?
Genscher: Ich bin der Meinung, dass er das sicher heute anders sieht.
Genscher: "Deutschland hat damals eine konzeptionelle Führungsrolle im westlichen Lager übernommen, denn die amerikanische Politik war nicht hellauf begeistert von der KSZE."
Die geistig-moralische Wende.
Burchardt: Herr Genscher, dann kam die Ära Kohl mit der Einleitung der sogenannten geistig-moralischen Wende und eine Koalition, die ja immerhin 16 Jahre gehalten hat. Was sind für Sie persönlich die wichtigsten Stationen in dieser Zeit gewesen?
Genscher: Ja, zunächst einmal war es wichtig, eine neue Regierung zu begründen. Das war so einfach nicht, wie das manchen erschien. Ich kann mich erinnern, dass viele sagten, warum ändert ihr nicht die Koalition. Immerhin war für uns eine Sicherheit absolut notwendig, nämlich, dass die CDU/CSU von ihrer ablehnenden Haltung zur Ostpolitik zur KSZE-Politik abrücken würde, und dass sie die Politik übernehmen würden, die die Freie Demokratische Partei durchgesetzt hat.
Burchardt: War das einfach?
Genscher: Das war deshalb nicht so kompliziert, wie manche in unserer Partei es befürchtet hatten, weil Helmut Kohl sehr richtig erkannte, dass nur eine solche Politik mehrheitsfähig nicht nur in der Regierung wäre, sonst wäre eine Regierung nicht zustande gekommen, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit. Insofern ist es sein Verdienst, dass er die CDU/CSU damals von ihrem ablehnenden Kurs schrittweise hinführen konnte zur Übernahme einer Politik, die wir mit der SPD durchgesetzt hatten, von der aber dann die SPD, was den sicherheitspolitischen Teil angeht, abgerückt ist. Das zeigt eben, welche Entscheidungen und Bedeutung...
Burchardt: Sie meinen also NATO-Doppelbeschluss?
Genscher: NATO-Doppelbeschluss, ja, ja. Das ist schon von entscheidender Bedeutung gewesen und zeigt, welches Gewicht die FDP in dieser Zeit hatte, aber zeigt auch, welche Bedeutung die deutsche Außenpolitik für die gesamte westliche Welt gehabt hat. Deutschland hat damals eine, wenn Sie so wollen, konzeptionelle Führungsrolle im westlichen Lager übernommen, denn die amerikanische Politik war nicht hellauf begeistert von der KSZE-Politik. Aber es ist uns gelungen, die Amerikaner von der Richtigkeit dieses Weges zu überzeugen. Die letzte Entscheidung mussten wir noch ausfechten Anfang 1989, als auf Drängen von Frau Thatcher man auf die obskure Idee kam, eine Entscheidung zu treffen beim NATO-Gipfel im Mai 1989. Da sollte beschlossen werden, dass im Jahr 1994 nukleare Kurzstreckenraketen neu in Deutschland stationiert werden, die die DDR hätten erreichen können und Polen und die Tschechoslowakei. Ich habe am 27. April 1989 im Deutschen Bundestag gesagt, ich habe einen Eid geleistet, um Schaden abzuwenden vom deutschen Volk, und das umfasst nicht nur die Menschen in der Bundesrepublik, sondern auch die Deutschen in der DDR, in der Stadt, in der ich geboren bin. Und damit war klar - es gab ja auch in Deutschland so einige, die das befürworteten, muss man der Ordnung halber auch sagen - damit war klar, Deutschland wird das nicht tun. Wenn es Deutschland nicht tat, passierte es nicht. Das hätte am Ende diese hoffnungsvolle Phase auf dem Weg zur deutschen Einheit zerstören können. Der Weg zur deutschen Einheit ist ein langer Weg. Er begann mit der Westintegration, mit unserer Mitgliedschaft im westlichen Bündnis. Dazu gehörten die Ostverträge, dazu gehört die KSZE, und die FDP kann für sich in Anspruch nehmen, dass sie als einzige Partei in Deutschland diese entscheidenden Schritte möglich gemacht hat.
Burchardt: Welche Bedeutung hatte denn nach Ihrer Meinung Ihr ja auch persönlich offenbar sehr, sehr gutes Verhältnis zu Henry Kissinger für die Fortentwicklung der deutsch-amerikanischen Beziehungen und somit dann natürlich auch für die gesamte weltpolitische Entwicklung nach 1989? Gab es da Spätwirkungen aus Ihrer Sicht?
Genscher: Es gab die Frühwirkungen schon, nämlich dass in meiner ersten Begegnung mit Kissinger die Frage der KSZE, ihrer Bedeutung, ihrer Wirkungen entscheidend sein würde für die Überwindung der Gegensätze zwischen West und Ost. Wir haben ja damals einen großen Vorteil gehabt, nämlich dass in der amerikanischen Politik Persönlichkeiten tätig waren, die Europa kannten, die Deutschland kannten. Es waren überwiegend Menschen, wo man eher das Gegenteil hätte erwarten können. Henry Kissinger, ein Mann, der mit seiner Familie als Jude Deutschland verlassen musste und der nun als jemand auftrat, der Deutschland verstand, der Europa verstand, und dasselbe gilt auch für Persönlichkeiten, die nach dem Zweiten Weltkrieg hier als Besatzungsoffiziere in Deutschland Verantwortung, wie die Generale Clay oder McCloy, die als hohe Kommissare gezeigt haben, dass sie aus diesem Europa Wissen und Erfahrungen mit in die amerikanische Politik einbrachten und dazu die hoffnungsvolle Persönlichkeiten wie John F. Kennedy, eine Hoffnung für eigentlich die Jugend der Welt. Das alles waren große Trümpfe, und hier war diese Partnerschaft von so elementarer Bedeutung. Deshalb kann man sagen, dass wir als Deutsche Amerika viel verdanken, und man kann nur hoffen, dass dieses Grundverständnis sich nach der amerikanischen Wahl wieder neu einstellen kann. Ich jedenfalls werde alles dafür tun.
Genscher: "Die Mauer ist vom Osten her zum Einsturz gebracht worden."
Gorbatschow beim Wort genommen.
Burchardt: 1985 trat Herr Gorbatschow auf die Weltbühne, und Sie haben 1987, also zwei Jahre, nachdem er schon Glasnost und Perestroika im eigenen Lande, in seinem eigenen Machtbereich durchzusetzen versuchte und auch Angebote an den Westen gemacht hat, im Weltwirtschaftsforum Davos gesagt, man muss Gorbatschow beim Wort nehmen. Das wurde weltpolitisch so gewertet, dass die erste ernst zu nehmende, positive Reaktion des Westens gewesen ist. War das noch gerade rechtzeitig?
Genscher: Es war gerade noch rechtzeitig. Ich hatte meine erste Begegnung mit ihm im Sommer 1986 und sagte damals zu meinem engsten Mitarbeiter Gerold von Braunmühl, der von deutschen Terroristen ermordet wurde wenige Wochen später, wenn der das alles macht, was er uns gesagt hat, dann haben wir eine reale Chance, dass wir unsere Einheit in absehbarer Zeit verwirklichen können. Und ich hab dann im Laufe des Jahres 1986 immer wieder darauf hingewiesen, dass man das positiv sehen soll, was der Mann will. Wir waren in einem Bundestagswahlkampf, und ich suchte die erste Gelegenheit nach der Bundestagswahl. Es war am Tag nach der Bundestagswahl, als ich in Davos gesagt habe, man soll Gorbatschow ernst nehmen, man soll ihn beim Wort nehmen, und der Westen dürfe eine historische Chance nicht versäumen. Da wurde ich als blauäugig und naiv, der auf dem Leim eines geschickten Propagandisten eingehe, kritisiert, und da entstand auch das Wort vom Genscherismus. Kurz darauf habe ich dann festgestellt, dass viele plötzlich von Anfang an Genscheristen gewesen waren.
Burchardt: 1989 dann die Wende und für Sie persönlich wahrscheinlich auch ein Highlight in Ihrem ganzen Leben, nämlich Ihr Auftritt auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag, als sehr viele aus der DDR ausgereiste oder geflüchtete, ausreisewillige Menschen da waren, etwa 5.000, die dann das erlösende Wort von Ihnen bekamen nach den Verhandlungen, ihr habt die Genehmigung, ihr dürft jetzt in den Westen ausreisen, wahrscheinlich weitgehend über Österreich. Wie haben Sie das erreicht, und wie haben Sie das selber empfunden?
Genscher: Es war zunächst einmal eine enorme Belastung in jeder Hinsicht für mich, denn ich hatte am 20. Juli 1989 einen Herzinfarkt erlitten. Und als die Zahl der Menschen in unseren Botschaften immer größer wurde, konnte ich zunächst nur von meinem Erholungsort aus agieren, und ich bin dann mit zwei Kardiologen im Flugzeug nach New York geflogen zur Vollversammlung der Vereinten Nationen, weil dort alle da waren. Ich konnte mit Schewardnadse sprechen, ich konnte mit dem DDR-Außenminister Fischer sprechen, ich konnte meine westlichen Freunde um Unterstützung bitten, das alles geschah.
Burchardt: Das Netzwerk war vorher nie möglich?
Genscher: Das war natürlich da und konnte auch genutzt werden, und es hat sich dann eben gezeigt, dass am Ende man doch überzeugen konnte, dass es gar keine Alternative zur Ausreise gibt. Aber das war ein schwerer Fall und ein risikoreicher. Wir wussten ja nicht, wie sich das weiter entwickeln würde, ich habe da auch die volle Verantwortung für diese Gespräche übernommen. Versuche der DDR, uns zu veranlassen, die Botschaften zu schließen, habe ich brüsk abgelehnt und gesagt, ich beabsichtige nicht, vor unseren Botschaften noch eine Mauer aufzubauen. Und dann am Ende haben sich offensichtlich in Ostberlin die Kräfte durchgesetzt, die erkannt haben, dass hier eine Entwicklung in Gang gekommen ist. Und im Grunde haben ja diese 3.500, 4.000 Menschen in dem Botschaftsgarten, haben Geschichte geschrieben. Die flohen dorthin, um ihr eigenes Leben so gestalten zu können, wie sie es wollen. Und in Wahrheit haben sie der Mauer einen schweren Schlag versetzt. Und das ist ihr historischer Verdienst, wie auch ja der ganze Prozess der Vereinigung nur möglich wurde, weil die Menschen im Osten es wollten. Wenn sie es nicht gewollt hätten, hätte es nicht stattgefunden. Das heißt, man kann mit guten Gründen sagen, die Mauer ist vom Osten her zum Einsturz gebracht worden. Was wir tun konnten, war, dass wir stabile Rahmenbedingungen geschaffen haben. Das waren die Ostverträge, das war die Schlussakte von Helsinki. Das waren stabile Rahmenbedingungen zwischen Ost und West. Aber der eigentliche Stoß gegen die Mauer, der musste von den Menschen geführt werden, und sie führten ihn mit großer Verantwortung und Besonnenheit. "Keine Gewalt! Wir sind das Volk!", das war der Ruf am 8. Oktober 1989 bei der großen Demonstration in Leipzig.
Burchardt: Gleichwohl, Impetus kam von den Menschen, aber es musste natürlich auch politisch gemanagt werden. Es gab dann eben sie sogenannten Zwei-plus-vier-Verhandlungen, zwei deutsche Außenminister, Markus Meckel für die DDR und Sie, und dann eben die Alliierten-Außenminister. Die Zwei-plus-vier-Verhandlungen waren ja eigentlich eine große Erfolgsgeschichte. Worauf führen Sie das zurück?
Genscher: Zunächst einmal haben wir großen Wert darauf gelegt, dass es zwei plus vier heißt und nicht vier plus zwei. Ich erinnerte mich daran, dass Anfang der 50er Jahre es in Genf eine Konferenz der vier Alliierten gab, und da saßen am Katzentisch zurückgesetzt auf der einen Seite Repräsentanten der Bundesrepublik, auf der anderen Seite Repräsentanten der DDR. Das durfte sich nicht wiederholen, und meine westlichen Kollegen haben das auch sehr wohl verstanden. In Moskau war das höchst umstritten, und Schewardnadse wurde scharf kritisiert dafür, dass er mit diesem Formular "Zwei plus Vier" einverstanden war. Wir konnten in diesem Augenblick schöpfen aus dem Vertrauen, das die deutsche Außenpolitik sich in Ost und West erworben hat. Im Westen gab es kein Misstrauen gegen unsere Absicht, im Rahmen eines europäischen Prozesses Deutschland zu vereinigen, und im Osten war man überzeugt, dass Deutschland ein guter Partner sein wird, eben weil Deutschland die Ostpolitik gemacht hatte, weil wir die Ostverträge schon, weil wir den KSZE-Prozess so aktiv gestaltet hatten. Aus diesem Potenzial konnten wir bei den Verhandlungen schöpfen. Trotzdem waren sie kompliziert, und wir spürten deutlich, unter welchem Druck mein Kollege, und heute kann ich sagen mein Kollege und Freund, Schewardnadse zu Hause stand. Ich erinnere mich noch, als wir die zweiten Zwei-plus-vier-Verhandlungen in Ostberlin hatten, da hielt der plötzlich eine ganz scharfe Rede, und der amerikanische Außenminister James Baker schickte mir einen Zettel rüber, da stand drauf: Was heißt das denn? Und da schickte ich zurück und sagte, das ist mehr Dekoration, "Window Dressing" habe ich drauf geschrieben, und ich hab beim Rausgehen dann zu Schewardnadse gesagt, ich sehe, bei Ihnen ändert sich auch etwas, Sie müssen jetzt schon manchmal etwas sagen, was Sie mehr für den heimischen Markt sagen, als für uns als Adressaten, und so bewerten wir es auch, und so war es auch richtig.
Burchardt: Welche Rolle hat denn damals Ihr deutscher Mitkollege, Mitaußenminister Markus Meckel gespielt?
Genscher: Ich habe ihn sehr frühzeitig schon nach Bonn eingeladen, und wir haben uns unterhalten. Wir konnten uns ja in besonderer Weise deshalb unterhalten, weil ich selbst auch mal in der DDR gelebt hatte. Und ich habe die Zusammenarbeit mit ihm genauso wie sein Nachfolger als Außenminister, Lothar de Maizière - die SPD trat ja im Osten aus der Regierung aus, und dann übernahm Ministerpräsident de Maizière das Außenministerium - habe ich hervorragend zusammengearbeitet. Für mich war das natürlich auch etwas ganz Besonderes, mit einem Außenminister oder zwei Außenministern zusammenarbeiten zu können, die aus der DDR kamen, aber die dort demokratisch gewählt waren.
Genscher: "Mir ist erspart geblieben, dass ich zurücktreten musste."
Der Rücktritt.
Burchardt: Sie sind dann wenig später, 1992, zurückgetreten. Alle Welt hat sich gefragt, warum eigentlich so plötzlich. Man rechnete zwar damit, dass Sie irgendwann mal, Sie waren ja nun seit 1974 Außenminister, das sind ja netto, wie viel Jahre sind das eigentlich, 18 Jahre? 23 Jahre. Das ist Ihnen doch nicht von heute auf morgen eingefallen. Was war der Grund?
Genscher: Nein, nein. Als ich zurücktrat, bestand die Bundesrepublik 43 Jahre, davon war ich 23 Jahre in der Regierung. Ich hatte darüber schon mit meiner Frau im Sommer 1991 gesprochen. Ich sagte, ich habe so das Gefühl, es ist so ein Zeitpunkt gekommen.
Burchardt: Ist das Motto: Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören?
Genscher: Nein, das war es eher nicht, sondern man muss einem Amt immer etwas Neues geben können. Und aus guten Gründen werden ja demokratischen Ämtern auch zeitliche Grenzen gesetzt, bei uns dem Bundespräsidenten. Er kann nur zweimal kandidieren, im Höchstfall kann er zehn Jahre Bundespräsident werden, bei Bundesministern ist das, Gott lob, nicht der Fall, und deshalb konnte ich es solange bleiben. Nein, ich glaube, es war Zeit, es war auch eine Frage der demokratischen Kultur. Mir ist erspart geblieben, dass ich zurücktreten musste aus innerparteilichen oder anderen Gründen oder weil wir Wahlen verloren hätten, da muss man selbst die Kraft finden, das zu tun. Ich hab das gleichwohl gründlich abgewogen, hab mich mit meiner Frau am Jahresende 1991 noch mal unterhalten und hab dann Helmut Kohl um ein Gespräch gebeten, das wir schon in den ersten Januartagen geführt haben, wo ich ihm gesagt habe, dass ich beabsichtige zurückzutreten und dass ich glaube, dass es ein guter Zeitpunkt wäre, der Tag, an dem ich 18 Jahre Außenminister bin. So haben wir das dann auch gehalten und haben das erst mal unter uns behalten. Das ist eine große Leistung, dass sowohl er wie ich das für uns bewahren konnten.
Burchardt: Hat Kohl nicht noch versucht, Sie zu halten, denn Sie waren für ihn ja ein wichtiges Pfund?
Genscher: Natürlich war ich ein Wichtiger. Auf der anderen Seite hat er meine Argumente durchaus auch verstehen können, das war ein wirklich sehr ernsthaftes Gespräch, das wir damals geführt haben. Und ich glaube auch rückblickend, dass es richtig war. Scherzhaft füge ich hinzu, das Letzte, die Entscheidung habe der Ötzi mit beeinflusst, er wurde gefunden, man brachte ihn aus der Felsschlucht in eine Hütte, dort brannte ein Feuer und als er zu sprechen begann, war seine erste Frage: Ist Genscher noch Außenminister? Da habe ich zu meiner Frau gesagt, jetzt ist es Zeit.
Burchardt: Vielen Dank, Herr Genscher.