„Nie wieder ist jetzt!“ – wie kaum ein anderes Schlagwort prägen diese Worte das Aufbegehren gegen einen aufkeimenden Antisemitismus und das Erstarken rechten Gedankenguts. Zugleich bezieht sich das „Nie wieder!“ direkt auf die Zeit des Nationalsozialismus, den Holocaust und die Lehren, die man daraus für eine humane, demokratische Gesellschaft ziehen kann.
Um solche Lehren ging es dem Romanisten Victor Klemperer, der 1947 eine aufsehenerregende Untersuchung der Sprache des Nationalsozialismus vorlegte unter dem Titel „LTI“ – Lingua Tertii Imperii. Sein Material waren Zeitungen und Zeitschriften, Reden und Bücher und die Alltagskommunikation im Dritten Reich. Sein Ziel formulierte er drastisch: „Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen.“
Aber ist denn „Nie wieder!“ wirklich „jetzt“? Lassen sich ähnliche oder vergleichbare Mechanismen auch in unserer Zeit, in unserer Sprache entdecken? Verändern die Rechtspopulisten unsere Sprache und damit unsere Weise, auf die Welt und die Gesellschaft zu blicken? Es gilt, Victor Klemperers „LTI“ vor dem Hintergrund Sprachformen der Gegenwart neu zu lesen.
Janett Haid, geboren 1985, untersucht an der Arbeitsstelle für linguistische Gesellschaftsforschung der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg die politische Sprache. Ihr wissenschaftlicher Fokus liegt dabei auf der Analyse der Formen politischer Kommunikation sowie auf der Untersuchung Sprachstrategien in der politischen Rede. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Die sprachliche Dimension des Sozialismus“ (2023).
Es lohnt sich, wirklich einmal auszusprechen, was wir jetzt „Nie wieder!“ wollen: Es sind die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts. Von denen ist unsere Situation zwar weit entfernt, aber von jenen kleinen gesellschaftlichen Veränderungen, die schlussendlich in die Katastrophe des 20. Jahrhundert geführt haben, sind wir womöglich gar nicht so weit entfernt. Wieder aufkeimender Antisemitismus und Rassismus sind die Gründe für den Protest, der sich in der Gesellschaft regt. „Nie wieder“ ist ein Appell und eine Verpflichtung, die Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit wachzuhalten und sicherzustellen, dass sich diese menschenverachtenden Taten eben niemals wiederholen.
Es klingt so einfach: Sich erinnern, nicht vergessen. Aber reicht das? Ist die Demokratie von Rechtspopulisten und der Extremen Rechten bedroht? Gibt es Tendenzen, die uns potenziell in diese unmenschliche Zeit zurückversetzen könnten? Oder ist „Nie wieder“ eben doch gerade jetzt?
Man muss ja nicht gleich einfache Parallelen zwischen unserer Zeit und den 1930er Jahren konstruieren, aber man kann versuchen, die Mechanismen zu verstehen, die im Dritten Reich wirksam waren, um die Herrschaft der Nazi-Ideologie zu festigen. Dabei hilft ein Blick in Viktor Klemperers 1947 veröffentlichtes Buch „Lingua Tertii Imperii“, kurz LTI. Wie der Titel schon sagt, geht es um die Sprache des Dritten Reiches, deren manipulierenden und propagandistischen Gebrauch Klemperer anhand von Zeitungen, Büchern, politischen Reden und der Alltagskommunikation schildert. Klemperer, geboren 1881 als Sohn eines Rabbiners, erinnert uns hier als Zeitzeuge an den Sprachgebrauch der Nazis und im Hitler-Regime und möchte diese Erinnerungen als Mahnung ins Nachkriegsdeutschland tragen. „Nie wieder ist jetzt!“ hat eine Geschichte, die 1947 begonnen hatte.
„Die LTI ist ein Erlebnisbuch und eine Fixierung erlebter Sprache.“
Klemperer analysiert die Sprache auf der Grundlage der eigenen Erfahrungen, die er zwischen 1933 und 1945 in seinen Tagebüchern notierte. So kann uns die LTI als zeitgeschichtliches Dokument dienen und die Genese der Sprache des Nationalsozialismus aufzeigen. Wir erinnern uns mit Blick in dieses Notizbuch also daran, wie das aussah, was „nie wieder“ passieren darf.
„Worte können wie winzige Arsendosen sein: sie werden unbemerkt verschluckt; sie scheinen keine Wirkung zu tun – und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
Gift- und Krankheitsmetaphern ziehen sich durch Klemperers Reflexionen über die Sprache. Er gibt einen minutiösen Einblick in die Eigenschaften und Kontexte in verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens. Diese Bereiche zeigen zum einen die Sprache DES Faschismus, zum anderen geht es um die Sprache IM Faschismus, um die Sprache der Menschen auf den Straßen, um ihre Alltagssprache, die – wie Klemperer sagt – von der Politik in den Alltag sickerte und so die Menschen langsam vergiftete.
„Keines war ein Nazi, aber vergiftet waren sie alle.“
Die Sprache des Nazismus, so schreibt Klemperer, gehe in Fleisch und Blut der Menge über. Ob in Einzelwörtern, Redewendungen oder Satzgefügen, die stetige Wiederholung der Floskeln bewirkte eine unbewusste Übernahme eben dieser Sprache, die wiederum die Sprache der Herrschenden sei. Die Sprache ließ sich nicht mehr in Geschriebenes und Gesagtes unterteilen, alles war Schreien, alles war öffentliches Anreden, Anrufen und Aufpeitschen. Durch diese inhärente Mündlichkeit war der Weg dieser lauten Sprache in den alltäglichen Gebrauch ein kurzer. Ein alltagstauglicher Standard, der die Menschen gefügig machte, um Gewalt und Verbrechen an „Nicht-Ariern“ zu rechtfertigen. Dies ging bekanntermaßen so weit, dass die falsche Sprache zur Bestrafung führte, das Mitführen der falschen Bücher oder Dokumente zu Straftaten wurden. Der Faschismus vereinnahmte mitsamt seiner Sprache das ganze Leben und führte so zur Verrohung der Alltagssprache. Die Entmenschlichung der „Anderen“ – vor allem der Juden – wurde auch sprachlich vorangetrieben. Durch Propaganda und Agitation wurden die Menschen – und zwar alle Menschen – im Dritten Reich manipuliert und in die Irre geführt.
„Entschuldigen Sie bitte mein ‚Heil Hitler‘ von gestern; ich habe Sie im eiligen Vorübergehen mit jemandem verwechselt, den ich so grüßen mußte!“
Am Ende des Buches berichtet Klemperer schließlich von der Begegnung mit einer Berlinerin unmittelbar nach dem Krieg, die nicht ohne Stolz erzählt, unter der Nazi‑Herrschaft im Gefängnis gesessen zu haben. Auf die Frage nach ihrem Vergehen antwortet sie:
„‚Na wejen Ausdrücken…‘ (Sie hatte den Führer, die Symbole und die Errichtung des Dritten Reiches beleidigt.)
Das war die Erleuchtung für mich. Bei diesem Wort sah ich klar. Wejen Ausdrücken. Deswegen und daherum würde ich meine Arbeit am Tagebuch aufnehmen.“
Die Macht der Sprache aufzuzeigen – so möchte man es kurz fassen – ist Klemperers Motivation hinter der LTI. Und dabei Zeugnis abzulegen, Zeuge zu sein. Der wissenschaftliche Blick ist aber ein wahrscheinlich genauso wichtiger, denn wir sehen hier eben auch die Sprache unter der Lupe eines Philologen.
„Denn unter dem Einzelwort erschließt sich dem Blick das Denken einer Epoche, das Allgemeindenken, worein der Gedanke des Individuums eingebettet, wovon er beeinflusst, vielleicht geleitet ist.“
Der Diskursanalytiker Siegfried Jäger sieht in der LTI vor allem die Leistung, den Leserinnen und Lesern bewusst zu machen, Sprache und Gesellschaft gemeinsam in den Blick zu nehmen, also die Entstehung von Wortbedeutung im Gebrauch und Kontext zu erfassen. In diesem Sinne wird sie manchmal auch als eine Diskursanalyse der ersten Stunde gesehen, also als eine Analyse dessen, was die Menschen in den zwölf Jahren NS-Diktatur dachten und von welchen Wahrheiten und Normen sie sich leiten ließen. Sprache wird hier zum Aggregat der Produktion und dauernden Reproduktion gesellschaftlicher Wirklichkeit. Was Klemperer hier schafft, in seiner detaillierten Beschreibung von Alltagssituationen und -gesprächen, ist etwas, das nur wenigen Forschenden gelingt – nämlich einen Einblick in die nicht‑öffentliche Sprache zu geben, die Sprache hinter verschlossenen Türen, Sprache, die nicht aufgezeichnet ist.
„Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse.“
Vielleicht – und das sehen mittlerweile viele Forschende so – sollten wir Klemperers Werk nicht als ein rein sprachkritisches, sondern als ein kulturhistorisches lesen, das die Lebenswirklichkeit der zwölf Jahre im NS-Regime aufzeigt und analysiert. Und – Klemperer schreibt es selbst – als pädagogisches Buch, als ein Buch mit einem erzieherischen Anspruch lesen, dass die Menschen mahnt und erinnert.
Müssen wir dieses Buch nun noch einmal zur Hand nehmen und es im Kontext der aktuellen Zeit, einer Zeit des Erstarkens des Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus, neu lesen? Kann es uns helfen zu verstehen, wie antidemokratisches Denken in eine Gesellschaft einsickert? Oder müssen wir vielleicht zusehen, wie die LTI zu einer Art dystopischem Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft wird?
„Ich habe die Türklinke schon in der Hand, da ruft er mich zurück: ‚Jetzt wird zu Haus für den jüdischen Sieg gebetet, nicht? – Glotz mich nicht so an, antworte auch gar nicht, ich weiß, daß du´s tust. Es ist ja euer Krieg – was, du schüttelst den Kopf? Mit wem führen wir denn Krieg? Mach´s Maul auf, wenn du gefragt wirst, willst ja Professor sein.‘ – ‚Mit England, Frankreich und Rußland, mit …‘ – ‚Nun hör schon auf, das ist alles Quatsch. Mit dem Juden führen wir Krieg, der jüdische Krieg ist es. […] Es ist der jüdische Krieg, der Führer hat´s gesagt, und der Führer hat immer recht… Raus!‘“
Die Verdrehung von Tatsachen zu eigenen Zwecken, Verschwörungserzählungen, Fake News sind keine neuen Phänomene, die erst mit den sozialen Medien aufgekommen sind. Das Muster – „Alles Quatsch, es ist genau andersherum…“ ohne fundierte Begründung reiht sich ebenso in diesen Sprachgebrauch, wie das Aufzeigen von bipolaren Weltbildern und damit verbundene einfache Lösungen. Einfache Lösungen, die darin bestehen, das Fremde und diejenigen mit anderen Meinungen zu verbannen, denn dort läge ja das Problem. Wenn DIE nicht wären, könnten wir alle sitzen bleiben und weitermachen wie bisher. Die hingegen, die nicht dazugehören, werden zu Sündenböcken – sie haben aufzustehen, sie müssen gehen. Ist ein „Nie wieder!“ also ferner denn je? Die Tendenzen sind nicht von der Hand zu weisen und sie treten als ideologische im gleichen sprachlichen Gewand auf.
Die Frage ist aber auch: Haben wir dieses „Nie wieder“ überhaupt schon wirklich eingelöst? Nazis oder Rechtsextremisten waren ja nach 1945 keineswegs aus den Parlamenten verschwunden. Die 1945 gegründete rechtsnationalistische Deutsche Partei (DP) war von 1949 bis 1960 sogar mit Ministerposten in der Regierung vertreten. Schon in den 1950er und 60er Jahren haben sich Forschende mit den weiter bestehenden nationalsozialistischen Strukturen nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Die Rechten sind, so wird gezeigt, kein Überbleibsel, das irgendwo in der Ecke verstaubte. Rechtsradikale Strukturen werden nicht als Renazifizierung, sondern als Restaurationstendenzen derjenigen gesehen, die sich anfangs in den Internierungslagern wieder oder neu vernetzten und immer wieder in den Vordergrund treten konnten. Der Zeitgeschichtler Lutz Niethammer schreibt 1969:
„Nationalistische Ideologie ist immer dann in industrialisierten Staaten zur Integration geeignet, wenn die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft abnimmt oder doch hinter den Erwartungen zurückbleibt und die Enttäuschung darüber nicht von gemeinsamen ordnungspolitischen Zielvorstellungen und allgemeingültigen Werten aufgefangen werden kann.“
Was uns ins Hier und Heute versetzt. Haben die globalen Krisen, man spricht hier auch von einer Polykrise, hat also unsere veränderte Welt, leidend unter Pandemie, Krieg, der Klimakatastrophe, Energie- und Wirtschaftskrise und den damit verbundenen unmittelbaren sozialpolitischen Reaktionen und Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft einen Einfluss auf das Erstarken des Rechtsextremismus im Land? Zumindest gibt solch ein Zustand Anknüpfungspunkte für rechtsnationale Narrative, die einfache Lösungen versprechen oder einen wie auch immer gearteten Status Quo wieder herstellen wollen.
Die Erzählungen haben sich – schaut man in Klemperers Werk, aber auch in die Publikationen der 1960er Jahre – bis heute kaum verändert. Sie folgen nach den gleichen narrativen Mustern: Zum Beispiel
- Erstens: Geschichtsrevisionismus: Man denke an die bekannten Äußerungen von politischen Akteuren in Bezug auf die Deutsche Geschichte.
- Zweitens: Anprangern einer verkommenen Sexualmoral: heute auch unter dem Schlagwort „Frühsexualisierung“ zu finden, bei dem es vor allem um queer- und transfeindliche Positionen geht.
- Drittens: die Großstädte als Sündenpfuhl versus das Land als Ort der Tradition und Produktionskraft: Hier werden Parallelen zur versuchten Vereinnahmung der Bauernproteste durch die Extreme Reche offenbar; und nicht zuletzt
- Schließlich viertens: der Abendland-Topos: Eine Dichotomisierung von Abendland und Morgenland, die zu den bekannten Narrativen vom „Untergang des Abendlandes“ führt und in Verschwörungserzählungen von „Umvolkung“ oder vom „großen Austausch“ gipfelt.
Die Extreme Rechte und ihre Narrative, wie wir sie heute sehen, das ist keine Anomalie – auch wenn oftmals so getan wird, als hätten sie bis hierhin keine gesellschaftliche Relevanz gehabt, als wäre das „Nie wieder“ erst jetzt in Gefahr. Was verwundert, denkt man an die rechtsterroristischen Vereinigungen der 1970er und 80er Jahre wie die „Wehrsportgruppe Hoffmann“ oder die Anschläge in den sogenannten Baseballschlägerjahren in den 1990ern, der NSU-Terror in den Nullerjahren und die Gewalttaten und Morde seit 2015, beispielsweise in Hanau, Halle oder Kassel. So unterschieden die Äußerungsformen, zum Beispiel in Straftaten, vom Operieren der AfD etwa sind, so ähnlich ist das, was auch den Romanisten Klemperer interessiert hat, das Mindset der Rechten. Es gibt also – so könnte man sagen – Gesinnungskontinuitäten, Brüche und ein wellenartiges Erstarken, in denen um Handlungsmacht und Deutungshoheit gekämpft wird. Wenn die Extreme Rechte nun eine größere Bühne bekommt, dann ist das nicht ein ad‑hoc-Ereignis, sondern ein Symptom, das mit verschiedenen Faktoren verbunden ist. Und ein bedeutender Faktor dabei ist die Sprache.
Im heutigen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus geprägte Begriffe könnten Klemperers Buch schon jetzt mit neuen Kapiteln füllen: „Remigration“, „Ausländer raus“, „Der große Austausch“, „Umvolkung“, „Kultur und Heimat“, „Ethnopluralismus“ – von verbalen Entgleisungen verschiedener Politikakteure mal abgesehen. Dabei geht es immer um strategisch platzierte Polarisierung, um eine ständige Provokation, um permanente Skandale. Wenn man sich nun nach und nach an diesen Ton, an dieses Ausloten von Sagbarkeitsgrenzen gewöhnt, werden genau diese Grenzen langsam verschoben.
Es sind dabei immer Schlagwörter oder Erzählungen, die mit der Ausgrenzung des vermeintlich Fremden und der Betonung des Eigenen, der Wir-Gruppe, verbunden sind. Sie gehen allesamt mehr oder weniger offensichtlich mit einer nationalistischen Ideologie einher, kommen aber zum Teil vermeintlich harmlos oder euphemistisch daher, so dass der Weg der Normalisierung durchaus vorgezeichnet sein kann. Und genau hier läge dann das Problem: Wenn die Wörter auf einmal keinen Protest mehr auslösen, sie nicht mehr alarmierend wirken, wenn wir uns der politischen Position dahinter nicht mehr bewusst sind, dann werden Grenzen verschoben, dann setzt ein Normalisierungsprozess ein. Ein Zeichen dafür, dass das schon der Fall ist, ist die Besetzung von rechtspopulistischen Positionen, überwiegend durch konservative Parteien. Dies ist zum einen insofern problematisch, als es die Positionen der ursprünglichen Rechtspopulisten legitimiert, sie in die Mitte der Gesellschaft holt. Wie Wahlen und Umfragen aber zeigen, holt man mit solchen Strategien keine Stimmen zurück, im Gegenteil. Die Unterschiede werden nivelliert, aber die Positionen werden als kopiert bemerkt. Zum anderen bringt es den rechten Rand in Zugzwang, sich abzugrenzen und gegebenenfalls noch radikalere Ansichten zu vertreten und entsprechend zu artikulieren.
Die Folgen sind real spürbar: Die Politik reagiert mit einer rigideren Migrationspolitik mit der Begründung „Man müsse die Sorgen der Menschen ernst nehmen!“. Aber gibt es denn DIE Sorgen der Menschen? Und welche genau sind damit gemeint? Die Aussage des bekannten CSU-Politikers „Die Migrationsfrage ist die Mutter aller Probleme“ antwortet scheinbar genau darauf. Das so eine Aussage allein semantisch gesehen hochproblematisch ist, ist unübersehbar. Nähme man es genau, würde das bedeuten, dass wir von allen Problemen befreit wären, wenn die Migrationsfrage – wie auch immer diese konkret lauten mag – gelöst wäre. Und es suggeriert vor allem eine Bedrohung der Wir-Gruppe durch die Migration und dann genauer eben durch die Menschen, die aus verschiedenen Gründen nach Deutschland kommen.
Was sind die Auswirkungen von dieser Diskursverschiebung oder Normalisierung von Begriffen, hinter denen – schaut man genauer hin – menschenverachtende Konzepte, diskriminierende Ansichten und gesellschaftsspaltende Narrative stecken?
Die jüngst durch die Medien gegangenen „Ausländer-raus-Gesänge“ stehen exemplarisch für so eine Grenzverschiebung. Hier findet die Dekontextualisierung eines Satzes statt, der in den 90er Jahren von Neonazis auf den Straßen skandiert wurde. Nun taucht er in Form von Partygesängen auf, in einer Szene, die einem nicht als erstes in Bezug auf solch menschenverachtendes Gedankengut einfallen würde. Etwas Unsagbares wird genau dort (und wer weiß wo noch) zum Gassenhauer, wird aus seinem politischen Kontext herausgelöst, verliert auf einmal seine Brisanz.
Der Diskurs wird durch die Gesellschaft geprägt und wirkt auf sie zurück.
So könnte die diskurslinguistische Erklärung dafür aussehen. Ist diese sprachliche Ausgrenzung des Fremden schon so in den gesellschaftlichen Mainstream übergegangen, dass sie sag- und singbar wird? Zumindest wäre dies ein Hinweis auf das Wirken rechter Strategien. In rechten Kreisen spricht man vom Kampf um den vorpolitischen Raum oder von Metapolitik. Was nichts Anderes ist, als Hegemonie anzustreben, Begriffe zu prägen, zu vereinnahmen und in den öffentlichen Diskurs einzubringen. In der Politolinguistik spricht man vom „Begriffe besetzen“ und von „semantischen Kämpfen“.
„Alles ist übernommen und doch ist alles neu und gehört der LTI für immer an, denn es ist aus den abgeschiedenen Winkeln des persönlichen oder fachwissenschaftlichen oder Gruppensprachgebrauchs ins Allgemeine übernommen und ganz durchgiftet mit nazistischer Grundtendenz.“
Der Begriff „Remigration“ ist exemplarisch für ebendieses Besetzen von Begriffen. Es geht hier um eine semantische Umwertung, um den euphemistischen Gebrauch und um die Verschleierung der eigentlichen Bedeutung, die auch Klemperer immer wieder in der LTI aufdeckt. Berechtigterweise zum Unwort des Jahres 2023 gekürt, wurde es nach dem Treffen von Rechtsextremisten in Potsdam Anfang 2024 noch einmal verstärkt in die Öffentlichkeit gerückt. Zunächst einmal handelt es sich um eine ursprünglich wissenschaftliche Bezeichnung aus der Migrationsforschung für die freiwillige(!) Rückkehr – beispielsweise von Juden aus ihrem Exil nach 1945. Nun wird er von Rechtsextremen umgedeutet als Bezeichnung für die unmenschliche Praxis der Massenausweisung von Menschen mit Migrationshintergrund – und, wenn man es weiterdenkt, auch allen anderen, die nicht in das Bild vom Wir passen.
Aber wer ist eigentlich dieses Wir? Wahrscheinlich hat die Extreme Rechte ein klares Bild davon und sicher unterscheidet es sich wenig von dem, was in der Zeit, die Klemperer beschreibt, als deutsches Wir-Bild gesehen wurde. Offen kommuniziert wird die Bedeutung dieses Wir beziehungsweise wer genau dazugehört aber selten oder nur in abgeschlossenen (Diskurs-)Räumen. Und diese Mehrdeutigkeit und kalkulierte Ambivalenz ist häufig sehr nützlich im politischen Diskurs, um die Ansprache der Zielgruppen so offen wie möglich zu halten. Dabei überwiegt ein abstraktes Wir, etwas, das ein Konstrukt beschreibt, etwas dem man sich zugehörig fühlen kann. „Wir haben gewonnen!“, sagen Fußballfans über ihre Mannschaft, obwohl sie nicht aktiv am Spiel teilgenommen haben. Dennoch ist es legitim, weil man sich verbunden fühlt, das gleiche Schicksal, die Gefühle teilt. So ähnlich funktioniert dann auch ein abstraktes Wir in der Politik. „Wir sind das Volk!“ Wir teilen ein gemeinsames Schicksal, haben die gleichen Gefühle. Aber ein Wir braucht auch immer ein „Sie“, ein die „Anderen“.
„Ich habe mich lange dagegen gesträubt, die Annahme, daß wir – und eben weil ich ‚wir‘ sagen mußte, hielt ich dies für eine enge und eitle Selbsttäuschung -, daß wir derart im Zentrum des Nazismus stehen sollten.“
Die Sicht der Anderen sehen wir bei Klemperer, die Sicht derjenigen, die ausgegrenzt, für alles verantwortlich gemacht werden, die – so das Narrativ – den Krieg gegen die Deutschen führen. Auch heute werden diese Grenzen gezogen, geht es um die Fremden, die Gefährlichen, diejenigen, die angeblich den Status quo bedrohen oder ihn sogar schon verdrängt haben. Auch heute sehen wir derartige Gruppenkonstruktionen und Hierarchisierungen. Die immer wieder heraufbeschworene Spaltung manifestiert sich im gesellschaftlichen Diskurs, der zwischen „Willkommenskultur“ und „Angst“, zwischen „Gutmenschen“ – übrigens das Unwort des Jahres 2015 – und „Neonazis“ anscheinend kaum noch Zwischentöne kennt.
„Ein Möbelträger, der mir von zwei Umzügen her zugetan ist – gute Leute alle, riechen sehr nach KPD -, steht in der Freiberger Straße plötzlich vor mir und packt meine Hand mit seinen beiden Tatzen und flüstert, dass man es über den Fahrdamm weg hören muss: ‚Nu, Herr Professor, lassen Sie bloß den Kopf nicht hängen! Nächstens haben sie doch abgewirtschaftet, die verfluchten Brüder!‘ Es soll ein Trost sein, es ist auch eine Herzerwärmung; aber wenn es drüben der richtige Mann hört, dann kostet es meinen Tröster Gefängnis, und mich via Auschwitz das Leben… Ein Auto bremst im Vorbeigehen auf leerer Straße, ein fremder Kopf beugt sich heraus: ‚Lebst du immer noch, du verdammtes Schwein? Totfahren sollte man dich, über den Bauch!...‘“
Beschimpfungen oder Hate-Speech, wie es heute heißt, die direkt an Menschen gerichtet sind, sind keine Seltenheit, gehören gar zum sozialmedialen Alltag. Aber auch rassistische Bilder und Witze – auch darüber schreibt Klemperer in einem Kapitel – finden sich aktuell in Messenger-Gruppen wieder und verbreiten menschenfeindliches Gedankengut unter vielen Menschen. Wir sehen hier eine Verschiebung des Diskurses in den digitalen Raum, was sich vor allem die Extreme Rechte zunutze macht, um Begriffe oder ganze Diskursräume zu besetzen und semantische Kämpfe zu gewinnen. Laufen wir also mit potenzierter Geschwindigkeit in ein „Schon wieder“? Die Gefahr besteht!
Aber: Lesen wir die LTI aus einer anderen Perspektive, nämlich so, wie es Klemperer auch selbst als Anspruch erhebt, dann lesen wir die LTI als Warnung und Lehre aus der Vergangenheit, wir lesen sie so, dass „Nie wieder“ IMMER jetzt sein MUSS.
Klemperer schreibt: „als ein an mich selbst gerichteter SOS-Ruf steht das Zeichen LTI in meinem Tagebuch“. Aufmerksam zu sein, die Sprache zu betrachten und zu reflektieren, sind Lehren, die Klemperer der Gesellschaft übermitteln möchte.
„Wer denkt, will nicht überredet, sondern überzeugt sein; wer systematisch denkt, ist doppelt schwer zu überzeugen“
Sich nicht mehr selbstverständlich und unbewusst der Sprache zu überlassen – genau das kann ein Ansatzpunkt und Hoffnungsschimmer sein: die Möglichkeit der Gegenrede, des Protests.
Und es regt sich Protest, das Erstarken der radikalen Rechten ruft seit Monaten große Menschenmassen auf die Straße. Bietet Artikulationsräume. Und Sprache ist ein politisches Mittel, wenn nicht das wichtigste politische Mittel. Sprache schafft Realitäten.
Aber: Es geht nicht alles, was wir hören oder lesen „auf leisen Sohlen ins Gehirn“. Wir haben die Möglichkeit zu denken, aufzuschreien, zu protestieren, die Verschleierung offenbar zu machen – eben aufzuklären. Denn da, wo Unbekanntes lauert, wo neue Gegebenheiten uns verunsichern, da greift die Sprache ein und kann Begriffe besetzen und semantische Kämpfe gewinnen. Wie diese Kämpfe, die ausgefochten werden müssen, muss auch ein „Nie wieder!“ verteidigt werden. Wenn „Nie wieder!“ wirklich jetzt sein soll, dann gilt es, demokratische Diskursräume zu schaffen. Dann sollten wir menschenverachtendes Gedankengut da in Frage stellen, wo es geäußert wird – im Kleinen wie im Großen, im Privaten wie im Öffentlichen. Konfrontation ist anstrengend und birgt Risiken; kann aber ein Gegengewicht zu den immer größer werdenden sozialmedialen Blasen sein, in denen sich dieses Gedankengut stetig vermehrt. Worthülsen, Euphemismen, Vereinfachungen werden genutzt um Schwarz-Weiß-Denken, Diffamierung, Sündenbockkonstruktion und Opferperspektivierung zu propagieren. Sie tragen zu einer Gesellschaft bei, in der es nur ein Wir und die Anderen gibt, in der immer jemand ausgegrenzt und zum Feindbild erklärt wird.
Prinzipiell gehört Abgrenzung zu unserer Selbstwerdung dazu, wir müssen uns abgrenzen, um uns unser selbst gewahr zu werden, wir ordnen uns Gruppen zu, in der Regel sogar mehreren, das ist unproblematisch und sogar notwendig. Wenn aber die Grenzen undurchlässig werden, die anderen Gruppen zu einem „die da oben“, „die da draußen“, „die da unten“ werden, wenn man sich also von allem abgrenzt, das anders ist und von allen Seiten die Angst vor diesem Anderen geschürt wird, dann steuern wir auf ein „Schon wieder“ zu. Ein Democratic Backsliding wäre die Folge, ein schrittweiser Abbau demokratischer Strukturen – Autokratisierungstendenzen, die aus Polarisierung und Dialogverweigerung heraus entstehen.
Während Klemperer eine Gesellschaft beschreibt, in der kein Protest mehr möglich ist und ein „falscher Sprachgebrauch“ bestraft wird, regt sich heutzutage Widerstand. Es gibt also noch die Möglichkeit, dieses „Nie wieder!“ zu halten, denn „Nie wieder!“ muss nicht nur jetzt sein, es muss auch die Zukunft und im Idealfall für immer sein.