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Istanbul - literarisch

Istanbul war ein Märchen, Istanbul ist eine Herausforderung. Auf der Uferstraße hat es einen Unfall gegeben. Jetzt bricht der Verkehr endgültig zusammen. Menschenmassen drängen sich auf den Bürgersteigen. Es riecht nach Kebap, gegrilltem Fisch, verkohlten Esskastanien.

Von Thomas Franke |
    "Es war Abend... Die Frau blickte aus dem Fenster. "

    Es war Abend... Die Frau blickte aus dem Fenster. Sie lauschte den Stimmen draußen. "Die Stare", sagte sie zu sich selbst. Auch in diesem Jahr sind die Stare hier... Mit den Stimmen der anderen... Genau wie wir... Wie wir." Es war ihr nach Weinen zumute. Sie legte den Kopf auf die Schulter des Ehemannes, der zu ihr trat. Sie schloß die Augen. An jenem Abend, in jenem Garten, in ihren Gärten würden sie noch einmal Tee trinken... Sie waren noch einmal in einer unbeschreiblichen Erzählung von Tschechow. Jene Uhr schlug noch einmal die selbe Stunde...

    Istanbul war ein Märchen, Istanbul ist eine Herausforderung.
    Auf der Uferstraße hat es einen Unfall gegeben. Jetzt bricht der Verkehr endgültig zusammen. Menschenmassen drängen sich auf den Bürgersteigen. Es riecht nach Kebap, gegrilltem Fisch, verkohlten Esskastanien. Auf einem Grill röstet ein Mann Makrelenhälften. Dann schneidet er Fladenbrote auf, stopft Salat und Peperoni hinein, zum Schluss das heiße Fischfilet, rote Zwiebelringe, Kräuter.
    Die Stadt wächst. 17 Millionen ist die offizielle Einwohnerzahl, geschätzt werden 20 Millionen. Istanbul bedeutet Verkehrschaos, schlechte Luft und Widersprüche. Reichtum und Armut begegnen einander. Menschen aller Nationalitäten leben in der Stadt. Am Stadtrand bauen sie einfach kleine Häuser aus roten und braunen Ziegeln. Irgendwann entstehen daraus ganze Siedlungen, mit Moschee und Krämerladen. Die Stadt hat keine andere Wahl, als die Stadtviertel zu legalisieren. Dann gibt es Wasser, Strom und Bushaltestellen.

    In Istanbul, wo es zu jener Zeit nur wenige Automobile gab und wo die Einwanderer aus anderen Ländern neue Lebensformen einführten, die Stadt veränderten, war ein langsamer, sehr langsamer, vielgestaltiger Verfall zu beobachten.

    Istanbul ist kein Märchen. Istanbul ist ein faszinierender Magnet. In Istanbul begegnen sich Ost und West, Nord und Süd, Orient und Okzident, Christentum und Islam, Antike, Mittelalter, digitale Zukunft. Istanbul verändert sich ständig. Das Istanbul, das der Autor Mario Lewi in seinem Buch beschreibt, sucht man in der Stadt vergeblich.

    "Es hat existiert. In der Vergangenheit. Deshalb heißt das Buch auch 'Istanbul war ein Märchen'. Aber unglücklicherweise gibt es das nicht mehr. Literatur ist eine Art Zeugin. Man muss schreiben, damit Menschen nicht vergessen, wie es in der Vergangenheit war. Und viele Geschichten hier, wenn nicht alle, aber viele Geschichten sind wahre Geschichten. Einige sind Fiktion. Das muss ich akzeptieren. Aber viele der Geschichten sind wahre Geschichten. Natürlich hab ich was verändert. Ich hab versucht sie literarischer zu machen."

    In manchen Nächten war es ihm, als sehnte er sich nach jenen Menschen und versuchte sie aufs neue zu finden... Dieses Gefühl konnte ich verstehen: Wer wollte nicht in einer ganz anderen Erzählung ein ganz anderer Mensch sein und als anderer Mensch im Leben ganz anderer Menschen geboren werden ...

    Lewi blickt von seinem Wohnzimmer aus über den Bosporus. Kontinuum der Stadt. Einziger Zugang zum Schwarzen Meer.

    "Wenn Sie ein sentimentaler Mensch sind, dann finden Sie viele Gründe, in Istanbul traurig zu sein. Zum Beispiel die Armut ist wichtig. Wenn man die Unterschiede in Istanbul sieht, dann macht einen das sehr traurig. Das ist etwas, das für die Tage, in denen wir leben, interessant ist. Aber auf der anderen Seite gibt es noch etwas anderes. Istanbul verliert seine Geschichte, laufend. Ständig verschwinden Gebäude oder ganze Bezirke, weil neue Häuser gebaut werden. Istanbul verändert sich äußerlich. Das macht die Stadt auch traurig. ( ... ) Selbst ich habe mit 52 Jahren schon so viele Veränderungen in Istanbul gesehen. Das macht es schwer."

    Istanbul lebt am Bosporus und vom Bosporus. 50.000 Schiffe fahren jedes Jahr mitten durch die Stadt. Dazu kommen Dutzende Fähren, die ständig zwischen dem europäischen und dem asiatischen Ufer pendeln.

    Morgens am Fähranleger von Eminönü. Geduldig warten die Passagiere darauf, dass sich das Rolltor öffnet. Das Schiff, das sie auf die andere Seite bringen soll, ist weiß, mit gelben Streifen und rundlich geschwungen. Es heißt "Professor Doktor Aykut Barka", das war ein berühmter Erdbebenforscher. Am Tag, an dem er beerdigt wurde, zitterte nicht weit von Istanbul die Erde. 43 Menschen starben. Der Bosporus ist ein Erdbebengebiet.

    Die Fähre legt ab, steuert durch eine Armada kleiner Fischerboote, weicht einem Containerschiff unter panamaischer Flagge aus. Livrierte Kellner tragen Tabletts mit Teegläsern über die Decks, verkaufen Sesamkringel. Touristen fotografieren sich vor der Kulisse: Vor der blauen Moschee mit ihren sechs Minaretten, der Hagia Sofia, der Bosporusbrücke. Im Hintergrund die Hochhäuser der großen Konzerne. Möwen begleiten das Schiff hinüber auf die östliche Seite der Stadt, die von vielen "asiatisch" genannt wird.

    Sezen Aksu singt von alten Bildern und den Wangen, die aussehen, wie verwelkte Rosen. Ein Liebeslied, das die Seele in tausend Stücke reist, an einem Tag im Herbst, gemalt mit den verschiedensten Pinseln. Solch einen Tag würde sie gern noch einmal erleben, das Braun der Blätter aus ihren Träumen sehen. Die Erinnerung an Istanbul, tief in ihr verewigt mit goldenen Lettern.
    Istanbul Hatirazi, eine Liebeserklärung an eine Stadt voller Melancholie. "Hüzün", sagen die Türken dazu. Hüzün sei auch sein Antrieb beim schreiben, sagt Mario Levi

    "Auf Türkisch heißt das Hüssün. Das meint Traurigkeit. Die Leute in Istanbul fühlen das und ich sage noch mehr. Die Menschen in Istanbul mögen es, dieses Gefühl auszuleben."

    Auch Orhan Pamuk, der 2006 den Nobelpreis für Literatur bekommen hat, kommt aus der Stadt am Bosporus. Er hat in seinem Buch "Istanbul" ein ganzes Kapitel Hüzün genannt.

    Wenn ich manchmal am Fernseher herumschalte und plötzlich in schwarz-weiße Straßenszenen eines alten Filmes hineingerate, dann kommt mir da so ein Gedanke. Ich sehe, wie der Held in einer Vorstadtstraße zu den hellerleuchteten Fenstern eines Holzhauses hochblickt und an die Geliebte denkt, die einen anderen heiraten wird, (...) und frage mich, ob das "Hüzün"-Gefühl wirklich aus des Helden unseliger Geschichte und dem Verzicht auf die Geliebte heraus entsteht oder nicht vielmehr eigentlich dem Anblick von Istanbul entspringt und erst dann den Helden um seine Willenskraft bringt.

    Die Schwarz-Weiß-Atmosphäre, die mit dem melancholischen Charakter der Stadt unauflöslich verbunden ist und von den Istanbulern, weil sie darin ihr Schicksal sehen, immer wieder von neuem kreiert wird, lässt sich am besten verstehen, wenn man an einem Wintertag aus einer wohlhabenden europäischen Stadt mit dem Flugzeug in Istanbul eintrifft und sich sofort in das Menschengewühl im Zentrum der Stadt an der Galata-Brücke stürzt und dort mit ansieht, in was für farblosen, ausgebleichten, mausgrauen Kleidern die Leute herumlaufen. Beim Anblick der Istanbuler, die im Gegensatz zu ihren reichen, stolzen Vorvätern kaum mal einmal ein kräftiges Rot, Orange oder Grün tragen, mag es dem Fremden erscheinen, als verdanke sich diese Unscheinbarkeit irgendeiner besonderen Moralauffassung. Dem ist natürlich nicht so, es herrscht nur eine tiefe Melancholie vor, die einem eine Moral der Bescheidenheit geradezu nahelegt. Das seit 150 Jahren auf der Stadt lastende Gefühl des fortwährenden Scheiterns manifestiert sich in zahllosen Schwarz-Weiß-Perspektiven, und eben auch in der Kleidung.

    Es blinkt und blitzt, schießt und leuchtet. Die Unterführung an der Galata-Brücke. Straßenhändler verkaufen T-Shirts zu wenigen Euro, Hosen, Schuhe. Hauptsache billig. Batteriebetriebene Püppchen drehen sich im Kreis, Plüschtiere wackeln mit dem Oberkörper im Takt, Plastikpanzer erschießen die Istanbuler mit Lichtkanonen. Die Passanten eilen vorbei, ihre Kleidung ist unauffällig, schwarze Jacken, blaue Jeans, graue und braune Stoffhosen. Istanbul ist längst eine Touristenfalle.

    Sie bogen unter drei breiten, noch erhaltenen Fensterbögen der Palastruine ab und standen (...) vor einem dunklen Loch. Das war der Eingang zur Höhle. (...) Der Tunnel war sehr feucht und finster ( ... ) (ein) klebrige(r)n Schacht, der sich nach zwei weiteren Schritten nach vorne hin öffnete in einen an Gedärme erinnernden, sich verwinkelt fortsetzenden Korridor.

    Die Passage stammt aus dem Roman "Am Rand" von Şebnem Işigüzel.

    Im Mittelpunkt von "Am Rand", steht Leyla, die Königin der Müllkippe. Vergewaltigungen, Mord und Totschlag sind in Leylas Welt an der Tagesordnung, die internationale Organmafia und faschistische Mörder operieren, vom Staat kaum gestört, in den Nacht- und Unterwelten Istanbuls. Das Leben in der Megametropole wird zu Ende gedacht. Von ihrem Wohnzimmer blickt Sebnem Isigüzel auf die Schiffe, die den Bosporus passieren.

    "Das Buch 'Am Rand' ist vielleicht auch dadurch entstanden, dass ich Angst habe, auf der Straße zu sein. Diese Angst hat mir die Kraft gegeben, das Buch zu schreiben."

    Ein Heulen, ein Schreien, ein Brausen, dann Gelächter und tiefes Seufzen hallten wider und versickerten dann wie Wasser, das von der Erde aufgesogen wird.

    Istanbul ist eine gefährliche Stadt, verschachtelt und unübersichtlich.

    Die auf seinem aus einer einfachen Bahre bestehenden Operationstisch landeten, waren Menschen, ( ... ) denen man in einer stillen Ecke ein mit Äther getränktes Taschentuch auf den Mund gedrückt und dann in die Höhle geschafft hatte. ( ... )

    "Ich wundere mich immer, dass den Touristen, die nach Istanbul kommen, so wenig passiert. Darüber bin ich froh."

    So ein Patient wachte zwei Stunden später aus der Narkose auf, um eine Niere erleichtert und mit Heftstichen auf Hüfthöhe, die einen Fachmann davon überzeugt hätten, dass hier wohl ein Schlachter am Werk gewesen war.
    Der Erwachte glaubte dann, er sei gestorben, und das Erste, was Schiwago stets sagte, war: "Hast Du geglaubt, Du kommst in den Himmel?".


    Abends unter der Galata-Brücke, die über das Goldene Horn führt. Unter der Straße, in den Stützen der Brücke, Restaurants dicht an dicht. Touristen flanieren vorbei auf der Sucher nach dem besten und günstigsten Abendessen. Bunte Lichter auf dem Bosporus, Fähren pendeln, das Lotsenboot braust vorbei. Der Bosporus ist nie ruhig. Die Lokale: rot, gelb, grün erleuchtet.

    Der Kampf ums Überleben setzt sich auch am Abend fort. Der Mann vor dem Restaurant Olympos hat schließlich Erfolg. Nein, sie seien keine Griechen, alles Türken. Er ist fast ein wenig sauer.

    An den >Abenden unter der Galata-Brücke< bevorzugten sie die Stille, das Schweigen. Das waren mit großer Wahrscheinlichkeit Abende, an denen sie sich an einem >anderen Ort< erlebten, erleben wollten... erinnerte nicht der Geruch nach gebratenem Fisch, wie er in manchen Häusern an manchen Abenden zubereitet wurde, oder das Motorengeräusch eines ins Goldene Horn einfahrenden Passagierbootes an die unvergesslichen Szenen von denen man nie genug bekam?

    Mario Lewis Erinnerungen sind auch an der Stelle weit von der heutigen Wirklichkeit entfernt. Istanbul verschluckt die Menschen, saugt sie auf, macht sie unsichtbar.

    "Es ist eine grausame Stadt.
    Aber das war nicht das Thema in meinem Buch. Darüber muss man auch reden und diskutieren. Wenn ich weitere Bücher schreibe, werde ich das berücksichtigen. Denn es ist auch eine Eigenschaft von Istanbul. Ich sollte da auch in die Tiefe gehen. Aber das war in diesem Text nicht Thema."

    In dem Moment bemerkte ich, wie ein Mann, der mir direkt gegenüber saß, mich anschaute, und das mich ein leichtes Schaudern überkam bei dem Gefühl, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben, ihn in der Vergangenheit, in einer Zeit gelassen zu haben, an die ich mich nicht erinnerte.
    Wir lauschten jenem Lied. Dann fragte er: "Jetzt sagen sie mal, was hat sie hierher getrieben?"
    Ich weiß nicht, aber es scheint fast, als hätten sie mich gerufen, antworte ich. Er lächelte und sagte: "Verwenden Sie das in einer Erzählung." "Das werde ich tun", sagte ich. Er lächelte wieder. "Was machen Sie gerade?", fragte er. Ich versuchte seiner Frage auszuweichen, indem ich sagte: "Ich bin mitten in einer langen Erzählung."


    Hier endet der Brief... Wir alle befanden uns inzwischen in einer anderen Erzählung, in unserer eigenen Erzählung. In unserer eigenen Erzählung... Mit all unserer Ferne und Fremde...