Unter freiem Himmel findet eines der kleinsten Konzerte des 47. Istanbul Music Festivals statt. Die drei Blockflötistinnen des Vivid Consorts aus Wien spielen im Garten des österreichischen Kulturforums. Bei freiem Eintritt sind gut hundert Erwachsene und Kinder gekommen, in den Bäumen sitzen noch einmal so viele Singvögel und die Möwen vom Bosporus gleich vor der Tür kreisen am Himmel.
Das Festival präsentiert auch Klassik-Superstars wie die Pianistin Yuja Wang bei 500 Zuschauern im Kongresscenter, doch die intimen Konzerte sind reizvoller. So wie auch das Barockprogramm im berühmten Kirchenschiff der Hagia Irene, wo in diesem Jahr bereits der RIAS Kammerchor und die Akademie für Alte Musik Berlin aufgetreten sind, sagt Efruz Cakirkaya, seit diesem Jahr Leiterin des Istanbul Music Festivals.
"Es war magisch, weil der Ort ein magischer ist. Das Hagia Irene Museum ist inmitten einer 1.600 Jahre alten Basilika. Sie ist eines der ältesten Kirchenschiffe in Europa! Sie ist der Haupt-Veranstaltungsort unseres Festivals seit seiner Gründung, ein Musik-Tempel."
Keine staatliche Förderung
Efruz Cakirkaya ist in Folge die vierte Frau, die das Istanbul Music Festival leitet. Und keine Lira staatlicher Förderung fließt in die Finanzierung, darauf legt das Festival großen Wert. Nicht umsonst ist der Komponist und Regierungsgegner Fazil Say hier regelmäßiger Gast. Zu 65 Prozent, erklärt Efruz Cakirkaya, sei es aus privaten Sponsorengeldern und Mitgliederbeiträgen, zu 30 Prozent aus Ticketeinnahmen finanziert, und nur ein Bruchteil des Festivalbudgets stammt aus internationalen Projektfördermitteln. Eine starke Basis auch für die Unterstützung neuer Musik.
"Seit 2010 haben wir je ein Werk bei einem internationalen und einem türkischen Komponisten in Auftrag gegeben. Wir haben mit Arvo Pärt angefangen, in dem Jahr, als Istanbul Kulturhauptstadt war. Das sind also 16 Werke in neun Jahren. In diesem Jahr kommt ein Werk des russischen Komponisten Alexandr Tschaikowski hinzu, eine Co-Kommission mit Sotchi. Und ein Werk der türkischen Komponistin Zeynep Gedizlioglu, die in Berlin lebt."
Die beiden Schwestern Ufuk und Bahar Dördüncü spielen Zeynep Gedizlioglus Stück, das den Titel "Simdi" trägt, übersetzt "Jetzt".
"Das ist ein fantastisches Stück, etwas so Neues und Frisches, und so charakteristisch! Kraftvoll! Für mich und Bahar ist es wundervoll." – "Ja, wir sind gerührt, dass das Istanbul Festival uns ausgewählt hat für die Uraufführung von Zeyneps Stück. In der Türkei sind wir sehr bekannt als Klavierduo für neue Musik – aber mit diesem Repertoire lädt man uns kaum ein. Denn leider sind unsere Landsleute vielleicht noch nicht bereit dafür, das anzunehmen, was wir ihnen gerne anbieten möchten."
Im mit Putten bemalten, ausverkauften Süreyya Opernhaus kommt das Werk jedenfalls sehr gut an. Es gibt laute Bravo-Rufe – mehr sogar als für den RIAS Kammerchor, der mit den Dördüncü-Schwestern Brahms‘ Liebesliederwalzer vorträgt. Zeynep Gedizlioglus Werk hat sie mitgerissen, sagt die 20jährige Deniz:
"Vorher habe ich sonst nicht viel klassische Musik gehört, denn in der Türkei ist es nicht so populär, Klassik zu hören. Aber jetzt war ich bei den Dördüncü-Schwestern und bin total begeistert. So etwas habe ich mir unter klassischer Musik überhaupt nicht vorgestellt. Sie waren wirklich ganz im Moment, als sie gespielt haben, es hat mich voll hineingezogen in das Stück. Und jetzt, wo ich weiß, dass der Titel "Jetzt" ist, finde ich, dass das eine total coole Art ist, klassische Musik von heute neu zu denken. Solche Kunst und Kulturerlebnisse brauchen wir in unserem täglichen Leben!"
Musikalische Nachbarschaftswanderung
Und das möglichst überall in der Stadt. Zum vierten Mal veranstaltet das Istanbul Music Festival eine musikalische Nachbarschaftswanderung mit Konzerten in historischen Bauwerken. Diesmal in zwei griechisch-orthodoxen und zwei armenischen Kirchen, sagt Festivalleiterin Efruz Cakirkaya:
"Istanbul ist riesig, und genauso umfangreich ist die Geschichte. Wir haben Gebäude aus römischer, byzantinischer und osmanischer Zeit. Jedes Jahr suchen wir einen neuen Distrikt aus, in dem wir einen Tag lang Musik in alten Kirchen, Synagogen und an anderen historischen Orten veranstalten. Normalerweise kann man diese Gebäude nicht betreten, wenn nicht gerade ein Gottesdienst gehalten wird. In diesem Jahr sind wir in Samatya, das ist ganz nah an der historischen Halbinsel, am Goldenen Horn von Istanbul. Guides begleiten die Gruppen auf ihrem Weg zwischen den Konzerten an den historischen Orten und erzählen den Besuchern von der Geschichte des Distrikts."
Das Saygun Quartett aus Istanbul spielt in einer armenischen Kirche Musik des armenischen Komponisten Komitas Vardapet und stellt sie dem ersten Streichquartett seines Namensgebers Ahmed Adnan Saygun gegenüber.
Komitas war einer der wenigen Intellektuellen, die den Völkermord an den Armeniern im osmanischen Reich überlebt haben. Mit dieser Programmierung in einem Land, das bis heute nicht zu seiner Verantwortung für den Genozid steht, setzt das Istanbul Music Festival ein weiteres starkes Statement. Mit ganzer Kraft setzt sich die Institution dafür ein, zu zeigen, wie reich an Kultur die Stadt ist und wie freundlich ihre Bewohner sind. In den letzten Jahren hat es Istanbul oft nur mit negativen Schlagzeilen in die ausländischen Nachrichten geschafft. Umso wichtiger, zu zeigen, dass es hier ein normales und kulturhungriges Publikum gibt, sagt noch einmal Efruz Cakirkaya.
"Genau jetzt ist die richtige Zeit, Istanbul zu besuchen. Denn wir brauchen Kunst, Musik und Kultur, damit wir uns normal fühlen können. Wir brauchen Solidarität - darum bitten wir alle Musikerinnen und Musiker, die gerade zögern, nach Istanbul zu reisen."