Man entdeckt sie sofort, nicht unweit der berühmten Galata-Brücke, direkt am Bosporus: Hunderte bunte Treppenstufen, bemalt in den Farben des Regenbogens. Inzwischen sind sie eine Touristenattraktion, ständig bleiben Leute stehen und drücken einmal mit ihrer Digitalkamera ab.
"Es begann als eine Antwort auf das viele Grau in der Stadt. Ein alter Mann bemalte die Stufen hier in seiner Nachbarschaft. Nur ein paar Tage später überstrich die Stadtverwaltung wieder alles mit Grau. Danach fingen die Leute in ganz Istanbul an, ihre Treppen in den Regenbogenfarben zu streichen. Das ist natürlich Kitsch, aber es ist auch ein sehr sympathischer Protest", sagt Murat Basol, Illustrator, Filmemacher, Street Artist - und zuletzt auch Aktivist. Auch wenn er sie etwas kitschig findet, die Treppen sind für ihn ein Symbol, in dem der Gezi-Spirit - der Wille zum gesellschaftlichen Aufbruch - noch ganz offen zu erkennen sei. Auch er selbst hat ein solches Symbol geschaffen: die Frau im roten Kleid. Das Foto der jungen Frau ging im Sommer um die Welt: Sie in besagtem roten Kleid, schutzlos nur mit einem Jutebeutel unter dem Arm, daneben ein Polizist in Gasmaske, der sie aus nächster Nähe mit Tränengas beschießt.
"Als ich das Foto zum ersten Mal sah, diese hilflose Frau, diesen schwerbewaffneten Polizisten, da hat mich das sehr bewegt. Ich wusste, ich muss jetzt etwas tun! Ich wollte etwas tun. Ich habe das Motiv nur ein wenig abgeändert und dann gezeichnet, ich wollte die Szene nur abbilden. Als ich das Bild dann in den sozialen Netzwerken veröffentlicht habe, war das Echo riesig. Die Leute machten es zu ihren Profilfotos, malten es auf Plakate, auf die Wände. Das macht mich glücklich, dass ich den Menschen vielleicht dabei geholfen habe, einen Weg zu finden, sich auszudrücken."
Basol gab im Gezi-Park Workshops, zeigte den Leuten, wie man mit einfachen Mitteln große Wirkung erzielen kann. Denn alles musste schnell gehen, in den hektischen Gezi-Tagen stand der Kampf um die Straße an erster Stelle. Weniger Kunst, dafür mehr Slogans und mehr Symbolik. Er baute mit ihnen Graffiti-Schablonen aus Pappe, damit jeder mit einem Motiv bewaffnet war.
"Solche Schablonen sind schnell gemacht und das Bild lässt sich schnell an die Wand bringen. So haben viele Streetartists gearbeitet und wir bastelten im Akkord. Das gab den Leuten Mut, denn die Motive für die Schablonen waren oft Menschen, die wichtig waren für die Bewegung, wie die Frau im roten Kleid. Während der Proteste entstanden so einige echte Ikonen. Sie waren Sprachrohre der Bewegung. "
Heute sieht man Murat Basols "Lady in Red" auf Kaffeetassen, T-Shirts, sogar auf Kühlschrankmagneten. Aber an Istanbuls Wänden sieht man sie nicht mehr, was man sieht, ist nur noch Grau. Die eine, etwas hellere Grauschicht bedeckt die nächste etwas dunklere: ein Flickenteppich aus Grau.
"Nach Gezi waren die Straßen voll von Graffiti, Bildern, Slogans, die Stadt war lebendig. Aber die Stadtverwaltung hat alles übermalt. Istanbul wird immer grauer, wir sehen es überall. Für mich als Künstler aber ist Grau eine gute Basis. Man kann darauf vieles schreiben, vieles malen. Was durch Gezi bunter geworden ist, sind die Menschen, nicht die Wände."
Das Grau hat Murat Basol mindestens schon einmal inspiriert. Das Logo seiner neuen Produktionsfirma ist genau einem solchen grauen Flickenteppich nachempfunden. Mit ihr produziert er derzeit Kurz- und Dokumentationsfilme über Gezi. Ein erster Schritt, wie Murat Basol findet. Denn eine künstlerische Auseinandersetzung mit den Ereignissen im Sommer habe nicht stattgefunden beziehungsweise habe noch nicht stattgefunden.
"Das Grau ist nur die Oberfläche. Darunter passiert etwas Großes, etwas Buntes und Lebendiges. Man kann es übermalen, aber dadurch verschwindet es nicht einfach."