Joshua kam im letzten Sommer mit einem Boot in Sizilien an. Da war er gerade 17. Er wurde in eine Sporthalle gebracht, dort bekam er eine Matratze zugewiesen und ein paar gebrauchte, aber immerhin saubere Kleider. Zusammen mit weiteren 69 Minderjährigen aus verschiedenen Ländern, alle ohne Familien. Die seine hatte Joshua schon zu Hause verloren
"Bei uns ist sehr schlimm, die Leute von Boko Haram bringen alle Leute um. Sie wüten in meinem Lande Nigeria."
"Hast du Familie dort?"
"Ich habe keine Vater und keine Mutter mehr. Meine Mutter und meine Brüder starben Ende 2013. Wir waren drei Söhne, ich bin als einziger noch am Leben."
Joshua ist einer von 4.628 Jugendlichen, die im letzten Jahr alleine in Sizilien an Land gingen, viele von ihnen in dem kleinen Hafen Pozzallo an der Südspitze der Insel. Dort hat sie die Vizebürgermeisterin Virginia Giugno empfangen und notdürftig in verschiedenen Gemeindebauten untergebracht. Für Virginia, selbst Mutter mit Kindern, ein tiefgreifreifendes Erlebnis
"Anfangs versuchen wir ein bisschen distanziert mit ihnen umzugehen, wie strenge Eltern. Aber das hält man nicht lange durch. Einerseits muss man ihnen Regeln erklären, ihnen klarmachen, dass das alles kein Spiel ist und Disziplin beibringen. Schwierig, wenn man sie ins Herz geschlossen hat, denn vor allem brauchen sie viel Liebe."
Trotz ihres pausenlosen Einsatzes zusammen mit Helfern des Roten Kreuzes, den örtlichen Polizeieinheiten und den allzu wenigen Sozialarbeitern gelang es ihr nicht, alle Ankömmlinge unter ihren Fittichen zu halten. Viele Jugendlichen verschwinden schon nach Stunden oder wenigen Tagen, reisen oft alleine durch halb Europa zu Freunden und Verwandten, bei denen sie ein neues Leben beginnen wollen. Jene, die bleiben, müssen in Unterkünften leben, die für die vielen elternlosen Immigranten unter 18 völlig ungeeignet seien, sagt Giovanna di Benedetto von der Hilfsorganisation "Save the Children".
"Weil ständig Ausnahmezustand herrschte, hat man die alleinreisenden Jugendlichen meist in der Nähe der Häfen, in denen sie ankamen, in irgendwelche Notunterkünften gebracht, in Sporthallen oder Pensionen und Hotels, manchmal sogar in Kirchen."
Viele können nicht zur Schule gehen
Von liebevoller Betreuung für die oft traumatisierten Jugendlichen konnte schon aus Personalmangel keine Rede sein
"Es fehlen Dolmetscher und Sozialarbeiter. Die Jugendlichen können sich nicht verständlich machen. Sehr oft verweigert man ihnen die Möglichkeit mit ihren Familien daheim zu sprechen, oft haben sie Monate lang keinen Kontakt miteinander. Unter diesen Umständen ist es auch nicht möglich, sie in die Schule zu schicken oder ihnen wenigsten Italienisch beizubringen."
Die Jugendlich leben nicht eingesperrt. Nach Monaten geduldigen Wartens auf die gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen zur Betreuung, Ausbildung und Eingliederung verschwinden sie plötzlich aus den Behausungen, in denen sie de facto isoliert leben müssen. Fast 40 Prozent im vergangenen Jahr. Mit oft dramatischen Folgen, bestätigt Giovanna di Benedetto
"Wenn sie die Heime verlassen, in denen das Gesetz sie schützt, oft ohne Geld, ohne Bezugspersonen in einem fremden Land, dann geraten sie schnell in Gefahr. Sie können sehr leicht Opfer werden und landen in kriminellen Kreisen: Prostitution, Drogenhandel, Schwarzarbeit."
Schnell werden sie volljährig und vollverantwortlich. In italienischen Gefängnissen sitzen überdurchschnittlich viele Immigranten ihre Haftstrafen ab, wegen illegalem Aufenthalt in Kombination mit Kleinkriminalität. Ein falscher Lebensweg, der schon bei der Ankunft in Italien seinen Anfang nimmt. Virginia Giugno in Pozzallo ist überzeugt, dass der Moment der Aufnahme der jugendlichen Immigranten von entscheidender Bedeutung für ihre Zukunft ist.
"Anfangs konnte ich die einzelnen Jugendlich nicht einmal voneinander unterscheiden. Für mich waren sie alle gleich mit dieser dunklen Hauptfarbe. Inzwischen sehe ich sie als völlig unterschiedliche Menschen, jeder mit eigenem Gesicht, mit einem ganz bestimmten Lächeln und einem anderen Ausdruck. Kurz, sie sind Individuen - genauso wie wir. Sie haben nur das Pech viel weiter südlich zur Welt gekommen zu sein. Es wäre interessant zu hören, was sie über uns sagen würden wenn wir an ihrer Stelle wären. Wenn man die Welt, wenigsten für einen Augenblick, auf den Kopf stellen könnte."