Karton in den gelben Sack. Plastik in den blauen. Bio-Müll in den braunen. Traumwandlerisch sortiert Saymon das bisschen Müll, das neben den Müllkästen steht, in die richtigen Beutel und trägt fünf, sechs auf einmal zur Sammelstelle direkt hinter der Kirche.
Es ist sieben Uhr morgens, das kleine kalabrische Bergdorf schläft noch. Und auch der junge Eritreer wirkt müde, fast ein bisschen wie betäubt erledigt er stoisch seinen Job."Es ist Arbeit", sagt er. Und, dass sie ihm guttut. Noch vor ein paar Monaten saß er in einem Auffanglager für Flüchtlinge, keine zwei Autostunden entfernt.
Ernten, sanieren, Müll aufsammeln
Jetzt hat er plötzlich ein Dach über dem Kopf und Arbeit - zumindest so lange bis die Sache mit seinen Papieren erledigt ist. Saymon ist Teil eines Projekts der kleinen kalabrischen Gemeinde Riace, die Asylbewerbern und Flüchtlingen, die andernorts aufgrund fehlender Papiere abgeschoben werden, Wohnraum und Arbeit gibt. Als Gegenleistung helfen die Flüchtlinge den Einheimischen bei der Ernte, sanieren baufällige Häuser oder sammeln Müll.
Zwei Stunden macht Saymon das, unterbrochen nur von einer Zigarettenpause. In der alle Stationen seiner Flucht aus Eritrea nach Europa zu erzählen – schier unmöglich.
Fünf Jahre auf der Flucht
Die Odyssee beginnt, als er 17 ist. Er wird zwangsrekrutiert. Nach vier Monaten als Soldat läuft er weg, flüchtet in den Sudan. Dort findet er so lange Arbeit bis die Regierung im Sudan keine Flüchtlinge mehr duldet. Saymon gibt einem Schleuser seine ersparten 700 Dollar, damit der ihn nach Israel bringt. An der Grenze aber wird er zurückgeschickt nach Ägypten, wo ihn die Polizei schnappt, das erste Mal ins Gefängnis sperrt. Saymon kann flüchten, schafft es irgendwie durch die große Wüste. Zurück in den Sudan. Dort hat sich die politische Lage nicht so entspannt wie er gehofft hatte. Deshalb macht er sich erneut auf in Richtung Europa. Diesmal ist Libyen Endstation. Wieder ein Gefängnis. Fünf lange Jahre. Saymon zeigt auf seine Schuhe. Fünf Jahre lang zieht er die nicht aus. Weil er panische Angst hat vor willkürlichen Schlägen und Attacken im Gefängnis. Und die Chance nicht verpassen will, zu fliehen.
Der Fischmann ist da. Für Saymon das Zeichen, dass er losmuss, noch einmal zur Sammelstelle und dann durch den großen mittelalterlichen Torbogen runter ins Tal. Bis zur Mittagspause soll er dort noch helfen, beim Heu einfahren.
Eingliederungsprojekt für Flüchtlinge
Eingliederungsprojekt für Flüchtlinge
In der Werkstatt gegenüber, der Weberei, herrscht kurz vor Mittag Hochbetrieb. Vier Kalabrier und drei Flüchtlinge versuchen, einen riesigen Webrahmen aufzubauen. Mittendrin steht Domenico Lucano, der Bürgermeister von Riace.
Er hat die Idee für das Eingliederungsprojekt, gründet einen Verein, der heute zu einem Schutzprogramm für Flüchtlinge gehört, das vom italienischen Innenministerium finanziert wird. Für jeden Flüchtling, den Riace aufnimmt, zahlt Rom dem Bürgermeister 25 bis 30 Euro am Tag – die Hälfte dessen, was den Staat die Unterbringung eines Flüchtlings in einem Auffanglager kostet. Von dem Geld aus Rom bezahlt Lucano dann Saymon und den anderen ihren Lohn. Saymon bekommt 900 Euro im Monat.
Angefangen hat alles, als in Riace ein Schiff mit 217 kurdischen Flüchtlingen strandet.
Aus einer Strandung wird ein Experiment
"Dass ausgerechnet hier, an einem Ort, an dem einige Leute an eine soziale Utopie glauben, damals das Segelschiff strandete – ich weiß nicht: Vielleicht war es so etwas wie eine Fügung. Jedenfalls ist mit der Strandung ein Experiment gestartet. Der Ort war damals dabei ein Geisterort zu werden – heute ist es ein Ort der Begegnung. Ein Ort, in dem immer Leute kommen und gehen."
Heute ist der Verein der größte Arbeitgeber im Ort. Neben der Weberei gibt es drei weitere Kunsthandwerkbetriebe, in denen Flüchtlinge neben Einheimischen arbeiten und eine Schule, die nur dank der Kinder der Einwanderer nicht geschlossen werden musste.
Riace -"Dorf der Begegnung" steht auf dem Ortsschild der kleinen Gemeinde. Außer in den Werkstätten aber begegnen sich Flüchtlinge und Einheimische in Riace so gut wie gar nicht. Morgens, mittags, abends: immer das gleiche Bild. Die einen hier, die anderen dort.
Wer Papiere hat, muss weiterziehen
Nahezu jeden Tag höre er, wie einige im Ort dem Bürgermeister zurufen, dass sie die Flüchtlinge nicht wollen, erzählt Saymon später in seiner Wohnung. Und ein Freund, der zu Besuch ist, ist gar nicht gut auf Riaces Bürgermeister zu sprechen. Seitdem er nicht mehr Teil des Projekts ist, steht er auf der Straße. Sucht händeringend Arbeit, die es in der Region nicht gibt. Das ist die Kehrseite des Projekts: Wer Papiere hat, muss weiterziehen.
Doch daran möchte Saymon jetzt noch nicht denken. Von dem kleinen Balkon seiner Wohnung kann er das Meer sehen. Da ist er rüber, mit 90 anderen Bootsflüchtlingen. 71 sind auf der Überfahrt ertrunken oder erstickt. Seit acht Monaten ist er jetzt in Riace. Ans Meer ist er seitdem nicht mehr zurückgegangen.